19. Februar 2015 3 Likes 1

Der Tag, an dem der Terror stillstand

Was der Mond, die Medien und eine mögliche Zukunft miteinander zu tun haben – Eine Kolumne von Uwe Neuhold

Lesezeit: 5 min.

Stell dir vor, ein Attentat wird verübt – und niemand schaut hin. Stell dir vor, eine Bombe explodiert – und keine Kamera ist dabei. Stell dir vor, du wärst Terrorist – aber kein Schwein interessiert sich für die „Ware“, die du zur Schau stellst … Willkommen im Grenzgebiet zwischen Politik, Erkenntnistheorie und Quantenphysik!

„Steht der Mond auch am Himmel, wenn keiner hinschaut?“, erwiderte Albert Einstein ironisch auf Niels Bohrs „Kopenhagener Deutung“ der Quantenmechanik, wonach Ereignisse erst dann real existieren, wenn sie von einem Bewusstsein wahrgenommen werden. Im Vergleich zum Problem des globalen Terrorismus war diese Frage sogar leicht zu beantworten: Ja, der Mond existiert auch unabhängig vom direkten Anblick – weil er aufgrund seiner Größe und makroskopischen Eigenschaften ständig mit Teilchen der restlichen Welt wechselwirkt und dadurch „gemessen“ – also wahrgenommen – wird.

Die Rolle dieser Elementarteilchen wird in unserer Gesellschaft von den Medien übernommen: Sie sind zur Stelle, wenn ein Ereignis „in die Welt tritt“, sie nehmen es wahr, messen seine optischen und akustischen Schwingungen, übertragen es zu den „intelligenten Beobachtern“ und speichern es auf haltbaren Datenträgern, so dass es immer und immer wieder neu abgerufen werden kann.

Ein Freund aus Mazedonien fragte mich einmal: „Warum wird in deutschen und österreichischen Medien eigentlich so viel über Autounfälle berichtet?“ Er kannte diese Art der Berichterstattung kaum, bevor er hierher kam. Und in der Tat berichten bei uns Fernsehen und Zeitungen überdurchschnittlich häufig über Ereignisse, die eigentlich niemanden betreffen und interessieren sollten außer den wenigen Personen, die unmittelbar darin verwickelt waren. Was bezwecken solche Nachrichten?

Spätestens seit Neil Postmans Publikationen und Michael Moores Dokumentarfilm „Bowling for Columbine“ wissen wir, dass die Verbreitung von Angst und Unsicherheit die Bevölkerung sowohl zu braven Bürgern als auch verlässlich zahlenden Abonnenten und Konsumenten macht. Aber seither hat sich die Spirale von Sehen und Gesehenwerden sogar noch eine Stufe weitergedreht: Heute sind es nicht mehr nur die Medienprofis, sondern wir selbst, die mit Millionen Smartphone-Kameras Ereignisse festhalten und in sozialen Netzwerken verbreiten. Wir potenzieren dadurch Angst und Verunsicherung um einen gewaltigen Faktor. Jede Drohung – egal ob Bombenattentate, Finanzwarnungen oder klimawandelbedingter Meeresanstieg – wird dadurch sofort global. „Bad news are good news“ – dieser Redaktionsspruch gehört auch zum Einmaleins moderner Aktivisten und Terroristen. Denn schlechte Neuigkeiten bringen Aufmerksamkeit von Konsumenten und Finanziers – also schlicht und einfach das nötige Einkommen zum Überleben. Wie sollte es anders sein?

Es sollte anders sein. Hier ein paar Beispiele …

Ein Industrieökologe an der Harvard Business School of Public Health entwickelte ein System namens „Handabdrücke“: Statt alle schlechten Nachrichten über unsere ökologischen Fußabdrücke zu  verfolgen (Du nutzt zu viel Energie! Du isst zu viel Fleisch! etc.), gibt Handprinter unseren Einwirkungen auf die Umwelt eine positive Drehung, indem alles Gute, das wir tun, aufgezeichnet wird. So misst das Programm jede Handlung, die unseren CO2-Ausstoß senkt, und ermuntert dazu, öfter mal das Richtige zu tun. Denn die Welt steht besser mit uns da als ohne uns.

In diese Denkrichtung gehört auch der von Simon Anholt mitbegründete Good Country Index. Er vergleicht Staaten aus allen Teilen der Erde anhand ihrer Errungenschaften in wissenschaftlichen, kulturellen, ökologischen und ökonomischen Bereichen. (Wenn Sie noch nicht wissen sollten, welches Land ganz vorne liegt, besuchen Sie die Website – Sie werden überrascht sein!) Ziel dieses Index ist es, den Bürgern jener Länder auf den hinteren Plätzen einen Ansporn zu geben, an sich und ihrer Gemeinschaft zu arbeiten, um von anderen noch stärker positiv bewertet zu werden.

