24. März 2016 4 Likes

Im Bunker

„Das Gedankengefängnis“ erzählt von einer Gesellschaft, die sich selbst eingemauert hat

Lesezeit: 42 min.

Wir leben in schwierigen Zeiten. Ja, zuweilen scheinen sie geradezu klaustrophobisch – als könnten wir Gewalt und Terror gar nicht mehr entkommen. Aber es gibt immer ein „Außen“. Davon erzählt Michael Coney, Autor so wunderbarer Romane wie „Der Sommer geht“ und „Erinnerungen an Pallahaxi“, in seiner Story „Das Gedankengefängnis“ … Wir wünschen Ihnen allen schöne und vor allem friedliche Ostertage!

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Michael Coney

Das Gedankengefängnis
 

Etwa fünfzig Meilen östlich der Kontinentalmasse schiebt sich eine Insel aus grauen Betontürmen durch die Oberfläche des Meeres. Sie wird von ihren bleichhäutigen Bewohnern Festive genannt, ein fröhlich klingender Name, der dem gefängnisartigen Aussehen der hohen, fensterzernarbten Wände, die sich abrupt aus dem Meer erheben und jeden Quadratfuß der Insel einschließen, Hohn spricht.

Von den älteren Bewohnern wird behauptet (alle älteren Bewohner zu allen Zeiten haben die Behauptung aufgestellt, mehr Wissen zu besitzen als die jüngeren), dass der Name Festive eine Verballhornung von Fallout Shelter Five sei; ein sonderbarer Name, dessen Herkunft, genau wie die originalen Dokumente, in der Vorzeit verloren gegangen ist. Vorzeit bedeutet einen sehr langen Zeitraum; viele Generationen, viele Aufstände, ein paar kleine, doch sehr verlustreiche Bürgerkriege und ein langsames, doch unaufhaltsames Aufsteigen von unterirdischen Höhlen durch Fels und Geröll zum Oberflächenniveau. Dann, im Lauf weiterer Jahre wurden die Mauern errichtet, immer höher, jede Kammer sorgfältig von der giftigen Außenluft abgeschirmt, von Männern in luftdichten Arbeitsanzügen, die aus dem riesigen Generatorraum unter der See mit Sauerstoff versorgt wurden. Wie die Primitiven der Vorzeit waren auch sie von der Höhle in ein Haus gezogen.

Als der Schein der untergehenden Sonne die Türme vergoldete, kehrten die Tauben von Westen zurück, schwirrten in kleinen Schwärmen über das Meer – wie Schrotkugeln vor dem rötlichen Himmel –, gingen höher, um die Außenmauern zu überfliegen, und rauschten über das flache Dach der Kommune. Hier und dort wichen sie zur Seite aus, um nicht gegen neue Aufbauten zu fliegen, neue Raumzellen, die aus der Fläche des Daches wuchsen, doch wenn sie daran vorbei waren, gingen sie sofort wieder auf ihren alten Kurs zurück und flogen zum Zentrum der Insel-Stadt.

Plötzlich bremsten sie ab, hingen mit schwirrenden Schwingen in der Luft, die Krallen vorgestreckt, die Schwanzfedern gefächert, dann ließen sie sich in einen quadratischen Schacht von etwa zwanzig Fuß Durchmesser fallen und schwebten zwischen den Wänden in die dunkle Tiefe …

 

Ein alter Mann saß allein in seinem winzigen Zimmer, die knotigen Hände ruhig im Schoß gefaltet und die Augen geschlossen, als er von besseren Zeiten träumte, die er nie erlebt hatte. Das Flattern der Vogelschwingen schob seine Träume beiseite, er stand steifbeinig auf, massierte kurz seine Oberschenkel und stieg dann vorsichtig auf den kleinen Steinhaufen, der in einer Ecke des Raums lag und wie Bauschutt wirkte.

Er zog eine Gummimaske über seinen Kopf, streckte seine Hände zur Decke und schob den Riegel eines Oberlichts zurück. Dann drückte er die kleine Klappe auf, die Tauben flatterten ins Zimmer, er riss die Klappe wieder zu und kletterte von dem Steinhaufen auf den Boden. Erst nachdem mehrere Minuten vergangen waren, nahm er die Maske ab. Er schnüffelte misstrauisch, dann nickte er befriedigt und betrachtete die Vögel.

Es waren elf Tauben, und sie hockten auf einer improvisierten Sitzstange aus einem galvanisierten Rohr, das er über einen rohen Tisch gelegt hatte! Der Mann blickte eine Taube nach der anderen prüfend an, und sie blickten mit starren Augen zurück.

Er seufzte und kniete sich vor einen rechteckigen, emaillierten Kasten, der unter dem Tisch stand, blickte ein paar Sekunden lang auf die Skalen und schaltete die Tauben ab.

 

Sie saßen in der winzigen Ess-Ecke von Sektion 13, die von rohen Steinwänden eingefasst wurde. Das Gesicht des Mädchens war angespannt, flehend; sie lehnte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf die des Mannes. Es war völlig still in dem kleinen Raum, und sie sprach sehr leise.

»Ich kann nicht ewig warten, David«, sagte sie. »Ich bin dreiundzwanzig. Prinzipien sind gut und schön, aber wir leben nach ihnen, nicht von ihnen. Verstehst du das nicht? Ich liebe dich. Ich will, dass wir heiraten. Das ist doch ganz einfach.«

Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes verriet eine Mischung von Sehnsucht und Starrsinn; er umschloss die Hand des Mädchens, starrte jedoch auf die Tischplatte zwischen ihr und sich und zog mit seiner freien Hand abstrakte Muster auf die raue Oberfläche.

»Es ist nicht ganz einfach«, sagte er ruhig. »Ich bin seit meiner Kindheit Mitglied der Stabilisations-Partei. Du nicht. Du kannst das nicht verstehen, Jillie … Okay, ich liebe dich auch. Aber wir können nicht heiraten.« Er hob seinen blonden Kopf und starrte sie mit plötzlicher Verzweiflung an. »Begreifst du nicht, was mit Festive geschehen wird, mit uns allen, wenn die Bevölkerung weiter zunimmt wie bisher? Ich wundere mich, dass der Rat noch kein entsprechendes Gesetz erlassen hat.«

»Ich habe nur vom Heiraten gesprochen, David«, sagte Julie niedergeschlagen. »Von Kindern war keine Rede.«

»Aber sie sind die Folge, nicht wahr? Ich habe es doch einige Male erlebt. Wenn zwei Menschen zusammenleben, bekommen sie sehr bald Kinder. Mein Gott, wenn diese Idioten nur begreifen würden, was geschieht. Wenn jede Frau in Festive in einem bestimmten Jahr werfen würde, wäre die Bevölkerung am Ende dieses Jahres auf das dreifache angewachsen, bei einem Durchschnitt von sechs Babys pro Wurf, und das ist eine konservative Annahme.«

»Jane Dunkerley hatte beim letzten Mal nur zwei Babys. Nur zwei … niedliche kleine Jungen.« Sie konnte den sehnsüchtigen Ton in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

David blickte ihr direkt in die Augen. »Also denkst du doch an Kinder«, sagte er anklagend. »Ihr Frauen seid doch alle gleich, sexbesessen. Ihr wollt einen Mann niemals um seiner selbst willen. Für euch ist er nur ein mobiler Phallus. Mein Gott, ich frage mich manchmal, was es zwischen dir und dem alten Jeremiah gibt. Er muss doch mindestens siebzig sein, und du hängst ständig bei ihm herum.«

Wut trieb ihr die Röte ins Gesicht. »Jeremiah ist ein netter, alter Mann. Er ist interessant und weiß eine Menge. Und er ist einsam in seinem winzigen Zimmer, mit keiner anderen Gesellschaft als seinen Tauben. Ich mag ihn«, schloss sie trotzig.

