22. Mai 2012

Spiegelwelten

Zwei Romane von Sergej Lukianenko

Lesezeit: 6 min.

In der Spiegel-Dilogie erforscht Sergej Lukianenko auf gewohnt unterhaltsame Art die Tiefen, Untiefen und Möglichkeiten eines außer Rand und Band geratenen Internets – Menschen können sich in virtuelle Welten begeben, dort Abenteuer erleben, sterben und wiederauferstehen, sich verlieben und einander bekriegen … und auch auf Geheimnisse stoßen, die ihnen im realen Leben (dem aus Fleisch und Blut jenseits von Kabeln und Software) gefährlich werden können.

Das Konzept ist alles andere als neu, seitdem Stanisław Lem in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts das Konzept der Phantomatik entwarf und Gibson & Co. in den Achtzigerjahren damit begannen, den Cyberspace und seine Möglichkeiten zu erforschen. Tad Williams hat mit seiner Otherland-Romanserie virtuelle Welten in exzessiver Gründlichkeit beschrieben, und zwar beginnend mit dem ersten Band im Jahr 1996. Lukianenkos Version des Themas ist in Russland im selben Jahr erschienen – eine seltsame Ko­inzidenz.

Die Herangehensweise gleicht sich nur im Grundsätzlichen des Spiels mit der Virtualität, in den Details könnte sie unterschiedlicher kaum sein. Während Tad Williams – und im Übrigen auch die anderen Vordenker der VR-Geschichten – von einer heute nicht mal ansatzweise existierenden Technologie ausgehen, die den Menschen tatsächlich in die virtuelle Welt versetzt, sodass er aus rein technischen Gründen nicht mehr unterscheiden kann, ob er sich im realen oder virtuellen Leben befindet, hat der russische Autor einen anderen, zugleich zeitlosen wie nostalgischen Ansatz gefunden.

Und einen eleganten. Er denkt sich keine Hightech-Visionen aus, sondern bleibt einfach bei Modem und Einwahlverfahren, also bei der Ursuppe des Internets, und postuliert ein kleines, psychoaktives Programm namens »Deep«, das den menschlichen Verstand dazu verleitet, aus primitivsten Andeutungen einer virtuellen Welt eine perfekte Virtualität zu konstruieren. Eine Welt, die nur im Kopf des Surfers, nicht aber in Form irgendwelcher Hardware existiert. So können Lukianenkos Figuren in fiktiven Welten agieren, ohne sündhaft teure und/oder ausgeklügelte Hardware besitzen zu müssen. Da er die reale Welt seiner Charaktere genau dort verortet, wo die Bücher entstanden sind, nämlich im von den Nachwehen des untergehenden Sozialismus gebeutelten Russland der frühen Neunzigerjahre, kann er den beständigen Mangel an allem Möglichen gut mit den quietschenden Modems, klapprigen 386ern und FidoNet-Begriffen seines Helden vereinbaren und (wie nostalgisch das heute anmutet) über die Schwierigkeiten sinnieren, mit Disketten und einer Riesendatei von zwei Megabyte klarzukommen.

Diese Prämissen teilt Lukianenko dem Leser nicht direkt mit, sondern mischt sie seinem wie immer flott erzählten Garn nach und nach unter, sodass man seinem Helden Leonid längst in die bunten Welten eines seltsam weiterentwickelten Internets gefolgt ist, ehe alle Informationen beisammen sind. Während alle anderen Menschen gleichsam vom Deep-Programm gefangengenommen werden und aus eigener Kraft nicht wieder aus der sogenannten »Tiefe« herauskommen können (sie müssen per Zeitschaltuhr »auftauchen«), gehört Leonid zur seltenen Spezies der Diver, die sich willentlich und jederzeit aus der Deep-Hypnose befreien können. Das erweist sich als äußerst praktisch. Wo andere an der Aufgabe scheitern, eine Brücke zu überschreiten, die lediglich aus einem gespannten Pferdehaar besteht, kann Leonid ebenjene Brücke als das betrachten, was sie in Wirklichkeit ist – nämlich nur ein paar Zeilen Programm-Code –, und sie mühelos überwinden. Auf diese Weise kann er alle Spiele meistern, die im Netz gespielt werden; denn natürlich wird die Tiefe abgesehen von allen Spielarten der Pornografie hauptsächlich zum Spielen genutzt. Was sonst?

