22. September 2014 6 Likes 1

Wir werden nicht mehr uns gehören

Im pornografischen Gehäuse der Gegenwart – Dave Eggers’ vieldiskutierter Zukunftsroman „Der Circle“

Lesezeit: 5 min.

Der entscheidende Satz fällt ziemlich früh, aber erst fünfhundert Seiten später begreifen wir, was er tatsächlich bedeutet, für uns, für die Gegenwart, für die Zukunft: „Wer könnte Utopia bauen, wenn nicht Utopisten?“ Eine junge Frau namens Mae Holland denkt und glaubt und sagt das begeistert dem Leser. Maes Begeisterung ist verständlich: Sie hat gerade durch die Vermittlung ihrer Studienfreundin Annie einen Job beim Internet-Konzern Circle ergattert, und was ihr dort begegnet, kommt ihr weniger wie ein profitorientiertes Unternehmen vor als wie eine veritable Weltverbesserungsmaschinerie: Digitale Transparenz, die Akkumulation, Steuerung und Nutzbarmachung von Information, die Kollektivierung des Individuums und Individualisierung des Kollektivs – die Produkte des Circle, die all dies bewirken sollen, kauft man nicht nur, man wird ein Teil von ihnen. So wie Mae Holland Teil des Circle wird und sich daran macht, Utopia mitzubauen. Doch fünfhundert Seiten später …    

Dave Eggers: Der CircleAls Dave Eggers’ neues Buch „Der Circle“ vor einigen Wochen erschien, ging das sprichwörtliche Rauschen durch den deutschen Blätterwald: Endlich wieder einmal ein Roman, der, statt dröge Innerlichkeit zu referieren, das gesellschaftliche Ganze in den Blick nimmt, der die aktuelle Social-Media-Obsession auf die satirisch-dystopische Spitze treibt, der die Frage stellt, wie die „digital natives“ des frühen 21. Jahrhunderts eigentlich miteinander leben wollen. Und tatsächlich macht Eggers keinen Hehl daraus, dass sein fiktiver Circle ein sanft in die Zukunft geschobenes Amalgam aus Google, Facebook, Yahoo und einem Dutzend anderer Internet-Plagen ist, die uns seit einiger Zeit mit dem Ur-Traum aller Ideologen traktieren: dass es nämlich so etwas wie Freiheit ohne Freiheit oder, um den alten Adorno zu bemühen, das richtige Leben im falschen gibt. Dieser Traum wurde und wird rechts wie links geträumt, und so ist es nur stimmig, dass die ideologischen Strömungen im Circle zusammenfließen und zu einem großen Ganzen werden: Im Circle, in dieser alles Staatliche und Private überwölbenden, überwuchernden, transzendierenden Megamaschine, einer Mischung aus katholischer Kirche, kommunistischer Partei und transnationalem Wirtschaftsunternehmen, das die digitale Infrastruktur und damit den Weg in unsere Köpfe monopolisiert, träumt jeder diesen Traum – weil es keinen anderen mehr gibt, weil der Circle darauf angelegt ist, sich zu einer Welt zu schließen, die kein Außen mehr kennt. Und Eggers macht auch keinen Hehl daraus, dass sein Buch vor allem dazu dienen soll, die Entstehung einer solchen, in sich geschlossenen Welt zu verhindern: Maes Geschichte – sie wird von einer einfachen Kundenberaterin Schritt für Schritt zur Personifizierung der Circle-Ideologie, zum global einsehbaren „transparenten Menschen“ – ist die Geschichte einer Gesellschaft, die sich freiwillig in eine Diktatur begibt: in eine Welt, in der alles, was geschieht, vor den Augen aller geschieht. Entsprechend schablonenhaft sind die Figuren, entsprechend überzeichnet die Dialoge, entsprechend durchschaubar die Rätselstruktur. Natürlich ist Eggers ein viel zu versierter Erzähler, als dass ihm die Geschichte je wirklich langweilig geraten würde, und immer wieder landet er auch schmerzhafte Treffer, die einen dazu bringen könnten, den Computer zu entsorgen und nie wieder eine E-Mail zu schreiben. Aber sein Roman verfolgt dieselbe didaktische Strategie, wie sie Orwell, Huxley, Bradbury und andere Großdystopiker verfolgt haben: Seht her, das von den Utopisten gebaute Utopia ist ein gesellschaftlicher Alptraum. Ja, es wird nie ein Utopia geben – es wird immer nur den zerbrechlichen und unendlich wertvollen Menschen mit all seinen Irrungen und Wirrungen und Sehnsüchten und Träumen geben. Also zögerte das Feuilleton auch nicht lange und verlieh dem Buch das Gütesiegel „Das ‚1984‘ fürs Internetzeitalter“.