David erhob sich, eine abschließende Geste. »Das mag so sein. Aber ich werde dir etwas sagen, was er nicht weiß. Wahrscheinlich wird er seine Tauben nicht mehr lange fliegen lassen können.«

Jillie stand ebenfalls auf. »Was meinst du damit?«

»Er kann sie nicht mehr fliegen lassen, wenn über seinem Zimmer neue Räume gebaut werden, nicht wahr?«

»Du willst über Jeremiahs Zimmer bauen?«, fragte sie entsetzt.

»Anordnung vom Wohnungskomitee.« Er zuckte die Schultern. »Tut mir leid, Julie. Mir macht mein Job nicht immer Spaß, musst du wissen. Aber es ist vernünftig. Fünf Jahre lang haben wir den Raum über ihm ausgespart, nur weil er ein Original in diesem Sektor ist und aus Mitgefühl. Jetzt ist der ganze Komplex um ihn herum hochgezogen worden. Wenn man einen Schutzanzug anzieht und auf dem Dach steht ist alles eben und luftdicht, bis auf diesen Schacht, der drei Etagen tief zu Jeremiah führt. Alles, was wir brauchen, ist ein mittleres Erdbeben, und die Atmosphäre dringt herein. Die ganze Situation ist sehr instabil.«

»Könntet ihr ihn nicht oben in einem der neuen Räume unterbringen?«

»Du weißt genauso gut wie ich, dass er nicht umziehen will. Außerdem legen wir die Jüngeren nach oben, wo die Oberlichter sind. Sie brauchen Licht, um kräftig zu werden, genau wie die Hydrokulturen tief unten. Und das Gesundheitskomitee sagt, dass Sonnenlicht besser ist als künstliches.« Er erschauerte bei dem Gedanken an die Sonne und die damit verbundenen Begriffsinhalte von Draußen und Atmosphäre.

Jillie blickte ihn prüfend an; sie wusste, was er dachte und empfand ein protektives Mitleid. »Komm, Darling«, sagte sie ruhig. »Wir wollen unten Spazierengehen und uns die hydroponischen Felder ansehen.« Obwohl sie nicht von der Angst besessen war, unter der mehr als die Hälfte der Bevölkerung litt, konnte sie nachfühlen, was es ihn jedes Mal kostete, wenn seine Aufgaben als Wohnungsbauleiter ihn zwangen, einen Schutzanzug überzuziehen und oben auf dem Dach ins Freie zu treten.

 

An diesem Abend saß Jillie in Jeremiahs Zimmer, und er sprach von seinen Tauben und dem Himmel.

»Ich weiß, dass es ein nutzloses Hobby ist«, sagte er und lehnte sich in seinem angekippten Stuhl zurück, so dass er das Oberlicht sehen konnte und weit darüber ein Quadrat tiefen Indigos, das mit Sternen übersät war. »Es macht mir eben Freude, sie in die Welt hinauszuschicken und mich zu fragen, was sie sehen mögen, sie zu beobachten, wenn sie zurückkommen. Es ist fast, als ob ich bei ihnen wäre, frei unter dem Himmel, hoch über dem Blau des Meeres schwebend …« In seine alten Augen trat ein verträumter Ausdruck. Er starrte zu der kleinen Glasscheibe hinauf.

»Hast du schon einmal eine von ihnen verloren, Jeremiah?«, fragte sie.

Ein Schatten zog über sein Gesicht. »Zu Anfang hatte ich achtundvierzig«, sagte er traurig, »vor vielen Jahren. Ich glaube, dass sie nach einiger Zeit abgenutzt sind und ins Meer stürzen.«

»Woher stammen sie eigentlich?«

Er lächelte. »Du stellst viele Fragen, Jillie. Ich habe sie in einer Kiste entdeckt, zusammen mit einem Buch, tief unten in einem der Räume, die bei dem Aufstand von ’37 ausgebrannt sind. Eine starke Metallkiste, die das Feuer überstanden hat …« Er stand langsam auf und ging durch den Raum zu einer Tür. »Ich werde sie dir zeigen …«

Als er zurückkam, sprang Jillie auf, um ihm zu helfen; die Kiste war groß und schwer. Sie setzte sie zu Boden, und Jeremiah klappte den Deckel auf. In der Kiste befanden sich mehrere Lagen kleinerer Schachteln und ein großes Fach, das wahrscheinlich das Bedienungsgerät enthalten hatte, wie Jillie annahm. Der alte Mann löste ein schmales Heft aus auf der Innenseite des Deckels angebrachten Klammern. »Sieh es dir an«, sagte er drängend, von ihrem Interesse ermutigt.

Sie las langsam, mühsam, laut. »Elek… Elektronischer Tauben-Bausatz … ein lehrreiches Hobby für alle Altersgruppen. Komplett mit Bedienungsgerät und achtundvierzig Robot-Tauben, perfekten Repliken von Vögeln, die nur noch in Teilen Antarktikas leben. Fülle den Himmel wieder mit dem Geräusch von Flügelschlägen. Trotze der Umweltverschmutzung, was den Vögeln nicht gelungen ist – jede Taube ist garantiert rostbeständig. Benutze sie als Nachrichtenboten für Mitteilungen an deine Freunde.«

Sie lächelte. »Ist das der Grund, warum du sie fliegen lässt? Hoffst du, Nachrichten von draußen zu erhalten?«

Er wich ihrem Blick aus. »Natürlich nicht. Es weiß doch jeder, dass es außer uns keine Menschen mehr gibt. Sie haben dieses Ding beim Rat, ein Radio. Es funktioniert etwa so wie mein Bedienungsgerät für die Tauben.«

Er schwieg und trommelte nervös mit den Fingern auf die Kiste, während der Raum von einem kleinen Erdstoß erzitterte. Dann fuhr er fort: »Früher konnte man damit Nachrichten empfangen, sagen sie. Aus allen Teilen der Welt. Ich weiß nicht, ob man das glauben soll oder nicht, aber das ist es, was sie behaupten …« Er sagte es fast hastig.

Julie blickte ihm in die Augen. »Du glaubst wirklich an Draußen, nicht wahr, Jeremiah? Du bist wirklich überzeugt, dass es etwas außer Festive gibt.«

»Wäre ziemlich sinnlos, wenn es nicht so wäre, wie?«, murmelte er. Er klemmte das Heft wieder an seinen Platz und schloss den Deckel der Kiste, blieb jedoch davor knien.

»David würde es nicht passen, wenn er dich so reden hörte«, bemerkte sie. »Er ist ein Stabilisator. Für ihn gibt es nichts außer Festive.«

»Aber wir wissen doch, dass es etwas anderes gibt«, protestierte der alte Mann. »Sie haben noch immer ein paar von den alten Landkarten. Wir wissen genau, wo wir uns befinden.«

»Das meine ich nicht. David gibt zu, dass es etwas anderes gibt, doch er sagt, wir sollen es vergessen, weil es uns nichts nützt; wir können das andere nicht erreichen, weil wir dazu nach Draußen gehen müssten, in die Atmosphäre. An andere Orte und Länder zu denken, ruft nur Unzufriedenheit hervor, sagt er.«

»Und was sagst du, Julie?«, fragte Jeremiah leise.

Julie lächelte unschuldig. »Ich sage, lasst uns an andere Orte denken, und eines Tages können wir sie vielleicht auch erreichen. Hast du nicht gewusst, dass fast alle Frauen so denken? Vielleicht sind wir unlogisch.«

Der alte Mann blickte sie ein paar Sekunden sehr aufmerksam an, und sie dachte, dass er etwas sagen wolle; doch er schüttelte nur schweigend den Kopf und stemmte sich langsam, schwerfällig auf die Füße.

Als Julie aufsprang und ihm helfen wollte, berührte sein Arm unabsichtlich ihre Brüste; sie fuhr zurück und erschauerte, als ihr Körper von Wogen des Verlangens überflutet wurde. Sie presste die Hände auf ihren Magen, zwang sich zur Selbstbeherrschung, seine Nähe zu meiden, ihr Verlangen durch ihre Gedanken niederzukämpfen: an hydroponische Pflanzen, an Tauben, Felsen, Meer, Himmel, irgendetwas …

Und während sie so stand, begann die Gestalt des jungen Mannes, den sie vor sich sah, sich zu verändern, das Gesicht wurde länger, faltig, der kräftige Körper welkte, die Schultern sanken ein.

