22. Juli 2012 1 Likes

Dankesschreiben

„Flashback“ von Dan Simmons

Lesezeit: 7 min.

Welcher heilige Zorn ist bloß in Dan Simmons gefahren? – Der Autor, der uns mit Science-Fiction-Großtaten wie der »Hyperion«-Saga, aber auch mit Horror-Kunstwerken wie »Terror« und »Drood« begeistert hat, scheint durch die politischen Ereignisse seit dem 11. September 2001 eine seltsame persönliche Entwicklung durchgemacht zu haben. Zumindest muss sein neuester SF-Roman »Flashback« (im Shop ansehen) derart interpretiert werden.

Wir befinden uns im Jahr 2036 und die USA stecken mitten im ökonomischen und politischen Zusammenbruch. Nick Bottom, ein ehemaliger Polizist, wird als Privatdetektiv beauftragt, den brutalen Mord am Sohn eines japanischen Magnaten aufzuklären. Dumm nur, dass Bottom schon als Cop an der Aufgabe gescheitert ist, mittlerweile (nachdem seine eigene Frau unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist) jeglichen Ehrgeiz aufgegeben hat und als einer von hundert Millionen Amerikanern von der neuen Droge »Flashback« abhängig ist. Deren perfide Wirkung löst extrem realistische Erinnerungszustände aus, die man sich noch dazu willentlich aussuchen kann. Kein Wunder, dass sowohl Bottom als auch seine Mitbürger nun ihre Tage damit verbringen, von »besseren Zeiten« zu träumen – als die USA noch Wirtschaftsmacht Nummer 1 waren, Nicks Frau noch lebte, auf den Straßen noch keine zügellose Gewalt herrschte und die amerikanische Infrastruktur noch nicht infolge von Vernachlässigung in sich zusammengebrochen war.

In einem spannenden, knallharten und rasanten Stil (der so wenig mit der Manieriertheit von »Drood« gemein hat, dass man denken könnte, Simmons’ böses Alter Ego hätte den Text verfasst) konfrontiert uns der Autor auf eindringliche Weise mit den durchaus absehbaren Folgen heute wahrnehmbarer Risiken. Jeder, der schon mal in den USA war und den hygienischen Zustand öffentlicher Gebäude, das fragile Stromnetz, die ungerechte Einkommensverteilung, den freizügigen Verkauf von Handfeuerwaffen und die wahnsinnigen Verkehrszustände erlebt hat, ahnt, welch ungeheuerliches Potenzial für Aggression und Revolution dieses Land besitzt. Aber zieht Simmons daraus die richtigen Schlüsse?

Die Kalamitäten begannen in unserer Gegenwart, also in der Zeit, »als alles den Bach runter ging«, wie der Autor sie nennt. Was er damit meint, macht er in bisher von ihm nicht gekannten, klaren Worten deutlich: Barack Obama »war« als amerikanischer Präsident erstens für unsinnige Zugeständnisse an die arabische Welt verantwortlich (Simmons verurteilt die 2009 von Obama in Kairo gehaltene Rede der Versöhnung mit den islamischen Ländern explizit als unnötiges und gefährliches Entgegenkommen, und zwar in einem Ton, der an die Kritik an der britischen Appeasement-Politik gegenüber Hitler erinnert). Zweitens verdammte Obamas – ohnehin halbherzige – Gesundheitsreform die USA dazu, immer mehr Schulden für die allgemeine Sozialversicherung anzuhäufen und dadurch ihre wirtschaftliche und politische Eigenständigkeit zu verlieren.

