4. September 2014 2 Likes 1

Gefälschtes Fleisch und blutende Steckdosen

Sven Amtsberg und seine schrägen Kurzgeschichten „Paranormale Phänomene“

Lesezeit: 3 min.

„Meine Frau sieht ständig irgendwo Außerirdische. Sie legt es auch darauf an. Oft steht sie am Fenster, tarnt sich, so gut es geht, ist Stehlampe, Vogelbauer, Brokatgardine.“ Als die Aliens dann tatsächlich bei Tisch sitzen, sehen sie aus wie LKW-Fahrer, haben freie Oberkörper und trinken Eierlikör. Angeblich soll die Partnerin des Erzählers „originalgetreu“ irgendwo im Weltall nachgebildet werden. Kann das alles stimmen? Der stark riechende Mann in der fleckigen Jeansjacke, der kurz darauf bewusstlos im Gebüsch liegt, hat tatsächlich eine Buchse zwischen den Beinen, mit deren Hilfe er aufgeladen werden kann.

Es ist eine fremde und seltsame Welt, die Sven Amtsberg in den Kurzgeschichten seines Bandes „Paranormale Phänomene“ beschreibt. Da erscheint ein Astronaut ausgerechnet im betulichen Hamburger Stadtviertel Rahlstedt und wird sicherheitshalber von einem besorgten Bürger erschossen; die Leiche kann unauffällig in einer Kneipe abgelegt werden („Schwebezustand“). Oder ein Elektriker muss entdecken, dass sich hinter der blutenden Steckdose eine Wohnung verbirgt, die nicht nur genauso aussieht wie seine, sondern in der auch eine glücklichere Version von ihm und seiner Frau wohnt. Die Duplikate werden umgebracht und ihre Plätze eingenommen („Die Blutspur“). Amtsberg entwirft diese irritierenden Szenarien mit großer Selbstverständlichkeit und scheinbar leichter Hand. Dabei entgeht er jeder Vorhersehbarkeit, weil er auf Genreschablonen verzichten kann – tatsächlich enthält der Band weniger „pure“ Science Fiction als eine verblüffende Hybridform, die sich als Mischung aus den Büchern Eugen Egners, den Comics von Max Andersson und den Filmen von Terry Gilliam beschreiben lässt. Kein Einfall ist zu gewagt, um nicht doch untergebracht zu werden; dann bröselt schon einmal die Nacht in Staubform zum Fenster herein („Der Aggregatzustand der Nacht“) oder in einem Erzähler wächst ein Mann heran, der sich nach chirurgischer Entfernung wie folgt vorstellt: „Ich heiße Thorsten. Mit h. Guten Tag“ („Der Zwilling“). Gerade diese Nähe zur irrlichternden Groteske macht die Stärke der lakonisch gehaltenen Erzählungen aus, in denen das Inventar des 21. Jahrhunderts – Mobiltelefone, Internet – komplett fehlt und stattdessen 1970er-Jahre-Accessoires wie Nickipullis mit Tierfiguren vorkommen.

Doch die erstaunlichen Ideen sind kein Selbstzweck. Amtsbergs Figuren zeigen sich hinter ihrer aufgebügelt wirkenden Fassade verunsichert und allein gelassen; ihre Gegenüber geben ihnen unlösbare Rätsel auf. In „Die Tiere“ findet ein betrügerischer Schlachter, der mittels Fleischkleber Eichhörnchen in Schweinerücken verwandelt, im Wald seltsame Lebewesen, die wie kniehohe weiße Pilzstängel ohne Hut aussehen. Er nimmt sie mit nach Hause, wo sie weder essen noch trinken, sich aber trotz übergerollter Kondome vermehren und schließlich auf Englisch zu sprechen beginnen: Sie müssten in die Frau des Schlachters eindringen, weil diese „der Schlüssel“ sei. Nach beendeter Mission wirkt die Frau glücklicher als zuvor, hat sich ansonsten aber nicht verändert; nur der Schlachter bleibt beklommen zurück. Verstörender lässt sich Einsamkeit kaum beschreiben.

Dass der von Kat Menschik gekonnt illustrierte Band „Paranormale Phänomene“ einen unpassenden Titel hat und jeder Erzählung ein überflüssiges (pseudo-)wissenschaftliches Stichwort zuordnet, darf gern übersehen werden. Tatsächlich meldet sich mit Sven Amtsberg (Jahrgang 1972) ein Autor zu Wort, dessen Erzählungen nicht nur mit Einfallsreichtum und einem unverwechselbaren Stil zu punkten verstehen, sondern sich zudem jeder Klassifikation gekonnt entziehen. Weitere Geschichten wären hochwillkommen.

Sven Amtsberg: Paranormale Phänomene. Fast wahre Geschichten • Illustriert von Kat Menschik • Metrolit Verlag, Berlin 2014 • 208 S. • € 20,00

Kommentare

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Rezension gelesen, Buch gekauft, Geschichten gelesen - und ich muss sagen: Der Mann hat recht, die Stories sind großartig und die Illustrationen sehr gelungen! Eindeutige Kaufempfehlung also auch von meiner Seite!

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