25. Januar 2017 2 Likes 1

Spröde Erinnerungen

China Miévilles Novelle „Dieser Volkszähler“

Lesezeit: 2 min.

Kaum ein Autor der modernen Fantastik steht so sehr für Neuerung, Grenzerweiterung und Abwechslung wie China Miéville (im Shop). Der 1972 geborene Engländer gilt als zentrale Figur der New-Weird-Bewegung und wurde für seine Romane zwischen Fantasy, Science-Fiction und Horror u. a. mit dem Arthur C. Clarke Award, dem Hugo Award, dem World Fantasy Award, dem Locus Award, dem British Fantasy Award und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. Ob „Perdido Street Station“, „Stadt der Fremden“ oder „Das Gleismeer“ – auf Miévilles Konto gehen einige der wichtigsten Genre-Romane der letzten Jahre. Unter dem Titel „Dieser Volkszähler“ ist soeben die deutsche Übersetzung von „This census-taker“ als E-Book und Hardcover im Liebeskind Verlag erschienen, und wieder überrascht Mr. Miéville durch Thema und Umsetzung – obwohl, ist das wirklich noch eine Überraschung?

In einer Welt, die in ihrem Ansatz definitiv fantastisch und postapokalyptisch ist, erzählt der überzeugte Sozialist Miéville von Brückenkindern, Fledermausanglern, Abscheuvögeln, Hilfspolizisten und Volkszählern – und in erster Linie von einem Jungen, der mit seinen Eltern außerhalb eines kleinen Brückendorfes im Gebirge weit oben auf dem Berg wohnt. Die Mutter kümmert sich um den Garten, der Vater ist ein magischer Schlüsselmacher und hat trotz seiner stillen Natur brutale, finstere Neigungen, deren Ergebnis er in einer bodenlosen Müllgrube im Berg verschwinden lässt. Eines Tages flüchtet der Junge verstört und traumatisiert ins Dorf und erzählt von einem Gewaltverbrechen in seinem Zuhause, an das er sich anfangs allerdings nicht richtig erinnern kann. Doch ohne Beweise keine Verurteilung, und so wird das Leben des Jungen auf dem Berg noch unangenehmer und unwirklicher …

Miéville spielt immer wieder mit der Perspektive seines fiktiven Erzählers und Autors. Damit verdeutlicht die Fantastik-Größe, dass wir in unseren Erinnerungen, je nach Art dieser Erinnerungen, verschiedene Positionen einnehmen können. Das vage, nichtsdestotrotz funktionierende und einnehmende Worldbuilding, die überzeugende Stimmung und ganz allgemein die Sprache sind unverkennbar China Miéville, selbst wenn er sich mit den fantastischen Explosionen seiner überbordenden Kreativität mehr zurückhält als sonst. Umso besser passt das schmale Büchlein zu anderen Liebeskind-Publikationen dieser Gesinnung und in diesem Gewand: anderen spröden, harten und geradezu hypnotischen Erzählungen über Außenseiter, Ausgestoßene und ‚Hinterwäldler’ von Daniel Woodrell („Winters Knochen“) oder Cyann Jones („Graben“), um mal zwei zu nennen.

Natürlich sind 170 luftig gesetzte Seiten eher überschaubar – doch „Dieser Volkszähler“ lebt nicht allein von dem, was China Miéville überlegt zu Papier gebracht hat, sondern mindestens genauso von dem, was er bewusst nicht geschrieben hat, und wie man als Leser daraus eine Schnittmenge bildet und sich den Rahmen und die Vorgänge erschließt. Und so ist auch dieses gewohnt andersartige, stark geschriebene kürzere Werk aus Miévilles Feder eine vielleicht nicht überragende, aber allemal lohnenswerte Lektüre, sowieso für seine Fans.

China Miéville: Dieser Volkszähler • Liebeskind, München 2017 • 173 Seiten • Hardcover: 18,00 Euro

Kommentare

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Danke! Ich habe "This Census-Taker", wie alle Miéville-Romane, sehr genossen, und hoffe, dass die deutsche Ausgabe dazu beitragen wird, diesen hierzulande völlig unterbewerteten Autor ein Stück bekannter zu machen.

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