11. November 2014 2 Likes

Schön, dass wir unterwegs sind

Wie Christopher Nolan seinen Drei-Stunden-Film „Interstellar“ durch die Untiefen der Metaphysik steuert

Lesezeit: 4 min.

Christoph Kolumbus brauchte vier Reisen, um an der Neuen Welt verrückt zu werden. Gut, womöglich hatte er schon vorher nicht alle Tassen im Schrank – die großen Entdecker und Eroberer der Menschheitsgeschichte waren praktisch alle sozialunverträgliche Triebtäter –, aber jemand, der aufbricht, um eine Abkürzung nach Indien zu suchen, und dabei einem bisher unbekannten Kontinent begegnet, dem sieht man es nach, wenn er psychisch etwas aus dem Ruder läuft. Christoph Kolumbus hatte einfach zuviel „Neues“ gesehen.

Cooper, der neue Welten entdeckende Astronaut in Christopher Nolans Interstellar, wird nicht verrückt, obwohl ihm auf seiner Reise – er nimmt eine Abkürzung durch ein Wurmloch, um die Möglichkeiten der Besiedlung einer zweiten Erde zu erkunden, nachdem die Menschheit die erste zugrunde gerichtet hat – mehr „Neues“ begegnet, als je ein Mensch kognitiv verarbeiten könnte: nicht nur zwei Planeten mit hochexzentrischer Physik, nicht nur die extreme Erfahrung von Relativität, nicht nur die Überschreitung dessen, was wir ratlos „Ereignishorizont“ nennen – am Ende wird er auch noch zum Beginn seiner eigenen Geschichte, am Ende streckt er die Hand nach sich selbst aus. Aber er wird nicht verrückt, nein, ganz im Gegenteil: Der zurückgekehrte Cooper kann es gar nicht erwarten, sich wieder in den Raumgleiter zu setzen und zu neuen Abenteuern aufzubrechen. Wie er zuvor in einem der entscheidenden Dialoge zu seiner Mitreisenden Brand sagt: „Wir sind noch nicht weit genug gegangen …“ Dieser rastlose, stets zu allen Helden- und Schandtaten bereite und von Matthew McConaughey irritierend aufgekratzt gespielte Cooper ist das emotionale Zentrum eines Films, der nicht die große Geschichte im Kleinen, sondern die kleine Geschichte im Großen erzählen will: die Geschichte eines Davongehenden, der seinen Kindern durch sein Davongehen eine Zukunft ermöglicht. Noch größer als Religionen kann diese Geschichte eigentlich nur die Science-Fiction erzählen.

Science-Fiction also: Bekanntermaßen ist sie ja das cineastischste aller Genres, und bekanntermaßen hat die Filmindustrie dieses Potential noch nicht einmal im Ansatz ausgeschöpft. Aber wenn das ein Regisseur alle Jubeljahre mal wirklich versucht, dann wird er von den Hagiografen jener drei, vier Monumente des Science-Fiction-Films regelmäßig in den Schwitzkasten genommen: Reißt dieser Jungspund die Latte, die vor allem Stanley Kubrick gelegt hat? Hat dieser Blockbuster-Regisseur ein zweites 2001 im Kreuz? Da scheint es nicht zu stören, dass Interstellar in gewisser Weise das genaue Gegenteil von Kubricks ästhetisch ins Megalomanische aufgeblasener Weltraumsaga ist. Zwar fährt Nolan, um seine so intime wie archaische Geschichte zu erzählen, alles auf, was das Effekte-Kino zu bieten hat, aber er formt es sich so zurecht, dass es nicht nach Effekt aussieht, er stellt es nicht aus. Interstellar will ein kosmischer Autorenfilm sein: die Odyssee in wackeligen Close-ups, der „sense of wonder“ in verzerrten Videobotschaften, ein fast drei Stunden langes, atemloses Stürzen durch Raum und Zeit, das schließlich wieder bei sich selbst ankommt: in einem Raum voller Staub und Bücher, dort, wo die Träume der Menschheit geboren werden.

Eine eigentümliche Mischung ist das: Immer wenn der von vielen Jahrzehnten Überwältigungskino konditionierte Zuschauer Erhabenheit erwartet, schneidet Nolan auf den nächsten Dialog oder geht ganz nah an die Gesichter ran; immer wenn man denkt, dass sich jetzt aber endlich die Handlungselemente zu einem irgendwie einleuchtenden Ganzen vereinen müssen, zündet der Regisseur die nächste Stufe, als hätte er sich ständig gesagt: Wir sind noch nicht weit genug gegangen, schaut mal, was es da draußen noch gibt. Genau dafür wurde die Science-Fiction ja einmal erfunden.

Und in noch einer sehr wichtigen Weise nimmt Nolan das Genre ernst: Alles, was hier geschieht, geschieht in einer von bestimmten Gesetzen definierten Realitätsmatrix, die wir in Ermangelung eines anderen Begriffs „Universum“ nennen; alles, was in Interstellar geschieht, greift ganz konkret auf Theorien und Berechnungen zurück, die das abstecken, was die Menschheit heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, diesem Universum an Möglichkeiten zuschreibt. In diesem Universum ist es unser (betrübliches oder glückliches) Schicksal, dass wir mit Fragen konfrontiert sind, die wir, wie Kant es ausdrückte, „nicht abweisen, aber auch nicht beantworten können“, und die Science-Fiction hat sich, von Dick bis Nolan, dieser Konfrontation sportlich gestellt, indem sie das Metaphysische gerade so weit ins Physische zerrt, dass wir immer wieder neu eine Ahnung davon ins Menschheitsarchiv stellen können, wie weit uns die Möglichkeiten, die das Universum bietet, noch bringen können.

Interstellar versucht sich an einer solchen Ahnung und trägt, je tiefer Cooper ins „Irgendwohin“ fällt, immer schwerer an diesem philosophischen Gepäck. Dass der Film aber daran nicht zerbricht, ist nicht dem Emotionalen (zuweilen auch Sentimentalen) zu verdanken – obwohl es Nolan wohl mit dieser Absicht so konstruiert hat –, sondern der schlichten Erkenntnis, dass die Strukturen im Universum immer nur Prozesse sind. Dass wir alle, wie Cooper, immer unterwegs sind.

Ob die Menschheit eines nahen oder fernen Tages an dieser ewigen Reise verrückt werden wird oder es vielleicht schon ist – auch diese Frage ist noch nicht beantwortet.
 

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