23. Dezember 2016

Die verschollene Akte

Eine exklusive Bonusstory aus dem „Giants“-Universum

Lesezeit: 6 min.

2016 begeisterte uns Sylvain Neuvel mit seinem spannenden Techno-Thriller „Giants“ (im Shop), in dem ein gewaltiger Alien-Roboter die Welt in Aufruhr versetzt – Lügen, Intrigen und Verschwörungen inklusive.

Eine der genialsten Figuren Neuvels ist der geheimnisvolle Unbekannte, der im Hintergrund die Strippen zieht und die anderen Charaktere der Geschichte wie Marionetten nach seinem Willen tanzen lässt. Auch in „Die verschollene Akte“, einer exklusiven Bonusstory zu „Giants“, schmeichelt, droht und manipuliert der mysteriöse Mr. X wieder nach Herzenslust.

Die Story steht Ihnen ab heute als kleiner Weihnachtsgruß von Sylvain Neuvel an seine deutschen Leser zur Verfügung. Viel Spaß beim Lesen und Ho Ho Ho!

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FILE 247

Gespräch mit Lieutenant Colonel Gregor Langden,
Aufseher im Militärgefängnis Fort Carson

Ort: Fort Carson, Colorado

 

Was machen Sie hier? Sie sagten, wir wären quitt. Sie sagten, ich wäre raus!

Zugegeben, es wäre nicht völlig untypisch für mich, ein Versprechen zu brechen, sollten die Umstände es erfordern -auch wenn ich es möglichst vermeide. Meiner Meinung nach sind solche Begegnungen ergiebiger, wenn man den Ruf hat, zu seinem Wort zu stehen. Abgesehen davon kann ich mich nicht erinnern, je gesagt zu haben, wir wären quitt, oder angedeutet zu haben, ich benötigte Ihre Dienste nicht mehr.

Die Abmachung war: Ich halte den Mund. Ich übernehme diesen miesen Job und kriege keine Schwierigkeiten. Das habe ich getan. Okay, ich verdiene mir manchmal ein bisschen was nebenher. Wer tut das nicht? Die kriegen ihren Scheiß so oder so hier reingeschmuggelt. Da kann ich genauso gut ein bisschen dran verdienen, oder? Ich schade niemandem damit. Ich habe mir hier ein Leben aufgebaut. Das will ich nicht verlieren.

Keine Sorge, es besteht in keiner Weise die Gefahr, dass Sie von hier wegmüssen. Aber die Rolle, die Sie in dieser Einrichtung spielen, ist ein Kompromiss, eine Abwägung Ihres Nutzens gegen die Schwere Ihrer Verstöße.

Verdammt, was soll das denn heißen?

Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass es von Ihrer Nützlichkeit abhängt, auf welcher Seite der Gitterstäbe Sie sich wiederfinden. Außerdem ist Ihre Reaktion übertrieben, schließlich habe ich Sie um nichts gebeten.

Tja, Sie sind aber hier.

Allerdings. Ich bin gekommen, um Ihnen zu gratulieren, dass Sie Ihre Aufgabe so gut erfüllt haben. Obwohl man bei Ihrer Berufung daran gezweifelt hat, dass Sie diese Einrichtung unter Einhaltung des Budgetrahmens betreiben können, haben Sie es geschafft, die Kosten erheblich zu senken, ohne dass die Beschwerden der Gefangenen oder die gewalttätigen Zwischenfälle angestiegen wären. Allem Anschein nach haben Sie in den letzten Jahren trotz der anfänglichen Kritik bewundernswerte Arbeit geleistet.

Ah … Danke. Das weiß ich zu schätzen.

Aus diesem Grund finde ich Ihre Entscheidung, einen gewalttätigen Insassen freizulassen, sehr überraschend. Haben Sie keine Angst vor den Konsequenzen, die unvermeidlich folgen werden? Obwohl ich …

Ich habe nicht …

Ich war noch nicht fertig. Obwohl ich Ihr Bestreben, die Finanzen dieser Einrichtung in Ordnung zu bringen, verstehe, ist es ein Unterschied, ob man einen harmlosen Gefangenen, der wahrscheinlich nicht rückfällig werden wird, freilässt oder einen Soldaten, der einen Anschlag auf das Leben eines Kameraden verübt hat. Ich bin ziemlich sicher, dass ich nicht der Einzige bin, der diesen Untersch…

Das kann nicht wahr sein. Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist. Als ich Ihnen das letzte Mal geholfen habe, wäre ich beinahe getötet worden.

Sie wurden aber nicht getötet. Warum beschweren sich die Leute immer über Ereignisse, die nicht eingetreten sind? Sie sind beinahe zu spät gekommen. Ja. Das nennt man Pünktlichkeit. Ich hätte beinahe die Anstellung nicht bekommen. Herzlichen Glückwunsch zum neuen Job!