Der alte Jeremiah blickte sie traurig an. »Nicht ich, Jillie«, sagte er sanft. »Und auch nicht viele von den anderen Männern in dieser Zeit, fürchte ich. Schade …«

 

Eine Woche später sagte David zu ihr: »Jillie, ich möchte, dass du mich zu Jeremiah begleitest.« Sie gingen zwischen den hydroponischen Feldern hindurch, tief unten, viele Meter unterhalb des Meeresspiegels. Die Luft war feucht, und das Licht der Leuchtbatterien heizte sie auf wie eine tropische Sonne. Jillie fühlte Schweiß über ihr Gesicht und ihren Körper rinnen. Sie wandte ihren Kopf ab, damit er nicht ihr Gesicht sehen konnte. Sie war Jeremiah während der ganzen Woche aus dem Weg gegangen, weil sie sich schämte.

»Warum?«, fragte sie.

Ein Arbeiter in einem schwarzen Hemd kam ihnen langsam entgegen und besprühte die Pflanzen. Er blickte auf, und als er Jillie sah, verzog sich sein faltiges, bleiches Gesicht zu einem zahnlosen Grinsen. Wie zufällig trat er auf seinen Schlauch, und als seine Hand durch die plötzliche Spannung zuckte, sprühte ein warmer Wasserstrahl über ihr Kleid und ihre Beine.

David zog es vor, den Zwischenfall zu ignorieren; Frauen gingen auf eigene Gefahr in die Tiefenregion von Festive. »Ich muss ihm beibringen, wie unser nächstes Bauprogramm aussieht«, erklärte er. »Der Rat hat den Beschluss des Komitees gestern ratifiziert. Es hat keinen Sinn, deshalb sentimental zu werden. Wir müssen nun einmal über Jeremiahs Zimmer bauen. Gestern Nacht war wieder ein leichtes Beben«, schloss er wie zur Begründung.

Sie wollte protestieren, als David plötzlich ihren Arm packte. »Hörst du es auch?«, murmelte er.

Ein mattes Echo; ein vager, hoher Schrei drang in ihr Ohr, von irgendwo auf der anderen Seite des riesigen Raums. Er stieg und fiel, stieg und fiel, ein Heulen mehrerer Stimmen, ohne erkennbare Worte, doch mit einem Ausdruck unendlicher Traurigkeit.

»Läufer!«, flüsterte David. »Komm, wir müssen von hier verschwinden!«

Sie liefen über den schmalen Gang zwischen den Tanks, halb gebückt, so dass sie teilweise von den hohen Stahlwänden und den Pflanzen verdeckt wurden. Das Heulen klang näher, irgendwo zwischen ihnen und dem Treppenhaus. David blieb plötzlich stehen, hockte sich auf die Knie und zog Julie ebenfalls zu Boden.

Sie hockte neben ihm und fühlte sich nackt und verwundbar in dem langen Gang. Sie starrte zwischen Pflanzenbüscheln hindurch in die Richtung, aus der das jammernde Heulen kam, und dann sah sie sie: sechs Köpfe bewegten sich auf- und abzuckend oberhalb der Pflanzen, als die Läufer einen Gang entlangtrabten, der im rechten Winkel zu dem ihren verlief und ihn etwa dreißig Yards vor ihnen kreuzte. Sie hielt die Luft an, als sie diese Kreuzung erreichten, und ihr ununterbrochenes, jammerndes Geheul jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Dann kamen sie ganz in ihr Blickfeld, als sie über die Kreuzung trabten, und aus irgendeinem Grund schwenkten sie dort geschlossen herum, wie Jeremiahs Taubenschwarm, und kamen nun direkt auf sie zu.

Sie sprang auf. David ebenfalls. »Lauf! Ich halte sie auf«, rief er und wandte sich den Läufern zu, die schneller rannten, als sie die beiden entdeckten, und ihr Heulen steigerte sich zu einem gellenden Gebrüll von Erwartung und Triumph. Sie trugen dunkle Overalls, und ihre nackten Füße klatschten auf den feuchten Beton des Gangs, als sie auf die beiden zustürzten, einen irren Glanz in den Augen, die Münder weit aufgerissen und schreiend.

Jillie schwang sich über die niedrige Tankwand und lief über die hydroponischen Felder; verfilzte Wurzeln umklammerten ihre Füße. Sie verlor einen Schuh, taumelte jedoch weiter. »Komm, David!«, schrie sie über ihre Schulter zurück und sah, wie der sich aus der über ihn herfallenden Meute freischlug, sich über die Tankwand schwang und ihr folgte. Die hohe Decke echote die Schreie ihrer Verfolger; kurz darauf hatte David sie eingeholt, packte ihren Ellbogen und zerrte sie voran.

»Wir können es zum Zentralschacht schaffen«, sagte sie keuchend. »Da ist ein Luk …« David antwortete nicht, sondern deutete schweigend nach links.

Ihr Blick war in die dampfverhangene Ferne gerichtet gewesen, auf den metallisch glänzenden, zylindrischen Schacht, der sich zwischen den Tanks erhob und durch die Decke verschwand, doch jetzt wandte sie den Kopf in die von ihm angegebene Richtung.

Eine Erntemaschine kam auf sie zu.

Ein riesiges Rechteck aus Stahltrichtern, unter denen blitzende Klingen rotierten, überspannte die ganze Breite des Tanks; sie hing an Ketten von der Decke herab und bewegte sich zwischen zwei Führungsschienen, die auf den Tankwänden saßen. Rasselnd und knirschend schleuderte sie einen smaragdfarbenen Katarakt abgeschnittener Blätter und Triebe in die riesigen Trichter, während sie unaufhaltsam auf sie zu rollte.

»Weiter! Wir können es schaffen!«, schrie David.

Jillie torkelte weiter, sie weinte vor Angst und Erschöpfung; inzwischen hatte sie auch den anderen Schuh verloren, und die groben Wurzeln der Pflanzen schnitten grausam in ihre Füße. Die Maschine war sehr nahe; sie versuchte, nicht die langen, scharfen Klingen zu sehen, die in dem harten Kunstlicht aufblitzten. Über dem Lärmen der Maschine hörte sie undeutliche Entsetzensschreie hinter sich. Irgendetwas Hartes, Unnachgiebiges schlug gegen ihr Schienbein, sie stürzte vornüber und stieß einen Schrei aus. Sie lag reglos, die Hände auf die Ohren gepresst. Der Boden war hart und trocken.

»Alles in Ordnung, Jillie.« David umklammerte ihren Arm und zog sie auf die Füße. Zitternd stand sie auf und lehnte sich an ihn.

Sie waren in einem Gang, außerhalb des Tanks; sie hatte den Rand nicht gesehen und war darüber gestolpert. Die Erntemaschine befand sich auf ihrer Höhe und sie sah mit hypnotischer Faszination zu, wie sie die Läufer erreichte, die sich in der Mitte des Feldes befanden.

Offenbar hatte ihr Irrsinn ihre Geistesgegenwart nicht ganz ausgelöscht. Fünf Männer warfen sich flach in Wasser und Pflanzen. Der sechste jedoch wich rückwärts vor den Klingen zurück, die Arme ausgestreckt, als ob er sie abwehren wollte; sein Mund war aufgerissen, doch sie hörte keinen Schrei. Plötzlich warf er sich herum und wollte weglaufen. Die Klingen erwischten ihn dicht oberhalb der Knie.

Starr vor Entsetzen sah Jillie, wie ein zusammengekrümmter, beinloser Körper in einen der Trichter geschleudert wurde. David zerrte sie weiter.

