7. März 2013

Wüstenschiffer, ahoi

„Unter dem Räubermond“ von Jewgeni Lukin

Lesezeit: 4 min.

Jewgeni Lukin hat in seinem Leben schon viele Abenteuer erlebt. Er arbeitete als Drucker, als Journalist und sogar als Lehrer, bevor er zum Schreiben konvertierte. Heute zählt er zu den beliebtesten russischen Science-Fiction-Autoren und erfreut sich zahlreicher Auszeichnungen, so des Staatspreises für Literatur oder der Tschechow-Medaille. Lukin lebt in der Millionen-Metropole Wolgograd, jener Stadt, die von 1925 bis 1961 Stalingrad hieß. In seinem Roman »Unter dem Räubermond« (im Shop ansehen) macht er mit seinem Figurenensemble, was etliche Autoren hin und wieder gerne mit ihren Figuren machen würden, jedenfalls wenn sie sich im Laufe der Erzählung als zu widerspenstig erweisen: Er schickt sie in die Wüste. In eine Wüste enormen Ausmaßes, in der man sich nicht auf transusigen Kamelen fortbewegt, sondern mit leibhaftigen Schiffen.

Lukins Wüstenschiffe, die großen Handelsgaleeren beispielsweise, rollen auf vier fassförmigen Rädern, die von sogenannten Schiffsläufern angetrieben werden: »Unter den breiten Radfelgen knirschte und knackte der rötliche Schotter, der sich rasch aufheizte. Die Füße in den breiten, flachen Sandschuhen gingen in gleichmäßigem Schritt.«

Schifffahrt als Handarbeit, sozusagen. Und wie sehen Wüstenschiffe aus? Überraschend traditionell: »Der Bug der Galeere war grotesk abgeschnitten. Früher hatte dort ein geschnitzter Kamelkopf mit einem dicken Horn auf der Stirn geprangt« – ein Kameleinhorn also als Galionsfigur. In dieser Wüstenwelt lebt viel buntes Volk. Das wären einmal die Verschleierten, zu denen auch Ar-Scharlachi gehört, der Held dieser Geschichte. Zum anderen gibt es die sogenannten Nacktfressen, weil Nicht-Verschleierten. Die beiden Parteien stehen einander feindlich gegenüber. Ferner existiert ein mysteriöses Land, in das sich weder Verschleierte noch Nacktfressen trauen: das Land der »nickenden Hämmer«. Hinter diesem Namen verbirgt sich der Fortschritt in Gestalt von Ölförderanlagen, ein Fortschritt, der nichts Gutes verheißt, denn »unter dem Räubermond« herrscht Krieg. Ar-Scharlachi ist ein Nomade. In einer hotzenplotzesken Verwechslung wird er für einen berüchtigten Räuberhauptmann gehalten.

Immerhin trägt ihm diese Verwechslung die prickelnde Bekanntschaft mit des Räuberhauptmanns Räuberliebchen ein, der schönen Aliyat. Ar-Scharlachi wird zu einer Expedition genötigt: Der Sandnomade soll zum Meer, denn das Meer ist voller Wasser, und von diesem Wasser verspricht sich der lokale Despot Ulquar die Unsterblichkeit. Nach altem Nomaden- (oder Piraten-)Brauch kapert Ar-Scharlachi ein Schiff, zwar nicht die Black Pearl, aber auch in diesem Fall ein farblich spektakuläres Fahrzeug: den rosa-goldenen Samum nämlich.

Reisen bildet, und auf dieser Reise wird aus dem Ex-Nomaden und Pseudo-Räuberhauptmann schließlich ein Rebellenführer, der gegen eine technisch überlegene Macht antritt, die – im Land der nickenden Hämmer, sprich Ölfördertürme – die Bodenschätze des Wüstenlandes plündert.

Irgendwann werden die Ölfelder von Flugzeugen aus bombardiert. Wer hier gegen wen kämpft, bleibt wie von einem Sandsturm verhangen. Schließlich überstehen Ar-Scharlachi und Aliyat sogar die Aussetzung in der Wüste. Der Roman endet ein wenig unverhofft mit dem Bad des Herrschers im Meerwasser und seinem Tod kurz darauf: »Denn vierzig Tage später wurde er von einem seiner Erben vergiftet (natürlich nicht von dem, der am Ende an die Macht kam). Und das war vielleicht auch besser so, denn der Staat Harwa sollte nur noch kurze Zeit bestehen …«

Nicht weiter schlimm, denn so recht ans Herz gewachsen war einem der üble Ulqar nicht. Der Leser bleibt nach annähernd 500 Seiten wüsten Abenteuers etwas ratlos zurück – was habe ich denn jetzt gelesen? Ali Babas neue Abenteuer mit Wüstenschiffen? Sindbads Reise zu den Ölfeldern? Eine Räuberpistole mit reichlich Sand im Luntenschloss?

Vielleicht hilft ein Blick auf den Klappentext: Es ist ein »Kultroman aus Russland«.

Gegen bewährte Plots ist eigentlich nichts einzuwenden. Und möglicherweise lesen russische Leser zwischen den Zeilen noch von einem ganz anderen Abenteuer, ich fantasiere mal: von dem Aufstand einfacher Menschen gegen wohl organisierte Staatskonzerne, die im Auftrag ihres Herrn unterwegs sind, die Reichen noch reicher zu machen. Vielleicht kommt ihnen, wenn es um Unsterblichkeit geht, in den Sinn, dass dem Versuch, sich als Machthaber zu perpetuieren – durch Meerwasser oder infinite Mehrfachwahl –, kein Heil beschieden ist.

Fazit: Dies ist ein dickes Buch mit vielen farbenprächtigen Episoden; ein Schmöker, der mehr als eine Armlänge Abstand hält zu unserem Alltag und seinen Plagen; ein Roman, der in eine fantastische Landschaft entführt, die reichlich Raum bietet für unsere liebgewonnenen Geschichten von edlen Räubern, schönen Räuberbräuten und tief empfundener Liebe mit dem TV-Serien-Echtheitssiegel.

Ahoi, ihr Wüstenschiffer!

Jewgeni Lukin: Unter dem Räubermond · Roman · Aus dem Russischen von Erik Simon · Wilhelm Heyne Verlag, München 2013 · 495 Seiten · € 7,99 (E-Book – im Shop ansehen)

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