Bereits 1944 zeigte eine Studie der Psychologen Fritz Heider und Mary-Ann Simmel, wie Versuchspersonen beim Betrachten abstrakter, bewegter Objekte (Kreise, Vierecke etc.) automatisch Geschichten dazu erfanden, die dem Gesehenen – so zusammenhanglos es in Wirklichkeit auch war – einen Sinn gaben. Dies konnten nette, liebliche Stories sein, aber auch bösartige. 2001 enthüllten Gehirnscans aus Experimenten des University College London und des Kings College eine Aktivierung der temporo-parietalen Verbindung und des medialen präfrontalen Kortex während solcher Szenarien. Bemerkenswert hierbei war, dass dasselbe Gehirnnetzwerk beteiligt ist, egal ob man bewegte Formen oder geistige Zustände anderer betrachtet. Wir tendieren dazu, aus einzelnen Ereignissen Verbindungen zu erstellen und gute oder böse Geschichten zu konstruieren. So kann aus der Nachricht über eine Terrorserie schnell das Gefühl einer tendenziell feindlichen Bevölkerungsgruppe werden. Oder aus einer im Fernsehen beobachteten Katastrophe gleich eine allgemein gefährliche Zukunft, gegen die wir uns schützen zu müssen glauben.

Genauso könnten die Medien – und wir selbst – die Sache aber auch umdrehen, indem wir bei den Ereignissen verstärkt auf die andere Seite der Medaille  achten: Die Courage gewöhnlicher Menschen, die Harmlosigkeit der Meisten, die Suche nach Lösungen oder den Wissenschaftler als Helden. Gerade die Geschichten, die Helden erzeugen, sind wichtig, da sie durch den Mechanismus der „indirekten Reprozität“ einen guten Ruf begründen, der für die Entwicklung von Kooperation und als positives Rollenmodell entscheidend ist. Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist die Stiftung FUTURZWEI von Harald Welzer.

Warum also wird bei uns noch immer so oft über Autounfälle berichtet? Weil wir uns davon unterhalten lassen und zu solchen Medien greifen, die darüber berichten – anstatt uns sinnvolleren Dingen zu  widmen. So stärken wir Sensationslüsternheit und tragen zu  deren Verbreitung bei, bis man glaubt, die Welt bestünde nur noch aus Katastrophen. Stattdessen könnten wir Berichte lesen (und schreiben), die zwar ebenfalls davon handeln, aber das Geschehene in einen vernünftigen, lösungsorientierten Kontext setzen, ohne Gruseln oder Angst zu  schüren. Stell dir vor, es wird über einen Autounfall berichtet – und gleich auch über dessen technische oder psychologische Ursache, sowie über bauliche oder gesellschaftliche Lösungsansätze, die Bürger aktiv unterstützen können.

Weshalb reagieren wir auf Attentate noch immer mit Hass, Misstrauen und Gegengewalt? Weil die meisten Medien es in ihren Berichten bei Effekt und Emotion belassen, ohne die Hintergründe zu  beleuchten. Sie erfüllen damit das Werk genau jener, die sie damit zu bekämpfen vorgeben. Stell dir vor, du erfährst aus Zeitung oder dem Fernsehen von einem Attentat – und gleich darauf auch dessen Vorgeschichte bis zum politischen Kern des Problems. Du erkennst, in welchen statistischen Kontext das Geschehen wirklich einzuordnen ist (handelt es sich tatsächlich um eine Katastrophe oder, angesichts täglicher Kriegs- und Unfalltoter, um ein Ereignis, das mehr Aufmerksamkeit erhält als ihm zusteht?). Was hilft es uns, trauernde Menschen in anderen Ländern zu sehen und zu empörter Reaktion angestachelt zu werden, solange wir die Verzweiflung und Perspektivenlosigkeit von Mitmenschen in unserer nächsten Umgebung ignorieren? Was hilft es einem Terroristen, ein Attentat zu verüben, wenn er damit keine Unterstützer mehr findet?

Stell dir die Nachricht ohne Geschrei vor. Stell dir Reporter vor, die von den zahlreichen Beispielen gelungener Integration, gestarteter Umweltprogramme und zukunftsorientierter Dialoge berichten. Stell dir entsprechende Aktivitäten vor, an denen du dich beteiligst.

Der Mond steht tatsächlich am Himmel. Probleme existieren tatsächlich auf Erden. Aber stell dir eine nahe Zukunft vor, in der ein Ereignis als das wahrgenommen wird, was es ist: eine Chance, unsere Welt zu verbessern.
 

Uwe Neuhold ist Autor und bildender Künstler, der sich insbesondere mit naturwissenschaftlichen Themen befasst.

Kommentare

Bild des Benutzers Horusauge

Ein sehr guter Denkansatz, danke. Möge er auf gedeihlichen Boden stoßen.

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