»Schnell!«, schrie er durch den Lärm der Maschine. »Sie werden wieder hinter uns her sein, sobald die Maschine über sie hinweggerollt ist.« Er begann zu laufen und zog sie mit sich.

Sie stolperte neben ihm her, und sie erreichten, völlig außer Atem, den Zentralschacht. David drehte das Stahlrad nach rechts und schwang das Luk auf. Ein Schwall heißer, stinkender Luft fuhr ihnen ins Gesicht. »Hinein! Schnell!«, drängte er. »Ich verriegele das Luk hinter dir und versuche, zum Treppenhaus zu laufen!«

Sie blieb zögernd stehen, einen Fuß auf der untersten Sprosse, und der scharfe, nach oben gerichtete Durchzug wirbelte ihr durchnässtes Kleid über ihren Kopf. »Kommst du nicht?«, fragte sie kaum verständlich. Während sie sich mit einer Hand an einer höheren Runge festhielt, zog sie mit der anderen das nasse, klamme Material von ihrem Gesicht und blickte ihn besorgt an.

Sein Gesichtsausdruck war eine seltsame Mischung von Angst und Verlangen; er starrte auf ihre Beine. »Der Schacht ist oben offen und führt in die Atmosphäre«, murmelte er nervös und wich ihrem Blick aus.

»Sei doch kein verdammter Narr, David«, sagte sie scharf. »Hier ist ein scharfer Luftzug nach oben, das siehst du doch. Komm jetzt herein.«

Ein Chor lauter Schreie brachte die Entscheidung; die Läufer hatten die Verfolgung wieder aufgenommen. Er schwang sich in den Schacht und folgte ihr.

Sie kletterten einige Zeit Hand über Hand in das immer tiefer werdende Dunkel, bis das durch das offene Luk hereinfallende Licht nur noch ein winziger Kreis tief unter ihnen war. Die stinkende Luft brannte in Julies Nase und Augen; sie schloss ihre Augen, als sie weiterstieg, und versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Einmal blickte sie nach unten und sah Davids Kopf gegen den kleinen Lichtkreis als Silhouette, dann schloss sie die Augen wieder, so fest sie konnte, und versuchte, nicht an die Tiefe zu denken, die unter ihr lag.

Sie waren an mehreren Luks vorbeigestiegen, bevor sie es für sicher genug hielt stehenzubleiben, das Verriegelungsrad nach rechts zu wirbeln und auf den hinter dem Luk liegenden, hell erleuchteten Korridor hinauszutreten. Sie wandte sich um und half David, aus dem engen Luk zu klettern; er schlug den Stahldeckel zu, und dann lehnten sie sich an die Wand, um sich zu erholen. Sie befanden sich in einem Korridor von Ebene 12; Menschen gingen an ihnen vorbei, warfen ihnen neugierige Blicke zu. Es war alles beruhigend normal.

Schließlich sagte David: »Das war das letzte Mal, dass du unten warst.« Seine Stimme zitterte. »Der Platz für Frauen und Kinder ist oben. Merke dir das für die Zukunft.«

Beeindruckt von seiner Sorge um sie fragte sie ihn nach den Läufern.

»Das passiert eben von Zeit zu Zeit«, antwortete er. »Eine Gruppe von Hydroponic-Arbeitern läuft Amok. Irgendjemand wird von einer Art Hysterie gepackt, und reißt andere mit. Ich habe Gruppen von bis zu zwanzig Männern erlebt. Sie laufen und schreien. Wir haben sie nach oben gebracht und versucht, mit ihnen zu reden, ihnen den Himmel gezeigt, aber das hat es nur noch schlimmer gemacht. Das einzige, was hilft, sind schwere Beruhigungsmittel für zwei oder drei Tage.«

»Was hätten sie getan?«, fragte Jillie, und ihr Körper zitterte in angstvoller, lustvoller Erwartung. »Wenn sie mich gefangen hätten, was hätten sie mit mir getan?«

David hob den Kopf und blickte sie an. »Sie hätten dich getötet«, sagte er kalt. »Nur das und sonst nichts. Sie mögen keine Frauen, die da unten.«

 

Eine Stunde später klopften sie an die Tür von Jeremiahs Zimmer.

»Lass mich mit ihm reden«, wies David sie an. »Ich will nicht, dass diese Angelegenheit vermurkst wird, nur weil ihr beiden irgendwie befreundet seid. Wir werden es auf die kühle, sachliche Tour versuchen. Dann, wenn es sich als notwendig erweisen sollte, kommst du mit weiblichem Mitgefühl und so weiter. Okay?«

»Gut.« Jillie, die während der letzten Minuten etwas übersprudelnd gewesen war – eine Reaktion auf die Verfolgung –, wurde wieder ruhiger. Die Tür schwang nach innen, und sie blickte die altersgebeugte Gestalt auf der anderen Seite kühl an. »Hallo, Jeremiah«, sagte sie in gewollt neutralem Tonfall.

»Jillie!«, rief der alte Mann erfreut. »Wie schön, dich zu sehen. Ich habe dich in dieser Woche so vermisst. Und du hast deinen Freund mitgebracht. Das ist schön. Kommt herein …« Er trat zur Seite, um ihnen den Weg freizugeben. »Setzt euch, setzt euch …« Er zog mit fahrigen Bewegungen Stühle heran.

»Jeremiah«, sagte David mit geschäftsmäßig kühlem Tonfall, bevor der alte Mann und Julie irgendein Geschwätz beginnen konnten, »dies ist eine Art offizieller Besuch. Ich repräsentiere das Wohnungskomitee. Mein Name ist David Bank …«

»Aber du bist Julies Freund, nicht wahr?«, fragte Jeremiah.

»Ah – ja, aber …«

»Freut mich, dich kennenzulernen, David. Es gibt heutzutage zu wenige junge Männer, die Frauen auch nur ansehen. Julie ist ein wunderbares Mädchen. Sie verdient einen Mann. Wann wollt ihr beiden heiraten?«

»Überhaupt nicht«, sagte David steif.

»Oh …« Jeremiah blickte von David zu Jillie und wieder zurück. »Ich verstehe …«, murmelte er. »Du bist ein Stabilisator, nehme ich an.«

»Das bin ich.«

Während der peinlichen Stille, die nun folgte, suchte Jillie krampfhaft nach etwas, das sie sagen konnte. Jeremiah war schwer enttäuscht worden; er betrachtete sie als eine Tochter – oder Enkelin – und sie wusste, dass ihr Glück dem alten Mann wichtig war. Ihr Blick fiel auf den Tisch in der Zimmerecke. »Was ist mit der Taube los?«, fragte sie. »Warum ist sie nicht mit den anderen draußen?«

Jeremiah trat zu dem Tisch und kam mit der Taube in den Händen zu ihnen zurück. Die Brustklappe war geöffnet und legte ihr kompliziertes elektronisch-mechanisches Innenleben frei.

»Sie hat sich beim Heimkommen gestern Abend einen Flügel angestoßen«, sagte er bedauernd. »Sie kann nicht richtig fliegen.«

David starrte misstrauisch zu dem Oberlicht empor. »Ich nehme an, dass du dort eine Luftschleuse hast«, sagte er.

»O ja. Die Vögel öffnen das Außenluk selbst, und dann, wenn sie sich alle in der Schleusenkammer befinden, lasse ich sie ins Zimmer.« Der alte Mann blickte David mit wachsender Enttäuschung an.

»Wie groß ist die Schleusenkammer?«

»Oh, das weiß ich nicht – um die vier Kubikyards, würde ich sagen.« Der alte Mann senkte den Blick.

