27. November 2015 2 Likes

Die Zukunft, ein Vierteljahrhundert vor „Matrix“

In Rainer Werner Fassbinders Klassiker „Welt am Draht“ von 1973 ist unsere Realität nur eine Simulation

Lesezeit: 3 min.

Ein Film, in dem sich die Wirklichkeit als vorgetäuscht erweist? Kaum jemand, der nicht sofort auf Matrix (1999) der Geschwister Wachowski tippen würde. Doch die Idee wurde bereits 1973 von dem deutschen Autorenfilmer Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) in seinem hellsichtigen Zweiteiler Welt am Draht umgesetzt – und zwar ausgerechnet für das deutsche Fernsehen. Fassbinder, der 2015 siebzig Jahre alt geworden wäre, schuf damit auch für seine Verhältnisse eine Ausnahmearbeit, die jahrzehntelang unzugänglich war und nun endlich in restaurierter Fassung auf DVD und Blu-Ray neu entdeckt werden kann.

Im Mittelpunkt von Welt am Draht steht Fred Stiller, ein Wissenschaftler, der soeben die Leitung des „Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung“ übernommen hat, nachdem der bisherige Direktor unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ist. Wichtigstes Projekt ist die per Computer durchgeführte Simulation einer Kleinstadt, deren Einwohner nicht wissen, dass sie lediglich Bestandteile eines Programms sind. Doch als einer von Stillers Mitarbeitern spurlos verschwindet und sich niemand an ihn erinnern kann, wird deutlich, dass mit dem Institut etwas nicht stimmt. Gibt es eine Verbindung zu der „ungeheuren Entdeckung“, die Stillers Vorgänger gemacht haben will?

Zugegeben: Die Pointe vermag mittlerweile niemanden zu überraschen; zu sehr dürfte das Motiv der falschen Realität aus Matrix und den Büchern von Philip K. Dick geläufig sein. Verblüffend ist allerdings, wie treffend unser digitalisiertes Zeitalter zumindest dem Wesen nach in dieser Produktion vorweggenommen wurde. Überzeugend ist auch der spröde Look des Films, bei dem nur wenig Geld für typische Science-Fiction-Accessoires zur Verfügung stand; stattdessen gelang es nicht zuletzt dank der brillanten Kamera von Michael Ballhaus, bestehende Kulissen so einzufangen, dass sie einen „futuristischen“ Eindruck erwecken (ohnehin ist Welt am Draht ein Fest für alle, die sich für Retro-SF begeistern). Die Schauspieler sind ebenfalls erste Wahl: Neben Klaus Löwitsch und Barbara Valentin spielen bewährte Mitglieder der Fassbinder-Entourage wie Kurt Raab, Ingrid Caven und Gottfried John; außerdem sind Günter Lamprecht und die spätere Loriot-Legende Heinz Meier zu sehen. Eddie Constantine, Christine Kaufmann und Rainer Langhans verblüffen mit Kurzauftritten.

Freilich: Die Regie hätte bisweilen dynamischer ausfallen können, und das Frauenbild dürfte schon in den 1970er Jahren ausgesprochen gestrig gewirkt haben. Trotzdem lohnt der Film die Anschaffung, zumal sich im Bonusbereich der Doppel-DVD und der Blu-Ray eine aufschlussreiche Dokumentation aus dem Jahr 2010 befindet. Die an sich gelungene Restauration lässt zwar – wohl filmmaterialbedingt – noch Wünsche offen, verhilft dem eindrucksvollen Film aber in jedem Fall zu neuem Leben. Und auch Daniel F. Galouye (1920–1976), der Autor der Vorlage „Simulacron-3“ (1965), würde zufrieden sein, dass sein neben „Dunkles Universum“ („Dark Universe“, 1961) wohl wichtigster Roman nach Ausgaben bei Goldmann und Heyne nunmehr im Scipio Verlag lieferbar ist.

Für Rainer Werner Fassbinder sollte Welt am Draht keineswegs der einzige Ausflug in die Science-Fiction werden. Der noch kurz vor seinem Tod im Jahr 1982 fertiggestellte Film Kamikaze 1989 von Wolf Gremm zeigt ihn als verschwitzten Polizeileutnant Jansen, der in einem von Konsumkult und Medienallmacht hypnotisierten Deutschland der nahen Zukunft einer Verschwörung auf die Spur kommt. Die Verfilmung von Per Wahlöös Roman „Mord im 31. Stock“ gibt sich so schrill wie möglich, transportiert aber ein ernstzunehmendes Thema – und wartet musikalisch mit einer der besten Leistungen von Tangerine-Dream-Gründer Edgar Froese auf.
 

Welt am Draht • Regie: Rainer Werner Fassbinder • 204 Min. • Arthaus • DVD, Doppel-DVD und Blu-Ray • ca. 12 bis 20 € je nach Anbieter

Daniel F. Galouye: Simulacron-3 (Simulacron-3) • Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr • 240 Seiten • Scipio Verlag • € 19,90

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