All diese Fehler des jetzigen Präsidenten haben in den nächsten Jahrzehnten, wie Simmons suggeriert, schwerwiegende Konsequenzen: Nordamerika wird eine Wirtschaftskrise von nie dagewesenem Ausmaß erleiden. Es wird nicht nur noch weiter hinter China, Indien und Japan zurückfallen, sondern – um seine Schulden bei genau diesen Ländern abzubauen – auch praktisch seine gesamte militärische Truppenstärke an die Konkurrenz »vermieten«. Was wiederum dazu führen wird, dass gute, amerikanische Soldaten in fernen Ländern für deren Machthaber Kriege führen, die mit den USA nichts zu tun haben, während ihr home country zerbricht (einzelne Bundesstaaten wie Texas spalten sich sogar ab) und gleichzeitig von einer völlig neuen Gefahr bedroht wird …

Und nun holt Simmons mit dem größten Hammer aus: Da Barack Obama und nachfolgende Präsidenten sich zunehmend als Schutzmacht Israels aus dem Nahen Osten zurückzogen, konnte dessen Erzfeind Iran nicht nur seine militärische Stärke ausbauen und in einem atomaren Erstschlag Israel tatsächlich »vom Angesicht der Erde radieren«, nein, es begründet im Zusammenschluss mit anderen arabischen Nationen zudem eine neue geopolitische Großmacht: das »Großkalifat« – also ein größenwahnsinniges panarabisches Wirtschafts- und Militärbündnis. Dieses schluckt nicht nur die Nachbarländer, sondern dringt nach geduldiger Infiltration und Immigration (winkt da nicht der Herr Sarrazin rüber?) auch in europäische Länder ein – und macht sich nun daran, den amerikanischen Süden und Mittelwesten zu besiedeln; alles unter den Augen der in den USA tonangebenden japanischen »Regierungsberater«, zu denen eben auch Nick Bottoms Auftraggeber zählt.

Keine Frage, dass die durchaus gut erzählte Ermittlungsgeschichte gegenüber Simmons’ politischer Vision mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Die Science Fiction hat schon immer auf bestehende gesellschaftliche Risiken hingewiesen – das ist nicht nur ihr gutes Recht, sondern macht sie auch so einzigartig und wertvoll. Auch gab es schon die eine oder andere Kurzgeschichte und Erzählung, die ein zukünftiges Amerika unter dem Schwert der Scharia oder gesteuert von einer chinesischen Regierung schilderte. Doch eine derart hasstriefende SF-literarische Auseinandersetzung mit dem Islam habe ich kaum je gelesen (denn Simmons verdächtigt und verurteilt eben nicht nur den extremen Islamismus, sondern gleich die gesamte islamische Religion und Lebensweise und baut damit ein Feindbild auf, das unmenschlich wirkt und nur von dem Gedanken beseelt zu sein scheint, den Westen durch Beeinflussung, Fortpflanzung und Besiedlung zu besiegen) – und obwohl Simmons sich zurecht für den Schutz des Staates Israel einsetzt, erinnert mich gerade seine islamophobische Prosa (einmal wird der Islam sogar mit einer »Geisteskrankheit« verglichen) an den düstersten Stellen paradoxerweise an jene Propaganda – nur eben anders­herum –, die einst von Antisemiten zur Entmenschlichung eines ganzen Volkes eingesetzt wurde. Man kann dazu stehen, wie man will, aber mit solchen Dingen und Gefühlen zu spielen, sollte sich ein vielgelesener Autor wie Dan Simmons mehr als zweimal überlegen.