»Was! Hast du nie daran gedacht, dass du bei jedem Öffnen des Luks vier Kubikyards atmosphärischer Luft nach Festive hereinlässt?«

Jeremiah hob den Kopf wieder. »In mein Zimmer«, korrigierte er. »Und ich bin noch immer am Leben, nicht wahr?«

»Du verdammter Narr!«, schrie David. »Du hast dadurch dein Leben wahrscheinlich um zehn Jahre verkürzt!«

»Zehn Jahre«, antwortete der alte Mann leise. »Das ist eine lange Zeit, nicht wahr? Aber wie kannst du dessen sicher sein? Woher willst du wissen, wie lange ich sonst leben würde? Und wer sagt dir, dass die Atmosphäre giftig ist?«

»Instrumente, natürlich. Strahlungsmessungen. Wir führen solche Tests … häufig durch. Häufig.«

»Wie häufig?«

»Das weiß ich nicht. Der Rat kümmert sich darum. Verdammt, wir sind schließlich nicht alle Spezialisten.«

Jeremiah lächelte. »Und der Rat besteht ausschließlich aus Männern, nicht wahr?«

»Na und? Zahlen lügen nicht.«

»Ich frage mich, was Frauen in diesen Zahlen lesen würden«, spekulierte Jeremiah, »wenn sie allen zugänglich wären.«

»Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Auf die Tatsache, dass es vielleicht vollkommen ungefährlich sein könnte, nach Draußen zu gehen. Auf die Tatsache, dass Männer mehr Angst haben als Frauen, nach Draußen zu gehen. Wir haben so lange Drinnen gelebt, dass uns allein der Gedanke an die Atmosphäre in Schrecken versetzt.

Warum sollen wir den Status quo verändern?, sagt jemand. Warum sollen wir die Menschen nicht glauben machen, dass die Atmosphäre noch immer radioaktiv ist, damit die Männer, die uns regieren und die Angst vor der frischen Luft haben, uns nach wie vor von ihren gemütlichen, luftdichten Zimmern aus beherrschen können? Warum soll man keine Stabilisations-Partei gründen, die es sich zur Aufgabe setzt, die Geburtenzahl zu beschränken?«

»Das ist nicht das einzige Ziel der Partei«, widersprach David.

»Sprich weiter, Jeremiah«, drängte Julie.

»Du siehst, David«, fuhr der alte Mann fort, »dass Jillie diese Vorstellung gefällt. Sie passt in ihre instinktive Idee des Möglichen. Ich möchte, dass ihr euch jetzt, nur für einen Moment, etwas vorstellt … Stellt euch eine Gemeinde vor, die völlig abgeschlossen ist und, vorläufig, in der Lage, sich aus eigenen Kräften zu unterhalten. Ihre ersten Bewohner begannen ihr Leben in Höhlen unterhalb der Erdoberfläche, doch die anwachsende Bevölkerungszahl folgender Generationen zwang die Menschen, auch über der Erde zu bauen. Die Konstruktionen blieben jedoch gleich: hermetisch von der Atmosphäre abgeschlossen, weil die einzuatmen den Tod bedeutete. Sie bauten in die Höhe, weil die Insel, auf der diese Gemeinde lebte, nur klein war. Rohmaterial, das aus der Tiefe der Insel und der sie umgebenden See gewonnen wurde, war immer schwieriger zu beschaffen, doch die Bevölkerung wuchs weiter und weiter. Stellt euch Festive vor. Stellt euch nun die Geisteshaltung vor, die aus einer solchen Situation erwächst. Die Außenluft ist giftig. Die Gemeinde kann sich kaum noch weiter ausdehnen. Die Nahrungsmittelproduktion kann nicht mehr erhöht werden – Mangel an Material und Wissen. Jeder Einwohner, ob Mann oder Frau, sieht nur eine Lösung: die Geburtenrate muss gesenkt werden.«

»Auch die Frauen haben das eingesehen?«, fragte David skeptisch.

»O ja, damals waren sie sehr dafür. Dies alles ist nur eine Hypothese, weißt du. Aber lasst uns einmal annehmen, dass das System funktioniert und die Geburtenrate stabilisiert werden konnte. Trotz allem jedoch lauert im Kopf jedes Menschen das Wissen, dass Maschinen nicht ewig halten; dass eines Tages, früher oder später, die Luftreinigungsanlage zusammenbrechen wird oder die Maschinen der Nahrungsmittelproduktion oder die Stromversorgung. Eines Tages wird es einen Zusammenbruch solchen Ausmaßes geben, dass er mit dem zur Verfügung stehenden Material und Wissen nicht wieder gutzumachen ist.«

Es war still in dem kleinen Raum, als Jeremiah eine Pause einlegte, um seine Worte einsinken zu lassen. David fuhr erschrocken zusammen, als ein kleiner Erdstoß die Lampen flackern ließ. Julies Blick war auf das Gesicht des alten Mannes gerichtet. Sie hatten nie über dieses Thema gesprochen, doch sie glaubte zu wissen, was er als nächstes sagen würde.

Schließlich fuhr Jeremiah fort: »Es hat früher einmal etwas gegeben, das Natur genannt wurde. Und die Natur geht ihren Weg, pflegte man zu sagen, glaube ich … Also ist die Natur in dem von Menschen geschaffenen Festive erschienen und hat die Herrschaft übernommen. Sie versucht, die Gemeinde dazu zu zwingen, sich auszudehnen und ihre Fesseln zu sprengen, bevor es zu spät ist. Die Geburtenbeschränkung durch den Menschen wird durch Mehrfachgeburten gekontert. Die Frauen sind sexuell aggressiv geworden, ohne zu wissen warum. Die Männer haben sich auf die unteren Ebenen zurückgezogen und predigen Stabilisierung. Die Frauen sind intuitiv in die obersten Ebenen gezogen, weil sie dort dem Draußen näher sind …«

Jeremiah blickte den jungen Mann scharf an. »Ist es nicht so, David? Kannst du dir vorstellen, dass die Männer sich schützend um die anfälligen Maschinen drängen, während die Frauen sich nach frischer Luft sehnen? Sieht unsere hypothetische Gemeinde nicht ein wenig so aus wie Festive?«

Davids Gesicht war blass; er blickte zu Julie hinüber, und sie zuckte zusammen, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich einen solchen Mist gehört«, sagte er mühsam beherrscht. »Es ist ein Glück für dich, dass du ein Freund von Jillie bist.« Er zwang sich, ruhig zu sprechen, und Jillie erkannte mit einem Anflug akuten Mitgefühls, dass hier Logik auf überlegene Logik gestoßen war; männliche Überlegenheit wurde durch einen Mann bedroht …

»Es kommt nicht darauf an, was du glaubst«, sagte Jeremiah ruhig. »Ich werde nicht lange genug leben, um eine Veränderung zu sehen.«

»Aber es kommt dir sicher darauf an, wenn man dir den Ausblick auf den Himmel nehmen wird, alter Mann!« Davids Stimme war laut; er schlug zurück, ohne zu überlegen. »Wenn du deine Tauben nicht mehr fliegen lassen kannst, weil man drei Räume auf den deinen setzen wird. Und das wird sehr bald geschehen, darauf kannst du dich verlassen.«

An dem entsetzten Ausdruck in Jeremiahs Gesicht erkannte Jillie, dass David ins Schwarze getroffen hatte.

 

Jillie trottete den von Menschen wimmelnden Korridor von Ebene 8 entlang und genoss wie immer die prickelnde Erregung, die die Nähe von Männern in ihr auslöste. Diesen Korridor mochte sie am liebsten, weil man hier etwa genau so viele Männer wie Frauen traf, es fehlte die mürrische Feindseligkeit der tieferen Ebenen und die weibliche Frustration der obersten. Immer wieder stieß sie absichtlich mit einem unvorsichtigen Mann zusammen, rief fröhlich »Oh, Verzeihung« und genoss das überwältigende Gefühl körperlicher Berührung. Auf diesem Korridor schämte sie sich dessen nicht; alle Frauen taten es, und die Männer schienen es zu erwarten. Wenn die Männer nur etwas tun wollten, dachte sie, als sie wieder, dieses Mal jedoch unabsichtlich, einen Mann anrempelte, einen Mann, der wirklich etwas tat. Er hielt sie auf Armeslänge von sich.

