22. August 2013

Diktatur der Sanftheit

„Nichts von euch auf Erden“ von Reinhard Jirgl

Lesezeit: 4 min.

Es ist keine originelle, aber eine immer wieder aufs Neue bereichernde und überraschende Einsicht, dass gerade das künstlerisch Krude, zu arg Gewollte, Heterogene, jedenfalls nicht rund, süffig und unangreifbar Meisterwerksmäßige besonders viel Spaß macht und außerdem zu Erkenntnissen und Horizonterweiterungen führt, von denen ästhetischer Gediegenheit verpflichtete Werke kaum ahnen lassen. »Nichts von euch auf Erden«, der neueste Roman des produktiven Büchner-Preisträgers Reinhard Jirgl, gehört im allerbesten Sinne zu dieser ungefähren Kategorie des Inspirierend-Irritierenden, bei dem es im Zweifelsfall überhaupt keine Rolle spielt, wie laut es mitunter im Gebälk knirscht.

Mit dem Genre der Science Fiction mehr oder weniger vertrauten Leuten mag etwa zügig die (angesichts der Zielgruppe: verständliche) Verdruckstheit auffallen, mit der sich Waschzettel- bzw. Klappentext dieses hübschen Hanser-Buchkörpers um den Terminus »Science Fiction« herumdrücken, obwohl es sich hier um einen waschechten Science-Fiction-Roman handelt, nämlich um eine äußerst pessimistische Dystopie und Mars-Fiktion. Die hemmungslos grausamen Misshandlungen der Menschheit an sich selbst und ihrem Heimatplaneten führt im 23. Jahrhundert zur Besiedelung von zunächst Mond und dann Mars, organisiert von den Mächtigen, ausgeführt, ähnlich »der Kolonisation des australischen Kontinents im 17. und 18. Erdzeitjahrhundert durch Sträflinge, die vor allem aus dem damaligen britischen Königreich dorthin verschafft wurden«, von minderprivilegierten Zwangsevakuierten.

Im 25. Jahrhundert nun leben die verbliebenen Erdbewohner nicht nur in streng separierten Großgemeinschaften, sondern auch in einem Detumeszenz genannten und durch genetische Experimente erzeugten Zustand trieb- und affektfreier Dauerschlaffheit – in einer »Diktatur der Sanftheit« also, die sogar einen eigenen Kasus hervorbringt, den Instinktiv (»Eher Ja als Nein« statt »Ja«). Da jedoch die herrenmenschenhaften Marsexilanten bezüglich der Kultivierung und Zivilisierung ihrer neuen Heimat an Grenzen stoßen, planen sie, ihre zwangspazifizierte und damit weitgehend wehrlose Alte Welt wieder zu übernehmen, bis am Ende, nach der unvermeidlichen sowohl terrestrischen als auch marsianisch-martialischen Apokalypse, die »Zeiten nach den Menschen – den Tieren – den Pflanzen« anbrechen, eine gewissermaßen dystopisch fundierte Literatur-Utopie, in der »die morfologischen Bücher schrieben, was keines Menschen Auge mehr sehen konnte, für andere-Bücher den ROMAN EINER ZUKUNFT«. Bücher haben Zukunft, der Mensch hat keine, sondern wird verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.

Mit der schicken und entspannten Abgeklärtheit, die in Michel Foucaults berühmter Formulierung anklingt, hat der Furor Reinhard Jirgls allerdings nicht viel zu tun. Seine Zukunft ist die Unmenschlichkeit der Gegenwart. Auf diese hat schon einmal ein Schriftsteller mit solitärem Rückzug, entschiedener Literaturliteratur, dudenferner Orthografie und wilden Zukunftsfiktionen reagiert. In Arno Schmidts »Novellen-Comödie« »Die Schule der Atheisten« (1972) heißt es gegen Ende, auf Seite 261 der Typoskript-Ausgabe: »Es wäre also […] im Lauf der letztn 1- oder 2 Mal 5000 Jahre, nicht gelungen, das Nieveau der Menschheit entscheidnd zu hebn? […] WIR WERDEN SCHEITAN!« Auch Jirgl treibt zunächst dem Menschen die Kultur und dann konsequenterweise der Kultur den Menschen aus – und das mit einem kulturellen, das heißt literarischen Aufwand, der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sehr, sehr selten anzutreffen ist.

Neben die unorthodoxe Schreibweise (wie bei Schmidt, der das wiederum von Lewis Carroll und James Joyce lernte, ist Jirgls verschreibende, eben: zukünftige Sprache voller Wortspiele, Lautmalereien und Mehrfachbedeutungen) tritt ein lebhafter Wechsel von Erzählperspektiven und Gattungen; die auf zwei Figurenstimmen verteilte Haupthandlung wird durch üppige, sachbuchähnliche Anmerkungen ergänzt. Ein künstlicher irdischer Himmel namens Imagosphäre, Holovisionen, virtuelle Dialoge, Raumfähren, gentechnische Experimente, populationskontrollierender Kannibalismus – der Überreichtum an Bildern sowie an erzählenden und analytischen Reflexionen dieser Bilder, mit dem Jirgl seinen Untergang der Menschheit entwirft, ist auf eine wunderbar anstrengende Art überwältigend und, um es blöd-gönnerhaft zu sagen, anrührend.

Man könnte den Roman inhaltlich (die genannten motivischen Details mögen es andeuten) als leicht steifbeinige Science Fiction von gestern und Jirgls Vorstellung von literarischer Avantgarde in formaler Hinsicht als ziemlich traditionell betrachten. Die Hochliteratur entdeckt die alten Genre-Hüte, guten Morgen auch – hiermit hat das eingangs erwähnte Knirschen im Gebälk zu tun, aber der Eindruck, »Nichts von euch auf Erden« gösse (jedenfalls der SF-Leserschaft) alten Wein in neue (büchnerpreisqualitätsgesiegelte) Schläuche, verflüchtigt sich schnell, dank Jirgls immer schlüssiger und ehrgeiziger Lust an der eigenen Vorstellungskraft. Wann gibt es das schon mal: einen Dichter, der sich derart emphatisch der literarischen Moderne und der Science Fiction verschreibt?

Und schließlich ist der Roman, auch wenn es nicht unmittelbar einleuchten mag, abstrakter betrachtet ein gar nicht so weit entfernter Verwandter von Paul Verhoevens dickschädeliger Philip-K.-Dick-Filmadaption Total Recall von 1990. Schlussendlich: Walter Kempowski hat auf die Kritik an seiner gigantischen Kriegs-Collage »Das Echolot«, da fehlten doch irgendwie die erläuternden Kommentare des Autors, mit der sinngemäßen Äußerung reagiert: Sie wollen ans Händchen genommen werden, die lieben Kleinen. Also möge man sich bitte nicht vom fordernden Einstieg in »Nichts von euch auf Erden« abschrecken lassen – bald fließt es und lohnt.

Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden • Roman · Carl Hanser Verlag, München 2012 · 512 Seiten · € 27,90

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