1. August 2015

„Wenn ich nicht arbeiten kann, werde ich wahnsinnig“

Endlich auf DVD: Die Dokumentation „Dark Star – H. R. Gigers Welt“ zeigt den Künstler als Fixstern inmitten hilfreicher Satelliten

Lesezeit: 4 min.

Es muss etwas Magisches haben, den charmant ramponierten Reihenhauskomplex in Zürich-Oerlikon zu betreten, in dem H. R. Giger seit 1970 gewohnt hat. Versteckt hinter wildwuchernden Bäumen, ranken sich Pflanzen über freistehende Werke des Künstlers, während die Wohnräume zu einem Labyrinth aus Bildern, Büchern und Erinnerungsstücken verwachsen sind, durch das Außenstehende nur schwer hindurchfinden. Eine neue Dokumentation gewährt Einblicke in dieses faszinierende Universum und porträtiert neben dem Künstler auch jenes Sonnensystem an „Wahlverwandtschaften“, dessen Mitte der Fixstern H. R. Giger bildete.

Dass der Schweizer seine bedrängenden Bildwelten ausgerechnet hinter einer bürgerlichen Fassade hervorbrachte, mutet ironisch an, ist aber nur eine weitere Facette seiner Persönlichkeit. Er sei durchaus „ein ganz normaler Mensch“ gewesen, kommentiert beispielsweise Carmen Scheifele de Vega, deren Tochter Carmen Maria nicht nur Gigers langjährige Partnerin und zweite Frau war, sondern auch weiterhin die Leitung seines Museums in Gruyères innehat. Sie betont die Gegenwartsbezüglichkeit von Gigers gern als alptraumhaft verworfener Kunst und betont, er habe wie ein „Seismograph“ die Verhältnisse der Wirklichkeit wahrgenommen und umgesetzt: „Was mir am Hansruedi gefällt, ist, dass er am Zahn der Zeit ist.“ Als Beispiel nennt der Psychiater Stanislav Grof die Gentechnik, die sich in den Arbeiten von Giger wiederfindet. Grof hält ihn für einen „künstlerischen Berichterstatter“, dessen Werke nicht zuletzt „von der Dunkelheit in uns“ handeln: „Bilder vom Urgrund der Seele“, wie Carmen Maria Giger ausführt.

H. R. Giger
H. R. Giger (1940–2014)

Der herausragende, immer wieder kontemplative Momente zulassende Film von Regisseurin Belinda Sallin gewährt den Vertrauten Gigers viel Raum, um ein umfassendes Porträt des Künstlers zeichnen zu können. Sein langjähriger Assistent Tom Gabriel Fischer, der auch Musiker ist, betont zum Beispiel dessen Aufgeschlossenheit, da nur der „frisch gebackene Oscar-Preisträger H. R. Giger“ ihn und seine Band ernst genommen hätte. Andererseits führte Gigers Neigung, Ordnung für „spießig“ zu halten, zu überquellenden Beständen, die faktisch den gesamten Lebensraum durchdrangen.

„Im Backofen waren seine Socken und Unterhosen“, erzählt Sandra Beretta, seine Partnerin Mitte der 1990er Jahre, die Bücher aus der Wanne räumen musste, wenn sie mal ein Bad nehmen wollte. Andererseits lassen sich so in der aus drei Häusern bestehenden Anlage immer noch Entdeckungen machen, wie Assistent und Archivar Marco Witzig betont – und eine unbekannte Zeichnung aus dem Jahr 1960 vorzeigt: „Es ist fast, wie wenn man einen Schatz durchwühlt.“ 

Deutlich wird auch, wie manisch Giger über lange Jahre hinweg gearbeitet hat. Nach dem tragischen Suizid seiner Lebensgefährtin Li Tobler im Jahr 1975, die auf vielen der frühen Gemälde zu sehen ist, stand der Künstler unter „einem gewaltigen Schock“, den er „kaum bewältigen“ konnte. Die Malerei half, Abstand zu gewinnen, und geriet damit gleichsam zum Überlebensmittel. Auch Mia Bonzanigo, die erste Ehefrau, hat diese Seite erlebt. Als sie einmal krank war, konnte Giger damit nicht gut umgehen. „Es war so, dass er an meinem Bett saß und im Klartext sagte: ‚Wenn du krank wirst, kann ich nicht arbeiten, und wenn ich nicht arbeiten kann, werde ich wahnsinnig.‘“

H. R. Giger

Dass Gigers mit so viel Energie vorangetriebe Kunst um den universalen Kreislauf von Geburt, Sexualität und Tod bis heute kaum museale Anerkennung erfahren hat, bleibt ein erstaunliches Versäumnis. Das habe mit den Eigendynamiken von Kunstbetrieb und Populärkultur zu tun, erklärt der Kurator Andreas J. Hirsch: Der Millionenerfolg von Alien, der Giger praktisch über Nacht weltweit bekannt machte, passte nicht „zur Verfasstheit des Kunstbetriebs“. Erst in den jüngsten zehn Jahren sei eine „eine schrittweise Wiederkehr“ in diesen Bereich zu beobachten. 

Der Film lässt den Künstler wie seine Helfer zu Wort kommen, zeigt gemeinsame Aktivitäten und führt in beeindruckenden Kamerafahrten durch die Wunderkammern von Haus und Garten, wobei auch die legendäre Geisterbahn ins Bild kommt. Der biographische Überblick fällt etwas fragmentarisch aus, aber die immer wieder eingeblendeten frühen Originalaufnahmen – Fotos ebenso wie Filme – faszinieren dafür umso mehr. Man sieht etwa den jungen Giger bei der Arbeit, erfährt Anekdoten über die Produktion von Alien oder schaut beim Herstellen der ersten Poster zu. Der Kontrast zu dem körperlich sichtlich angeschlagenen Künstler der späten Jahre ist dabei nicht selten erschreckend. Trotzdem gibt es ein versöhnliches Resümee.

Bereits als kleiner Junge konnte H.R. Giger zeigen, dass er keine Angst vor dem Tod hatte, indem er einen Schädel an einem Band hinter sich herzog. Auch siebzig Jahre später gab er sich unerschrocken: „Ich glaube nicht an ein Weiterleben nach dem Tod.“ Seine Lebensbilanz fällt daher erfrischend diesseitig aus: „Das, was ich anschauen wollte, habe ich gesehen, was ich machen oder zeigen wollte, das habe ich gemacht. Viel mehr brauche ich nicht. Ich bin zufrieden mit mir.“ Die Dreharbeiten konnten kurz vor Gigers Tod am 12. Mai 2014 abgeschlossen werden.

Dark Star – H. R. Gigers Welt Regie: Belinda Sallin • 95 Min. • DVD • teilweise dt. untertitelt • ca. 16 bis 20 € je nach Anbieter

Ein Nachruf und eine Werkübersicht zu H. R. Giger finden Sie hier.
Alle Bilder Copyright © Columbus Film AG

 

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