»Entschuldigung!«, sagte sie lächelnd, und dann sah sie sein Gesicht. »David!«

Er war ihr eine Woche lang offensichtlich aus dem Weg gegangen. Sie hatte ihn in seinem Büro angerufen, und man hatte ihr gesagt, er sei beschäftigt. Sie hatte ihn in seinem Zimmer aufsuchen wollen, doch er hatte auf ihr Klopfen nicht reagiert. Nach einigen Tagen hatte sie es aufgegeben und eingesehen, dass das Wenige, das sie miteinander verband, zerrissen war, wie es bei den meisten solcher Affären irgendwann geschah. Doch jetzt schien er mit ihr sprechen zu wollen.

»Hallo, Julie«, sagte er in bewusst ruhigem, neutralem Ton, hielt sie aber trotzdem fest, als ob er fürchtete, sie könnte davonlaufen. »Wir haben uns lange nicht gesehen. Wo können wir ungestört reden?«

In ihrem überwältigenden Verlangen nach ihm konnte sie kaum sprechen. »Da ist … da ist ein Aufenthaltsraum hier in der Nähe«, stammelte sie schließlich.

Glücklicherweise war niemand dort; sie konnten ungestört miteinander sprechen. Sie setzte sich auf einen Stuhl, doch David blieb stehen und blätterte in einer über einen Monat alten Ausgabe von Leben in Festive, die auf einem Tisch lag.

»Hier steht, dass die Produktion der Ponic-Felder angestiegen ist«, sagte er zerstreut. »Ah … tut mir leid wegen der letzten Woche, Jillie.«

»Schon gut.«

»Ich meine, was ich zu Jeremiah gesagt habe. Es tut mir leid, aber ich habe einfach den Kopf verloren. Vielleicht … vielleicht hat er Recht. Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich würde es wissen.« Er sah sie endlich an. »Ich kann das Wohnungskomitee nicht dazu bringen, den Beschluss rückgängig zu machen«, sagte er und wurde rot. »Aber ich habe es wenigstens geschafft, die Sache etwas hinauszuschieben.«

Jillie hatte sich wieder gefangen und ein wenig von der uralten Weiblichkeit kam zum Vorschein. »Was hat denn diese erstaunliche Meinungsänderung hervorgebracht?«, fragte sie sarkastisch.

»Ah …« Er zögerte. »Ich habe einen Blick in die Akten des Rats werfen können. Es ist fast unglaublich, doch Jeremiah hat Recht. Mit seiner Bemerkung über Fälschung öffentlicher Informationen, meine ich. Über Strahlenmessungen und so weiter …«

»Was willst du damit sagen, David? Was besagen die Strahlenmessungen?«

»Nichts. Weil es keine Aufzeichnungen darüber gibt.« Seine Stimme verriet Fassungslosigkeit. »Seit über hundert Jahren sind keine Strahlenmessungen mehr vorgenommen worden! Warum? Warum, Jillie?«

Sie atmete tief durch. »Weil die da unten mit dem Status quo zufrieden sind und immer zufrieden sein werden. Wie es Jeremiah gesagt hat: Sie haben seit so vielen Generationen hier drinnen gelebt, dass sie Angst davor haben hinauszugehen. Ihnen gefällt alles so, wie es ist.«

»Bleibe bitte mit den Füßen auf der Erde, Jillie«, sagte David ernst. »Wenn keine Strahlungsmessungen vorgenommen worden sind, bedeutet das noch längst nicht, dass keine Strahlung mehr vorhanden ist.«

»David, wir müssen für eine sehr lange Zeit einer ständigen, geringen Strahlung ausgesetzt gewesen sein, seit der Zeit, als Festive über den Schutzschild der Erdoberfläche hinausgewachsen ist. Wäre es nicht möglich, dass wir uns daran gewöhnt haben?«

»Ja, das wäre möglich.«

»Dann …« Sie stand plötzlich auf und nahm seine Hand. »Trotz allem, trotz der Tatsache, dass du Jeremiah fast glaubst und es für möglich hältst, dass der Rat uns belügt, hast du noch immer Angst, nach Draußen zu gehen?«

Er wich ihrem Blick aus. »Ja …«, sagte er schließlich. »Ich kann es nicht ändern, Jillie, ich habe Angst. Angst vor der Atmosphäre. Ich weiß, ich könnte sie nicht einatmen. Es ist nicht nur die Strahlung. Ich traue ihr nicht …«

 

Jillie kroch lautlos hinter die Bündel horizontaler Kühlrohre und wartete, dass die Arbeiter vorübergehen würden. Sie trotteten auf der anderen Seite der Rohre entlang, eine schweigende Gruppe von fünf Männern mit Schraubenschlüsseln in den Händen, die irgendeinen Reparaturauftrag haben mochten. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Rohrleitungen sah sie ihre Gesichter; sie waren ausdruckslos, leer, fast verblödet. Es war leicht, sich vorzustellen, dass diese Gruppe Amok laufen könnte; ihr Augenausdruck verriet einen Dauerzustand dumpfen Schocks, der nur einen Schritt von der Hysterie entfernt war. Sie wartete …

Gestern Abend hatte sie Jeremiah aufgesucht. Sie hatten bis tief in die Nacht miteinander gesprochen, und er hatte ihr die Organisation der tiefen Ebenen erklärt, ihr von den Dingen berichtet, die er im Lauf seines langen Lebens gesehen und gehört hatte. Was sie am meisten von allem interessierte, war seine Beschreibung Des Hauses gewesen, des einzigen oberirdischen Bauwerks, das gleichzeitig mit dem unterirdischen Festive entstanden war, wie man behauptet hatte. Ihre Neugier war geweckt. Wozu ein einziges oberirdisches Gebäude, wenn alles andere unter der Oberfläche versteckt war? Welchen Zweck hatte Das Haus?

Jeremiah hatte es nie von innen gesehen, wusste jedoch, dass es nur von den tieferen Ebenen aus erreicht werden konnte. Es gab keinerlei Zugänge von der ebenerdigen oder einer der höheren Ebenen. Als Festive höher gebaut worden war, hatte man Das Haus von drei Seiten mit neuerrichteten Mauern eingeschlossen und schließlich war es von der immer höher aufstrebenden City unter sich begraben worden.

Die vierte Seite Des Hauses grenzte jedoch an die See …

Die Arbeiter waren vorbei; sie trotteten durch eine rote Stahltür am Ende des riesigen Raums und zogen sie hinter sich zu. Jillie kam aus ihrem Versteck hervor und sah sich um. Sie befand sich auf einer der mittleren Ebenen der Tiefe, in der Nähe der hydroponischen Tanks. Jetzt musste sie sich in östlicher Richtung bewegen, von einem Baum zum anderen, um die übersichtlichen Korridore zu vermeiden. Sie begann zu wünschen, dass sie David mitgenommen hätte.

Links von ihr lagen die riesigen Hallen der Generatoranlagen; nach Jeremiahs Beschreibung musste sie jetzt in dieser Richtung durch die Werkstatträume gehen, bis sie auf die östliche Außenmauer von Festive stieß. Und dort, hatte der alte Mann gesagt, würde sie den Zugang zu Dem Haus finden.

Die Halle war leer. Sie durchquerte sie rasch bis zu einer grünen Tür, die sich neben der roten befand, durch die die Arbeiter verschwunden waren. Vorsichtig drückte sie sie auf. Hinter ihr lag wieder eine weite Halle, hell erleuchtet, bestückt mit Dutzenden von Drehbänken, Fräsmaschinen, Pressen und anderen Maschinen. Mehrere Männer waren hier bei der Arbeit; zwei oder drei gingen von einer Maschine zur anderen, um die Arbeit zu kontrollieren und Anweisungen zu geben. Heiße, ölig-metallisch riechende Luft wehte ihr ins Gesicht, und der Lärm war ohrenbetäubend.

»Kann ich dir helfen?«

Sie fuhr überrascht herum. Ein hochgewachsener Mann blickte sie neugierig an. Die aufsteigende Angst, die ihr einen Moment die Kehle zugeschnürt hatte, verflog; er wirkte harmlos.