Das kann ich nicht machen! Das hier ist keine Frühstückspension. Ich kann nicht einfach den Schlüssel umdrehen und Leute rein und raus lassen, wie es mir gefällt. Es gibt Formalitäten. Kommt Ihr Mann überhaupt für eine vorzeitige Entlassung infrage?

Weiß ich nicht. Aber ich hoffe es sehr, sonst wird die Hölle los sein, wenn Sie ihn nach Hause schicken. Ich wollte noch etwas sagen, bevor Sie mich unterbrochen haben. Jetzt habe ich den Faden verloren. Ach ja. Ich wollte sagen, wie sehr ich Ihre Bereitschaft bewundere, dem Sturm zu trotzen, der ohne Zweifel auf Sie zukommen wird, und trotz aller Widrigkeiten zu Ihren Prinzipien zu stehen.

Ich möchte Ihnen ja helfen. Das wissen Sie doch. Schließlich habe ich Ihnen schon mal geholfen. Ich habe Dinge für Sie getan. Dinge, die vermutlich nicht viele Leute getan hätten, aber das geht nicht! Sie wissen, dass ich das nicht machen kann.

Ich könnte Sie beteiligen. Zehn Prozent? Eine Art Pensionsfond. Ich kann Ihren Mann nicht freilassen, aber es gibt keinen Grund, warum ich Ihnen nicht auf andere Weise helfen sollte.

Nein, Sie sind nicht so. Okay, ich höre auf! Wie wär’s damit? Nichts kommt mehr hier rein. Ich verspreche es Ihnen. Nicht mal Gras. Das wird der sauberste Knast, den Sie je gesehen haben. Das ist gut, oder?

Sagen Sie doch irgendwas.

Hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, Gregor.

Warten Sie …

Worauf genau soll ich warten?

Das war’s?

Ich wollte Ihnen zu etwas gratulieren, von dem Sie mir jetzt sagen, dass Sie es nicht getan haben und auch nicht tun werden. Offenbar habe ich mich in Ihnen getäuscht, und dafür entschuldige ich mich. Gibt es sonst noch etwas, über das Sie sprechen möchten?

Äh … Nein.

Ja, dann war’s das.

Also nehmen Sie es mir nicht übel?

Warum sollte ich?

Ich weiß nicht, ich …

Halten Sie mich für introvertiert?

Bitte, was?

Wir kennen uns noch nicht sehr lang, aber haben Sie in der kurzen Zeit, die wir miteinander verbracht haben, den Eindruck gewonnen, ich wäre introvertiert? Ein zurückhaltender Mensch? Vielleicht hatten wir zu selten miteinander zu tun, als dass Sie sich eine Meinung …

Nein, ich glaube nicht, dass Sie introvertiert sind.

Dann halten Sie mich vielleicht für einen Heuchler?

Was? Nein! Warum?

Vielleicht interpretiere ich Ihr Verhalten falsch, aber Sie scheinen sich unwohl zu fühlen … ängstlich, so als fürchteten Sie Vergeltung. Wenn ich in irgendeiner Form verärgert wäre und Sie bestrafen wollte, wenn ich mir wünschte, dabei zuzusehen, wie Ihr Leben auf einzigartige und amüsante Weise zerstört würde, würde ich es Ihnen dann nicht sagen? Ich würde diese Gefühle nur für mich behalten, wenn ich übermäßig schüchtern oder ein Heuchler wäre. Da Sie keines von beidem glauben, können Sie davon ausgehen, dass ich es Ihnen sagen würde, wenn Sie in Gefahr wären. Und nun habe ich Ihre Gastfreundschaft schon überstrapaziert.

Warten Sie. Warten Sie.

Ja, Gregor?

Kann ich wenigstens ein Auto bekommen?

Ich finde Leute, die andere bitten, etwas zu wiederholen, das sie bereits eindeutig gehört haben, äußerst enervierend, aber allmählich verstehe ich das Bedürfnis.

Ich hätte gern ein Auto. Ein gutes. Vielleicht einen Porsche?

Einen Porsche?

Ja.

Ein bestimmtes Modell oder eine bestimmte Farbe?

Weiß nicht. Da habe ich noch nicht richtig drüber nachgedacht.

Rot könnte ein bisschen zu protzig sein. Vielleicht einen Porsche Carrera in Silbermetallic?

Sylvain Neuvel: GiantsJa! Das wäre toll.

Ich muss sagen, von allen widerwärtigen Charaktereigenschaften bei Männern Ihres Schlages ist mir Berechenbarkeit bei Weitem die liebste.

Was?

Auf Wiedersehen, Gregor.

Warten Sie! Warten Sie! Wen soll ich freilassen? Wie heißt der Mann?

Chief Warrant Officer Ryan Mitchell. Und ich brauche ihn noch heute.

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Sylvain Neuvels Roman „Giants“ ist im Shop erhältlich.

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