Da in der Tiefe natürlich auch reale Geheimnisse gehütet werden, kann Leonid sich mit dem Stehlen von Daten seinen Lebensunterhalt verdienen. Bis er eines Tages den lukrativen Auftrag bekommt, nach einem Nutzer zu suchen, der nicht mehr aus den virtuellen Verliesen eines Internet-Spiels herausfindet, ja, der nicht einmal in das Spiel hineingelangt zu sein scheint, obwohl er zweifelsfrei dort festsitzt. Ist er eine Persönlichkeit, die es in der Realität womöglich nicht mehr gibt, weil ihr Körper am Rechner gestorben ist, während der Geist in der Tiefe gefangen wurde? Ist dieser »Loser« ein Geschöpf der Tiefe selbst, eine künstliche, rechnergenerierte Persönlichkeit? Oder ist er ein Fremder, ein Nichtmensch, den es in die Tiefe verschlagen hat? Was auch immer stimmt, plötzlich findet sich Leonid in einem verzwickten Spiel wieder, das nicht weniger auf die Probe stellt als sein Gewissen und seine Selbstachtung. Und die Leute, die nun hinter ihm her sind, haben viel weniger Skrupel als er selbst, der er gerade eine Beziehung mit Vika eingeht. Eine halb wirkliche, halb virtuelle Beziehung – »es ist kompliziert«.

Bei dem Spiel handelt es sich übrigens um Doom, falls sich noch jemand an die Aufregung erinnert, die es in den Neunzigerjahren um dieses Game gab (das wieder mal den Untergang des Abendlandes herbeiführen sollte); erstaunlich mutet allerdings an, wie Lukianenko schon Anfang der Neunziger die Weiterentwicklung der Folgejahre hin zu World of Warcraft und Konsorten vorausgeahnt hat.

Die Geschichte vom »Labyrinth der Spiegel« (im Shop ansehen) wird nicht ganz in der gewohnten Lukianenko-Manier erzählt, haben wir es hier doch mit einem mittlerweile über fünfzehn Jahre alten Text zu tun, und manches, was in späteren Büchern wie »Spektrum« wunderbar funktioniert, kommt hier ebenso wie im Folgeband »Der falsche Spiegel« noch etwas holperig herüber. Ein spannendes Abenteuer bleibt es allemal, und die Orientierung wird dem Leser leicht gemacht: Alle Passagen in der »Tiefe« werden im Präsens erzählt, und das Präteritum des Erzählers zeigt an, dass man sich in der Realität befindet. Dieser Trick führt auch dazu, dass sich die Ereignisse in der tatsächlich existierenden Welt mitunter weniger wirklich ausnehmen als die im Virtuellen.

Drei Jahre später schob Lukianenko »Der falsche Spiegel« (im Shop ansehen) nach, worin sich sowohl die Tiefe als auch Leonid weiterentwickelt haben. Die Rechner sind nun schon stolze Pentiums, und Windows Home nervt mit seinen Sicherheitsabfragen. Die Diver haben ihre Sonderstellung eingebüßt. Leonid verdient sein Geld als virtueller Möbelpacker in der virtuellen Welt (nicht immer ist Lukianenkos Humor treffsicher).

Als allerdings ein Freund Leonids aus der Tiefe heraus getötet wird, scheint der harmlose Spaß in den virtuellen Welten endgültig vorbei zu sein. Wer möchte schon ein Spiel spielen, in dem man nach einem »Game Over« auch in der Wirklichkeit tot ist, statt nur ein virtuelles »Leben« zu verlieren? Wer will ein Spiel spielen, dessen Oberboss im letzten Level, vollgesogen mit den virtuellen Toden Tausender Spieler, kurz davor steht, selbst Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit zu erlangen? Oder eines, in dem man am Ende einer dunklen Version seiner selbst gegenübertreten muss?

Wer den ersten Band verschlungen hat, wird auch den zweiten mit Gewinn lesen, auch wenn »Der falsche Spiegel« der Tiefe nicht sehr viel Neues hinzufügt und die Themen des Vorgängerbandes in gewisser Weise nur variiert; ohne die Kenntnis des ersten Romans wird man allerdings am zweiten keinen Spaß haben. Leonid lebt hier – im wirklichen Leben – mit Vika zusammen, und ihre Beziehung spielt auch bei der Lösung des Rätsels in der virtuellen Welt eine gewichtige Rolle. Noch wichtiger wird allerdings Leonids eigene Persönlichkeit, denn am Ende steht er kurz davor, gegen sich selbst kämpfen zu müssen. Neben dem allzu klug gewordenen virtuellen Kram ist es am Ende der Mensch Leonid, ganz unverdrahtet und fehlbar, der vor eine moralische Entscheidung gestellt wird …

Bereits in diesen Büchern arbeitet Lukianenko also an den Themenkreisen späterer Romane (das Durchschreiten von Toren, hinter denen andere Welten warten, taucht hier bereits auf), und dem Leser wird, während nun die älteren Texte des Autors auf Deutsch erscheinen, der Werdegang des russischen Autors mehr oder weniger in umgekehrter Reihenfolge präsentiert, rückwärts sozusagen, was immer noch besser ist als gar nicht.

Sergej Lukianenko: Labyrinth der Spiegel • Roman · Aus dem Russischen von Christine Pöhlmann · Wilhelm Heyne Verlag, München 2010 · 698 Seiten · € 11,99 (im Shop ansehen)

Sergej Lukianenko: Der falsche Spiegel • Roman · Aus dem Russischen von Christine Pöhlmann · Wilhelm Heyne Verlag, München 2011 · 576 Seiten · € 11,99 (im Shop ansehen)

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