»Oh … ich habe mich nur ein wenig umgesehen«, sagte sie unsicher.

»Komische Gegend, um sich umzusehen, besonders für eine junge Frau – allein«, sagte er nach einer nachdenklichen Pause. »Ich werde dir alles zeigen. Hier unten ist es besser, einen Begleiter zu haben. Ich heiße Andrew Shaw«, setzte er hinzu.

»Jillie … Jillie Adams.« Sie ergriff die Hand, die er ihr entgegenstreckte und hatte plötzlich ein Gefühl von Unwirklichkeit. Eine Stunde lang war sie hier unten umhergeschlichen, von einem Versteck zum anderen, in ständiger Angst, nur um von dem ersten Mann, der sie entdeckte, auf die freundlichste Art begrüßt zu werden.

»Ich bin der Aufseher hier«, erklärte er, »und du hast gerade in der Werkstatt der Instandhaltungs-Abteilung spioniert.« Sein Grinsen nahm den Worten ihren Stachel; sie stellte fest, dass sie ihn mochte, und noch mehr.

In der feuchten Luft klebte das Kleid an ihrem Körper, und als Andrew Shaw sie beim Arm nahm und in die Instandhaltungs-Werkstatt führte, kostete es sie einige Mühe, gewisse Gedanken aus ihrem Kopf zu verdrängen und sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren: sie war mit dem alleinigen Ziel hergekommen, Das Haus zu untersuchen, und aus keinem anderen Grund.

Während der nächsten halben Stunde erklärte Shaw ihr Aufgaben und Funktionen seiner Abteilung, führte sie von einer Maschine zur anderen, machte sie mit Schweißern und Drehern, Fräsern und Schleifern bekannt, die ihre Anwesenheit mit größter Höflichkeit zur Kenntnis nahmen, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandten; keiner von ihnen nahm von ihrer auffallenden Weiblichkeit in dieser Männerwelt Notiz, musste sie enttäuscht feststellen.

Schließlich führte Shaw sie in sein Büro, ein kleines Gelass mit einem großen Fenster, durch das er die ganze Halle überblicken konnte. Sie setzte sich, und zog den Saum ihres Kleides bis zu den Oberschenkeln empor.

Shaw lehnte sich gegen die Wand und blickte sie leicht amüsiert an. »Verkaufe dich nicht unter Preis, Julie«, sagte er. »Du bist ein intelligentes Mädchen. Vielleicht traust du auch mir einige Intelligenz zu und sagst mir, warum du wirklich hergekommen bist.«

Verlegen senkte sie den herausfordernd-abschätzenden Blick. »Ich habe ein paar Stories gehört«, murmelte sie schließlich. »Ich wollte herausfinden, was hier unten vorgeht. Ich war neugierig. Ich wollte sehen, wie ihr lebt – so viele Männer allein …«

Er lachte. »Typisch Frau. Ihr könnt einfach nicht glauben, dass Männer ohne euch leben können … Ich kann dir versichern, dass wir uns absolut an die Anstandsregeln halten. Wir versenken uns in unsere Arbeit, die hauptsächlich darin besteht, euch dort oben am Leben zu erhalten.«

»Entschuldige …« Sie blickte durch das Fenster zu den Arbeitern; sie schienen zufrieden zu sein. Und zumindest hatten sie einen Lebensinhalt; sie leisteten eine nachweislich nützliche Arbeit, im Gegensatz zu vielen Menschen der oberen Ebenen. »Hast du jemals … Läufer in deiner Abteilung gehabt?«, fragte sie.

»Hin und wieder«, gab er zu. »Den Grund dafür weiß ich nicht.«

»Vielleicht wollen sie etwas, ohne genau zu wissen, was es ist«, sagte sie. »Vielleicht ist es nicht genug, nur ein nützliches Leben zu führen.«

»Frauen?« Shaw runzelte die Stirn. »Dafür habe ich noch keine Anzeichen bemerkt.«

»Ich habe nicht Frauen gemeint, sondern … sondern …« Sie zögerte. »Wie fühlst du dich, wenn du ständig hier unten eingesperrt bist?«

»Mir gefällt es hier.« Shaw blickte sie verwundert an. »Ich bin hier geboren, ich habe immer hier gelebt. Ich fühle mich nicht eingesperrt. Wie fühlst du dich, Jillie?«

Sie wich seinem Blick aus. Plötzlich spürte sie das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen, jemandem, der jünger war als Jeremiah, jemandem, der in der Lage war, das Problem von ihrem Standpunkt aus zu sehen. »Ich möchte hinaus«, murmelte sie. »Ich möchte nach Draußen, in die Atmosphäre.« Ihre Stimme wurde lauter. »Ich möchte auf dem Dach stehen, ohne Schutzanzug, ohne jede Kleidung, den Regen auf meiner Haut spüren, ohne Mauern und Decken, die mich einschließen …« Sie fühlte, vage und zu spät, dass sie die Beherrschung verlor und ihre Tränen zu fließen begannen. »Ich möchte David heiraten und eine Menge Kinder haben und Festive verlassen und an einem großen Ort leben, auf einem … Kontinent, und mich in der Atmosphäre auf die Erde legen und unter dem freien Himmel schlafen, und ich kann es nicht, weil ich hier eingesperrt bin und nicht hinaus kann …« Ihre Stimme war immer lauter und schriller geworden, doch sie konnte es nicht ändern.

Ein brennender Schmerz explodierte in ihrem Kopf, und der Schmerz stoppte ihren Ausbruch. Shaw stand vor ihr; er hatte ihr mit aller Kraft ins Gesicht geschlagen. Sie starrte durch einen Tränenschleier entsetzt zu ihm auf.

»Du hast nach Läufern gefragt«, sagte er. »Genauso geht es bei ihnen los. Tut mir leid, dass ich das tun musste, Julie.« Und er beugte sich über sie und küsste sie sanft.

 

Danach schien es völlig normal, dass sie ihn bat, sie zum Haus zu bringen, und dass er sich ohne zu zögern dazu bereiterklärte. Es schien absolut nichts Geheimnisvolles an diesem Haus zu sein, seine Existenz war lediglich nicht allgemein bekannt. Er sagte ihr, dass ihre Neugier auf das Haus ihn verwundere, und auch der Umstand, dass sie nicht fähig war, ihm zu erklären, was sie dort zu finden erwartete. Er beschrieb das Haus als eine Art Museum.

Also stiegen sie eine schmale Wendeltreppe hinauf, die sich in einem Schacht an der Felsmauer befand, die die östliche Begrenzung Festives bildete, öffneten die unverschlossenen Türen und gingen Hand in Hand, im warmen Gefühl des Nachglühens körperlicher Liebe, durch die weiten Räume des Hauses, die voller Wunder waren.

Da standen Maschinen, Dutzende von Maschinen, riesig und rätselhaft, die Julie an die großen Schaben erinnerten, die sich in den Essräumen der oberen Ebenen breitmachten, wenn sie ihr in ihrer mechanischen Perfektion auch weniger ekelhaft erschienen. Eigentlich, überlegte sie, als sie unter einem gummibereiften Monster stand, das von schmalen, waagrechten Metallklingen gekrönt wurde, waren sie sogar recht hübsch. Ihren Verwendungszweck konnte sie bestenfalls erraten, doch war ihr klar, dass sie nicht zur festen Ausstattung Festives gehörten. Es waren individuelle, mobile Maschinen, konstruiert für eine andere Umgebung als den großen Raum, in dem sie jetzt standen; offensichtlich dazu gedacht. Draußen eingesetzt zu werden, in der Atmosphäre.

Sie gingen zwischen den Maschinen umher und versuchten ihren Verwendungszweck zu erraten. Dann, am äußersten Ende des Raums, wo hohe Stahltore das Haus gegen die See und die Atmosphäre abschirmten, entdeckten sie ein langes, niedriges Objekt.

