9. Mai 2016

Die metaphorische Wirklichkeit

Charles Burnsʼ großartige Comic-Trilogie steckt voller Science-Fiction-Elemente

Lesezeit: 4 min.

Rotweiß gefleckte Rieseneier, unfreundliche Echsenwesen, gewöhnungsbedürftige Nahrung, schließlich eine monströse Brutkolonie – dies sind Bestandteile des einen Handlungsstrangs der neuen Comic-Trilogie von Charles Burns. Der andere handelt von einem jungen Mann namens Doug, der verletzt und unter Medikamenteneinfluss in seinem Bett liegt und mit einer Frau liiert ist, von der ausgesprochen merkwürdige Fotos existieren. Wie geht das zusammen?

Überraschenderweise sehr gut, zumal sich die beiden Ebenen ergänzen und kommentieren. Chronologisch beginnt die Handlung mit Doug, der eine Studentenparty in einem Abbruchhaus besucht und dort auf einen seltsamen Altar stößt, der von einem Schweinefötus, Blumen und dem sinistren Bild einer jungen Frau bestimmt wird. Dabei handelt es sich um Sarah aus seiner Fotoklasse, die ihm bereits mit ungewöhnlichen Selbstporträts aufgefallen ist, auf denen sie sich gefesselt und nackt zeigt. Kurz darauf begegnet Doug der jungen Frau, die nach einem Streit mit ihrem gewalttätigen Freund Larry völlig aufgelöst ist. Da Larry kurz darauf ins Gefängnis kommt, kann sich eine Beziehung zwischen Doug und Sarah entwickeln, die die Frau sichtlich stabilisiert. Doch dann kehrt Larry zurück, und Sarah ist schwanger – eine Verantwortung, der sich Doug als Vater nicht stellen will.

Auf der zweiten, zeichnerisch deutlich an der Ligne claire orientierten Science-Fiction-Handlungsebene geht es um Dougs vielleicht geträumtes Alter Ego Johnny, der von Hergés Figur Tintin („Tim und Struppi“) inspiriert wurde. Nachdem Johnny in einem Kellerraum erwacht ist, führt ihn seine Katze in ein unterirdisches Reich voller Ruinen und geborstener Rohre, in dem seltsame Lebewesen durch den Fluss treiben. Als er die Oberfläche erreicht, sieht er sich einer exotischen Welt gegenüber, in der lebende Dinge gegessen werden und echsenhafte Figuren eine große Kolonie unterhalten. Dort brüten Menschenfrauen den Nachwuchs aus – und schwellen dabei monströs an. Johnny bekommt damit ganz ähnliche Schwierigkeiten, wie Doug sie hat …

Der 1955 geborene US-Amerikaner Charles Burns gehört zu den wichtigsten Vertretern des künstlerisch ambitionierten Erwachsenencomics. Kennzeichnend für ihn sind teils subtile, teils explizite Horrordarstellungen in sorgfältig durchkomponierten Plots, in denen Jugend und Adoleszenz eine große Rolle spielen. Waren seine bisherigen Arbeiten überwiegend in scharfkantigem Schwarzweiß gehalten, ist die neue Trilogie erstmals komplett vierfarbig. Dabei fällt auf, dass Burns seine Charaktere mit sich altern lässt. War die Figur des Big Baby in dem frühen Meisterwerk „Blood Club“ (1992) noch ein Kind, spielten in seiner umfangreichsten Arbeit „Black Hole“ (2005; dt. ebenfalls bei Reprodukt) pubertierende Teenager die Hauptrolle. In „X’ed Out“ (2010), „The Hive“ (2012) und „Sugar Scull“ (2014), die auf Deutsch in einer wunderschönen Halbleinenausgabe vorliegen, widmet sich Burns nun der Lebensrealität junger Erwachsener gegen Ende der 1970er-Jahre. Das Ergebnis ist eine sehr reife Arbeit, die nur noch wenig mit seinen frühen Variationen auf klassische Horrorfilme (gesammelt in „Skin Deep“, 2001) zu tun hat.

Thema der Trilogie ist die Übernahme von Verantwortung und die Frage nach den Konsequenzen des eigenen Tuns, eine für einen Genrebeitrag überraschend ernsthafte Wahl. Es geht nicht – wie in „Black Hole“ – um Irritationen durch erwachende Sexualität, sondern über diesen Lebensmoment hinaus. Mit den beiden Handlungsebenen, die sich als „Realität“ und „verarbeitete oder metaphorische Wirklichkeit“ beschreiben lassen, hat Burns ein ideales Instrument gefunden, um seinen Stoff zu erzählen. Dabei entwickelt er die Handlung konsequent und verweigert jeden falschen Kompromiss, was dem Werk letztlich nur geschadet hätte. Seine Figuren sind lebensecht und agieren vollkommen nachvollziehbar. Auch die graphische Umsetzung ist exzellent, zumal sie nicht allein durch zeichnerische Eleganz, sondern durch eine kunstvolle Montage besticht. Dies betrifft zum einen den Wechsel der Handlungsebenen, zum anderen das raffinierte Netz aus Vor- und Rückblenden, das die Trilogie gerade beim wiederholten Lesen zu einem großartigen Erlebnis macht. Der Aufbau der Handlung ist ebenfalls mustergültig: Alle Rätsel werden gelöst, alle Plot-Elemente finden perfekt zueinander. Nach vollendeter Lektüre wundert man sich, wie einfach die erzählte Geschichte im Grunde ist.

Und: So, wie Doug bei Konzerten als Kunstfigur Nitnit auftritt, um im Stil von William S. Burroughs verfasste Texte vorzutragen, steckt die ganze Trilogie voller kultureller Querverweise, etwa auf Louise Bourgeoise, Otto Dix und Brian Eno. Die ironischen Anspielungen auf Hergés Klassiker sind dabei natürlich am offenkundigsten, aber es gibt noch mehr zu entdecken. Burns entwirft damit einen kulturellen Raum, der ebenso selbstverständlich wie gleichberechtigt andere Medien heranzieht und für die eigene Handlung nutzbar macht. Meisterhafter lässt sich ein Comic derzeit kaum denken.

Charles Burns: X (X’ed) / Die Kolonie (The Hive) / Zuckerschädel (Sugar Scull) • Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders • Reprodukt • je 56–64 Seiten • je € 18–20

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