2. Juni 2014

Terror in der Spiegelwelt

Matt Ruffs Alternativwelt-Roman „Mirage“

Lesezeit: 3 min.

Bereits „Bad Monkeys“, der letzte Roman von „Fool on the Hill“-Autor Matt Ruff, war eine überragende Hommage an Philip K. Dick, den Meister der hinterfragten Realität. Auch das neueste Werk des 1965 geborenen US-Autors, der bereits mit dem James Tiptree Jr. Award ausgezeichnet wurde, ist dem großen PKD wieder recht nahe – Dicks Suche nach der Realität genauso wie dessen Alternativwelt-Klassiker „Das Orakel vom Berge“, einem der wichtigsten SF-Romane mit kontrafaktischem Geschichtsverlauf.

Die Idee zu „Mirage“ kam Ruff, als er von einem TV-Produzenten, der „Bad Monkeys“ zurecht grandios fand, nach Ideen für eine Fernseh-Serie gefragt wurde. Ruff, der unbedingt auf seine Querdenker-Art und mit ungewöhnlicher Perspektive über den 11. September und den Krieg gegen den Terror schreiben wollte, überlegte sich also ein Alternativwelt-Konzept, in dem die USA bzw. der Westen und der Mittlere Osten die Plätze getauscht haben. Natürlich war das fürs US-Fernsehen trotz HBO, Showtime und Co. zu heftig und unpatriotisch, und so wurde „Mirage“ am Ende Ruffs neuester Roman, der jetzt endlich als Hardcover bei dtv auf Deutsch erschienen ist.

Alles beginnt mit dem Spiegelbild von Nine-Eleven. Am 9. 11. 2001 werden die Vereinigten Arabischen Staaten von einem Terroranschlag christlicher Fundamentalisten erschüttert, die u. a. zwei Flugzeuge in die Türme des Welthandelszentrums in Bagdad, der Prächtigen und Modernen, steuern. Die arabische Supermacht erklärt der amerikanischen Heimat der Terroristen daraufhin den Krieg und startet eine Invasion des US-Entwicklungslandes. Als der Krieg sich Jahre später zu Ende neigt, ist die Terrorgefahr noch nicht gebannt. Zumal ein paar Bundesagenten in Bagdad herausfinden, dass ihre Welt lediglich eine Fata Morgana, ein Trugbild (engl.: Mirage) sein soll und in der Realität die Rollen der Weltmächte genau spiegelverkehrt sind. Ihre Suche nach der Wahrheit hinter der Fata Morgana-Legende und den Artefakten, die diese befeuern, führt die Agenten ins Land des Terrors: Amerika …

Seine bisherigen Werke hatten inhaltlich nicht viel gemeinsam, aber eines hinlänglich bewiesen: Matt Ruff ist ein mutiger Autor. Einer, der die Freiheit seines literarischen Standes schätzt und das Privileg zurückzahlt, indem er uns außergewöhnliche Bücher wie „Mirage“ schenkt. Ruffs dichter, plausibler Alternativweltenentwurf zwischen Saddam, eBasar, Senator bin Laden und dem Geheimdienst al-Quaida, den er unterwegs mit Einträgen aus dem Wikipedia-Pendant Die Bibliothek von Alexandria speist, ist ganz großes SF-Kino, selbst wenn dtv die Worte „Science-Fiction“ oder „Alternativwelt“ beflissen meidet, dafür aber eine gewohnt sorgsame Ruff-Übersetzung in Auftrag gegeben hat. Dazu kommt, dass Ruff einem roten Faden folgen kann und dennoch eine Vielzahl Themen, Stimmungen und Figurenschicksale unterbringt und somit weit mehr als nur eine einzelne große Parallelwelt-Geschichte erzählt.

Nicht einmal Michael Chabons „Die Vereinigung jiddischer Polizisten“ oder Lavie Tidhars „Osama“ – die im Übrigen ebenfalls beide eine Krimi-Handlung als Trägerstoff nutzen – haben das Alternativwelt-Sujet in Bezug auf die kosmopolitischen Konstellationen der Neuzeit dergestalt ausgefahren und erstrahlen lassen. Da verzeiht man Ruff auch ein paar Längen in der zweiten Hälfte des Romans. Immerhin zeigt „Mirage“ ansonsten wunderbar, dass das SF-Subgenre der Gedankenspiele mit den historischen Abweichungen nichts von seiner Faszination eingebüßt hat, solange sich herausragende Autoren wie Matt Ruff damit beschäftigen.

Solch meisterliche Trugbilder lässt man sich als Leser gerne gefallen.

Matt Ruff: Mirage • dtv, München 2014  • 496 Seiten • € 21,90

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