6. Januar 2017 2 Likes

Intrigante Mond-Dynastien

Heliumrausch auf dem Mond: Ian McDonalds Roman „Luna“

Lesezeit: 3 min.

Die Menschheit hat den Mond kolonisiert und über die Mondloop-Cycler-Konstruktion permanent mit der Erde verbunden. Auf dem Trabanten leben die Menschen im Untergrund, wo sie vor Strahlung und Temperatur geschützt sind, und riskieren bei jedem Gang an der staubigen Oberfläche ihr Leben – der Mond kennt viele Arten, jene zu töten, die an seine wertvollen Ressourcen wollen. Jeder der 1,7 Mio. Menschen dort oben ist vernetzt und hat einen digitalen Organizer-Avatar über dem Kopf schweben, während die meisten Dinge des Alltags aus dem 3D-Drucker kommen und die lunare Gesellschaft der freien Liebe gegenüber vollkommen aufgeschlossen ist. Den Reichen sind die permanenten Kosten für Atemluft, Wasser, Kohlenstoff und Bandbreite egal, doch die weniger Wohlhabenden und die ganz Armen drängen diese lunaren Lebenshaltungskosten so sehr in die Ecke, dass sie sogar ihren morgendlichen Urin verkaufen

Dennoch wird auch an der Spitze der Mondbevölkerungspyramide mit harten Bandagen gekämpft. Fünf reiche, mächtige Dynastien – ‚Drachen’ genannte Familienunternehmen – herrschen über den Mond. Mit ihrem Verstand und ihrem Durchsetzungsvermögen begründete die junge Brasilianerin Adriana Corta als eine der ersten Siedlerinnen vor vielen Jahren die jüngste der fünf Dynastien. Anderthalb Generationen später ist die Herrin des Heliums, von der mittlerweile die Energieversorgung der Erde abhängt, die alternde Matriarchin einer einflussreichen Sippe, die mit den anderen Dynastien trotz aller Vernunftehen und Verträge permanent in Konflikt steht. Intrigen und politische Scharmützel stehen an der Tagesordnung. Und selbst innerhalb der eingeschworenen Großfamilie Corta gibt es die Probleme und Machtkämpfe, von denen der gesamte Mond durchdrungen ist …

Ian McDonald (im Shop) hat im Verlauf seiner Karriere schon viele interessante, gut durchdachte Zukunftsszenarien erschaffen und für sein Science-Fiction-Werk u. a. den Philip K. Dick Award, den Kurd-Laßwitz-Preis, den Theodore Sturgeon Award, den Hugo Award und den Gaylactic Spectrum Award erhalten – letzteren eben für das sexuell unaufgeregte, zugleich hundertprozentig liberale „Luna“ (im Shop). Auch in diesem Trilogie-Auftakt, in dem er den Alltag und die Fehden auf dem Mond, den Aufstieg von Adriana Corta und die Leben ihrer Kinder und Enkel schildert, setzt der international erfolgreiche Science-Fiction-Veteran auf ein reichhaltiges, lebendiges, komplexes und schier überbordendes Setting, wie er das auf Deutsch zuletzt z. B. in „Cyberabad“ (im Shop) getan hat. Der 1960 geborene Engländer feuert von Anfang an aus allen Rohren und zieht seinen Leser gleich in den ersten Kapiteln in die Mondkolonie mit ihren sozialen und politischen Strukturen, ihren physikalischen Besonderheiten und ihren vielfältigen Gefahren.

Dabei folgt er der erzählerischen Maxime show, don’t tell und zeigt den gesamten Roman über viel von seiner Kulisse, ohne sich in langatmigen Erklärungen zu verlieren. Gleichzeitig vereint „Luna“, das im englischsprachigen Original den Untertitel „New Moon“ trägt, mühelos Elemente der Hard-SF von Arthur C. Clarke (im Shop) und Andy Weir (im Shop), des Cyberpunks von William Gibson (im Shop) und der Epen von Frank Herbert (im Shop) und George R. R. Martin (im Shop) – in Übersee sprach man gar vom Game of Thrones der Science-Fiction und lag damit irgendwo gar nicht so falsch, solange man als Vergleichsgrundlage die Qualität und Griffigkeit der Intrigen und Wendungen nimmt (und ja, als moderne TV-Serie kann man sich diese ränkevolle Space-Seifenoper richtig gut vorstellen). Allerdings ist das eigenständige, absolut faszinierende und fesselnde „Luna“ mehr als die Summe dieser Strömungen, Schubladen und Etiketten.

Angesichts des riesigen Ensembles und des aus verschiedenen Sprachen gespeisten Mond-Slangs wäre man zumindest in der ersten Hälfte des Romans ohne den Glossar im Anhang manchmal ganz schön aufgeschmissen. Doch am Ende ist Ian McDonalds „Luna“ jedes Nachschlagen wert und ein beeindruckender, packender SF-Roman, dessen Fortsetzung „Wolfsmond“ bereits für Mai in den Startlöchern steht.

Ian McDonald: Luna • Aus dem Englischen von Friedrich Mader • Heyne, München 2017 • 513 Seiten • E-Book: 11,99 Euro (im Shop)

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