Wenn er lediglich ein sogenanntes »kontroverses« Buch geschrieben hätte, das widersprüchliche Meinungen untersucht und seriös gegeneinander abwägt … Doch diese Anstrengung hat er sich nicht angetan, und seine Wahrnehmung der jüngeren politischen Vergangenheit bleibt äußerst selektiv: Erstens schlägt er sich klar erkennbar auf die Seite der Republikaner, da sich diese explizit zur immerwährenden Verteidigung Israels mit allen militärischen Mitteln bekennen – und erwähnt dabei nicht, dass selbst israelische oppositionelle Gruppen dahinter lediglich die Absicht republikanischer Lobbys und Wirtschaftsköpfe vermuten, mit Waffenverkäufen an das dankbare Israel ausgezeichnet zu verdienen. Zweitens kritisiert er den Umgang der heutigen US-Administration mit dem Nahost-Problem – und geht mit keinem Wort darauf ein, dass es der republikanische Präsident George W. Bush und sein Vater waren, die mit den Golfkriegen zu eben jener Instabilität und über die Region hinausgehenden Eskalation beitrugen, die Simmons so sehr kritisiert (gänzlich unerwähnt bleibt der zunehmende christliche Fundamentalismus der rechten Gruppierungen Amerikas – Stichwort »Tea Party« –, der über den Washingtoner Lobbyismus wiederum mit Kriegsgeschäften verknüpft war und ist). Drittens und zuletzt nennt er als Grund für Amerikas wahrlich gigantische Schuldenlast ausgerechnet die Gesundheits­reform, die erstmals in der Geschichte amerikanischen Kleinverdienern und Mittellosen eine Chance auf eine halbwegs sichere Versorgung im Krankheitsfall bietet – und lässt völlig außen vor, dass George W. Bushs Kriege in Afghanistan und Irak den amerikanischen Steuerzahler ein Vielfaches davon gekostet haben, nämlich über zwei Billionen Dollar (wie der Wirtschaftsnobel­preisträger Joseph Stiglitz 2008 errechnet hat). Hätte man dieses Geld nicht in die unehrliche und vergebliche Suche nach Massen­vernichtungswaffen gesteckt, sondern in das Eigenkapital amerikanischer Banken oder in eine Wohnförderung für den Mittelstand, würden heute vielleicht weder die Amerikaner noch wir Europäer unter einer Wirtschaftskrise von bedrohlichen Ausmaßen leiden.

Was war da noch? Ach ja, ein Mordfall. Der wird nach einigen handlungsimmanenten Wirrungen, Schießereien und Actionszenen selbstredend aufgeklärt. Nicht nur das: Nick Bottom kommt von seiner Flashback-Sucht los, wird wieder zu einem »echten Amerikaner« und söhnt sich sogar mit seinem vernachlässigten pubertären Sohn aus (während einer Schießerei, wie sich ein Amerikaner alten Schlages das halt so vorstellt). Ja, der Schreibstil ist mitreißend, die Handlungsträger in guter US-Tradition klar und liebevoll gezeichnet, selbst die technologischen Ideen werden gekonnt und interessant herausgearbeitet.

Doch der politische Grundtenor der Handlung macht das alles zunichte, und am Ende folgt die wohl lächerlichste Szene des Buches, die politisch ge­sehen derart plump ausfällt, dass man eigentlich darüber lachen sollte, statt sich zu ärgern (doch leider ist das Ganze nicht – oder zumindest nicht erkennbar – ironisch gemeint): Als Nick Bottom nach seinem letzten Infight samt anschließender Bewusstlosigkeit wieder erwacht, findet er sich in einem auffallend sauber und gut organisierten Lazarett wieder (das sich dadurch natürlich vom sonstigen Schmutz des zukünftigen Amerikas abhebt). Wir fragen uns, in welchem zivilisierten Land er sich wohl befindet? In Europa? China? Einer Mondkolonie? Oder gar auf Kuba? Da taucht der Leiter der Anlage auf, ein gut aussehender hochrangiger Ranger mit Schnurrbart und Westernhut (!), heißt ihn herzlich willkommen in der freien Republik Texas (!!) und lädt ihn zu Nicks großer Freude ein, Mitglied der Texas Rangers zu werden (!!!), denn gute Männer wie ihn könnten sie bei der Rückeroberung der Heimat von den Arabern gut gebrauchen. Wunderbar. Große Lyrik! Da wird dem guten Dan Simmons wohl ein gewisser gebürtiger Texaner und ehemaliger US-Präsident ein warmes Dankesschreiben schicken.

Dan Simmons: Flashback • Roman · Aus dem Amerikanischen von Karl Jünger · Wilhelm Heyne Verlag, München 2011 · 638 Seiten · € 12,99 (im Shop ansehen)

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