Aber ist es das wirklich? Oder anders gefragt: Wo sind hier eigentlich all die Utopisten – die Funktionäre, die Direktoren, die Feuerwehrhauptmänner –, die Utopia erklären und erbauen, die einen „Sinn“ in die Welt bringen, den es so vorher nicht gab? Sie kommen nicht vor. Was Eggers beschreibt, ist das genaue Gegenteil, ist die schnöde sinnstiftende Sinnlosigkeit unserer Zeit: Eine Firma, die a) Geld verdienen will durch die Einverleibung ihrer Konkurrenten, b) Geld verdienen will durch die Selbstausbeutung ihrer Angestellten und c) Geld verdienen will durch die Selbstentblößung ihrer Kunden. Alles andere – die Überhöhung der Circle-Produkte ins Transzendental-Utopische, die pseudopolitischen Parolen auf den Bildschirmen, die behauptete Abschaffung aller Hierarchien, die penetrante Aufforderung, zu „teilen“ – ist genau das, was ihre Entsprechung in der Gegenwart auch ist: Marketing. Nirgends wird begründet, warum eine maximal transparente Gesellschaft eine maximal freie Gesellschaft sein soll und wie eine solche Gesellschaft funktioniert (oder eben nicht funktioniert), die Figuren hauen sich lediglich ihre eigenen Werbesprüche um die Ohren – so wie es auch in der Gegenwart bisher niemand begründet, sondern ein milliardenschwerer Rotzlöffel namens Mark Zuckerberg einfach nur in die Welt hinausposaunt hat, um Kapital anzuhäufen.

So gesehen ist Eggers’ Roman weniger Dystopie als Pornografie: Die Binnenwelt des Circle mit ihrem gestelztem High-Tech-Gerede und ihrem konfektioniertem Fürsorgewahn, die Eggers genüsslich beschreibt, ist lediglich die Kulisse für einen Akt der ultimativen Hingabe, beobachtet und „geteilt“ von Millionen von geilen Voyeuren, die sich, wohlwollend obszön, „Freunde“ nennen: das Ich, das ab einem bestimmten Punkt nicht mehr sich selbst gehört, sondern allen anderen, das sich nicht mehr selbst erzeugt, sondern aus Millionen von Meinungen, Urteilen, Bewertungen erzeugt wird. Mae Holland wird zu diesem neuartigem „Ich“, und es ist am Ende völlig egal, was sie denkt und glaubt und sagt – sie wird gedacht und geglaubt und gesagt. Und so ist „Der Circle“, der eigentlich die aktuelle Version des uralten Kampfes individuelle Lebensgestaltung versus kollektive Zwangsbeglückung erzählen will, die grell ausgeleuchtete, leicht überanstrengte, immer wieder ins Lächerliche abgleitende und sich schließlich ins Leere ergießende Geschichte eines individuellen und kollektiven Paroxysmus. Mae Holland hofft, mit Gleichgesinnten ein Utopia zu bauen. Aber sie selbst ist es, die gebaut wird. Und wir sind es, die sie bauen.

Dave Eggers: Der Circle (The Circle) • Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann • Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014 • 560 Seiten, € 22,99
 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich.

Kommentare

Bild des Benutzers Shrike

Treffende Feststellungen (danke für den Rotzlöffel) und Ausführungen, die neugierig machen.

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