26. Mai 2016

H. P. Lovecraft über die Schulter geschaut

„Der Fall Charles Dexter Ward“ in kenntnisreicher Neuausgabe

Lesezeit: 3 min.

Es gibt eine ganze Reihe von Texten, die zu H. P. Lovecrafts besten Werken gerechnet werden – „Der Fall Charles Dexter Ward“ gehört in jedem Fall dazu. In den ersten Monaten des Jahres 1927 entstanden, handelt es sich bei dem Roman nicht nur um sein umfangreichstes erzählerisches Werk, sondern auch um ein liebevolles Zeugnis, was die Begeisterung seines Verfassers für die Heimatstadt Providence betrifft. Nun ist der meisterlich geschriebene Text nicht nur in neuer Übersetzung erschienen, sondern enthält auch Anmerkungen und eine Einleitung von S. T. Joshi, dem wohl renommiertesten Lovecraft-Experten überhaupt. Als Resultat hat man das Gefühl, Lovecraft beim Schreiben über die Schulter zu schauen.

Der Roman beginnt mit der Nachricht, dass aus einer „privaten Anstalt“ ein junger Mann mit dem Namen Charles Dexter Ward entwichen ist, der über erstaunliche Fähigkeiten verfügt. Seine altertümliche Sprechweise, das verblüffende Wissen und der ungewöhnlich verlangsamte Stoffwechsel geben genauso Rätsel auf wie die Tatsache, dass Ward den Großteil seiner Zeit vor der Einlieferung damit verbracht hat, das vergessene Grab seines Vorfahren Joseph Curwen zu suchen. Ward war 1918 zufällig auf Spuren des ungewöhnlich langlebigen Kaufmanns gestoßen, dessen Name aus beinahe allen Chroniken getilgt worden zu sein scheint. Doch während Curwen nach außen Handel trieb, war er hinter zugezogenen Vorhängen mit geheimnisvollen Experimenten beschäftigt, die offenbar Anlass zur Beunruhigung gaben. Schließlich wurde sein Landsitz 1771 von einer Handvoll entschlossener Bürger gestürmt, wobei sich so gut wie alle Beteiligten hinterher weigerten, über ihre grauenhaften Entdeckungen zu berichten. Curwen selbst kam dabei ums Leben. Eineinhalb Jahrhunderte später findet Ward schließlich Aufzeichnungen seines Vorfahren hinter einem übermalten Porträt. Das Gemälde zeigt, dass er und Curwen sich beängstigend ähnlich sehen …

Es mutet ironisch an, dass Lovecraft von seinem Meisterwerk nicht besonders viel hielt. Trotz seines notorischen Geldmangels ließ er den Roman unveröffentlicht, so dass er erst posthum erscheinen konnte. Tatsächlich hat Lovecraft den Text während einer literarisch äußerst produktiven Phase verfasst. Nach der gescheiterten Ehe mit Sonia Greene aus New York heimgekehrt, brachte er 1926/27 binnen weniger Monate so herausragende Erzählungen wie „The Call of Cthulhu“, „Pickman’s Model“ und „The Colour out of Space“ zu Papier. Der „Charles Dexter Ward“ ist dabei von besonderem Interesse, weil sich in der mit versponnenen Interessen beschäftigten Titelfigur unschwer ein augenzwinkerndes Selbstporträt des Verfassers erkennen lässt. Zudem ist der Roman von großer erzählerischer Souveränität. So verzichtet Lovecraft darauf, das Geheimnis um Curwens Farm bereits bei der Erstürmung im 18. Jahrhundert zu lüften, sondern bewahrt sich dies für den Schluss seines Texts auf – wenn Wards Arzt Dr. Willet in die Katakomben vorstößt und mit verstörenden Erlebnissen konfrontiert wird. Tatsächlich hat Lovecraft den Roman so gestaltet, dass man mit dem Erzähler lange Zeit an eine Geisteskrankheit Wards glaubt, bis die Fortführung der Handlung schließlich in eine andere Richtung weist.

S. T. Joshi gehört zu den bedeutendsten und zugleich umstrittensten Exegeten der Werke von H. P. Lovecraft. Eine dreißigseitige Einleitung erläutert zunächst die Hintergründe des Buchs, schildert die Entstehungsgeschichte und vergleicht es mit anderen Schriften des Autors. Dabei ist der „Ward“ für Joshi „eines der wenigen Werke Lovecrafts, in dem es ihm gelingt, seinen Protagonisten eine gewisse Tiefe zu verleihen“. Die über zweihundert Anmerkungen erschließen zahlreiche Figuren und Orte, für die es meist reale Vorbilder gibt. Aber Joshi erläutert auch Zitate, spürt den im Text genannten Buchtiteln nach und benennt kleinere Fehler, die Lovecraft unterlaufen sind. Abgerundet wird der Band mit einer Reihe von Fotografien, die Donovan K. Loucks von den Originalschauplätzen des Romans gemacht hat.

„Der Fall Charles Dexter Ward“ ist bereits mehrfach in Deutschland erschienen. Die neue Ausgabe bietet so viel Mehrwert, dass ihre Anschaffung allemal lohnt; auch für diejenigen, die bereits den Kommentar von Marco Frenschkowski aus den „Gesammelten Werken“ (Edition Phantasia) kennen. Und: Die Neuübersetzung glänzt mit exzellenter Lesbarkeit. Fazit also: Für Einsteiger wie Experten gleichermaßen ein Vergnügen.
 

H. P. Lovecraft: Der Fall Charles Dexter Ward (The Case of Charles Dexter Ward) • Herausgegeben sowie mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von S. T. Joshi • Aus dem Amerikanischen von Andreas Fliedner • Golkonda Verlag • 253 Seiten • € 16,90 (E-Book: € 6,99)

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