»Das«, sagte Jillie bestimmt, mit der Sicherheit intuitiven Wissens, »ist ein Boot. Um damit auf der See zu fahren«, setzte sie hinzu.

»Wieso?«, fragte Andrew Shaw.

Sie blickte ihn traurig an. Er dachte nicht auf der gleichen Wellenlänge wie sie. Kurz gesagt, es hatte keinen Sinn mit ihm.

Eine halbe Stunde später trennten sie sich am Fuß der Treppe, die zu den höher gelegenen Ebenen führte. Jillie streckte ihm formell ihre Hand entgegen. »Bye, Andrew«, sagte sie.

»Good-bye, Jillie. Du kannst jederzeit …«, antwortete er verlegen.

»Vielen Dank. Vielleicht brauche ich wieder einmal deine Hilfe. Vielleicht schon bald«, setzte sie hoffnungsvoll hinzu.

»Es wäre möglich, dass ich … bald Schwierigkeiten bekomme. Wir haben es im Büro getan … wo alle Männer uns sehen konnten. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Ich bin Stabilisator, musst du wissen. Man erwartet von mir, dass ich anderen ein Beispiel gebe …« Seine Stimme erstarb.

»Tritt doch aus der Partei aus«, schlug Jillie vor. »Du bist ohnehin nicht der richtige Typ dafür.«

 

Sie brauchte sehr lange, um David zu überzeugen, doch sie war hartnäckig wies immer wieder auf die Logik von Jeremiahs Theorien hin, die durch ihre Beobachtungen und die signifikante Einstellung der Strahlungsmessungen untermauert zu werden schienen.

»Ich sage dir, dass es sicher ist«, wiederholte sie wieder. »Es ist nicht anders, als wenn man die Luft Festives atmet.«

Das Licht flackerte, als der Raum wieder unter einem Erdstoß erzitterte. Während der vergangenen Woche hatten sie mehrere Erdstöße erlebt, die schwerer waren als alle, die man jemals vorher registriert hatte, ein Umstand, der Julies Überredungsversuchen eine zusätzliche Dringlichkeit gab; sie musste David überzeugen und durch ihn den Rat unter Druck setzen, bevor die in letzter Zeit immer häufiger aufgetretenen Stromausfälle zu einer Panik führten. Oder, wenn alles andere fehlschlagen sollte, würde sie ein Beispiel geben …

Sie hatte während der vergangenen Woche die Veränderung in ihrem Sektor bemerkt. Die Menschen blickten misstrauisch die Wände an, wenn sie einen Korridor entlanggingen, zuckten bei dem geringsten Erdstoß zusammen, und es hatte auf den Korridoren, wenn es durch Stromausfall plötzlich dunkel wurde, Fälle von Hysterie gegeben. Man hatte sie vorübergehend als Krankenschwester eingesetzt; sie arbeitete mit qualifizierten Ärzten im Medicenter und war entsetzt über die rapide ansteigende Zahl von Patienten, die Sedativa oder psychiatrische Behandlung brauchten.

»Aber woher willst du wissen, dass es sicher ist?«, fragte David wieder. Es war klar, dass er ihr glauben wollte, doch die Vorstellung, unbehandelte, ungereinigte Luft zu atmen, war eine so gewaltige geistige Barriere, dass er sie nicht überwinden konnte.

Schließlich war Julies Geduld erschöpft. »Ich werde es dir beweisen!«, sagte sie scharf. »Ich möchte dir eines sagen: ich weiß nicht, warum ich mir soviel Mühe mit dir gebe. Ich könnte jederzeit einen Mann finden, der nur zu gern bereit wäre, mit mir hinauszugehen, wenn er das über den Rat wüsste, was du weißt. Du bist feige, David. Aber nur um dir zu beweisen, dass ich Recht habe, werde ich ohne Schutzanzug aufs Dach gehen. Und du wirst mitkommen und zusehen!«

»Ich kann das nicht zulassen«, murmelte er.

»Du kannst ja versuchen, mich daran zu hindern … Und dann, wenn ich vor so vielen Zuschauern, wie ich zusammentrommeln kann, auf das Dach getreten bin, gehe ich nach unten und hole mir das Boot, und wenn du nicht mit mir kommen willst, werde ich schon einen anderen finden!« Sie war so frustriert, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie lief plötzlich aus dem Raum, warf die Tür hinter sich zu, angewidert von dem Ausdruck der Unsicherheit in Davids Gesicht.

Er holte sie zwei Stockwerke unterhalb des Daches ein. An dieser Stelle war die Mauer von einem der wenigen Fenster durchbrochen. Sie blieb stehen, bog den Kopf zurück und sah ein kleines Stück des mit dunklen Gewitterwolken verhangenen Himmels und die gegenüberliegende Mauer. Als sie nach unten blickte, sah sie Jeremiahs Oberlichtfenster und konnte vage die Gestalt des alten Mannes ausmachen, der in seinem Zimmer umherging. Das Fenster führte in den quadratischen Schacht in dem sonst glatten Dach Festives, durch den die Tauben aus- und einflogen, der Schacht, um den es so viel Streit gegeben hatte. Eine Hand packte ihren Arm.

»Mach jetzt keine Dummheiten, Jillie.« Davids Stimme sollte beruhigend klingen, hatte jedoch einen Unterton hilfloser Angst.

Sie versuchte, sich zu befreien, doch er hielt sie fest. Menschen blieben stehen, Männer und Frauen drängten sich neugierig grinsend um sie.

»Wir machen uns lächerlich«, zischte sie und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Lass mich los, David.«

»Das ist mir egal!«, schrie er und starrte herausfordernd in die Gesichter der Menschen, die sich um sie drängten. »Ich lasse nicht zu, dass du Selbstmord begehst!«

Sie wurde zu Boden gestoßen und dachte im ersten Moment, dass David durchgedreht hätte, doch dann spürte sie, dass der harte Beton unter ihr erbebte, und dann setzte das Schreien ein.

Jemand war auf sie gefallen, und das Gewicht presste sie hart auf den von Stößen gerüttelten Boden. Als sie sich unter der Last hervorgestrampelt hatte, sah sie Davids Gesicht dicht vor dem ihren. »Ein Erdbeben!«, schrie er unnötigerweise. »Ein schweres Beben!« In seinen Augen stand nackte Angst.

Julie wollte aufstehen, wurde jedoch sofort wieder zu Boden geworfen, als ein weiterer Erdstoß Festive bis in seine unterseeischen Fundamente erbeben ließ. Sie blieb liegen, den Kopf auf die verschränkten Unterarme gebettet, hörte das Schreien und Jammern und spürte ein hartes Klopfen in ihrer Kehle, als die ganze Gemeinde wie mit einer Stimme schrie, als ob das Schreien das Monster Erde verscheuchen könnte, das sie zu vernichten drohte.

Dann, in einer plötzlichen Stille, hörte sie das Prasseln von herabfallendem Putz und aus der Decke gebrochenen Steinen. Der Boden blieb jetzt ruhig. Sie stemmte sich auf die Füße und sah sich nach David um. Er stand ebenfalls gerade auf und rieb sich den Kopf.

Er blickte sie nicht an; sie spürte einen Anflug von Verärgerung, dass er sich keinerlei Gedanken um ihre Sicherheit zu machen schien, doch dann sah sie sein Gesicht. Nackte Angst stand darin; er starrte auf das Fenster, und als sie seinem Blick folgte, sah sie die zersplitterte Glasscheibe herausfallen …

Sofort wurde der Korridor mit dichten, weißen Schwaden gefüllt. Julie sah, wie Männer und Frauen ihren Hals umklammerten und ihnen die Augen aus dem Kopf quollen, als sie um Atem rangen. Sie hörte heisere Schreie und ersticktes Husten. Sie taumelte mit angehaltenem Atem von dem offenen Fenster fort und zog David mit sich. Alarmglocken begannen verspätet zu schrillen, als sie die Tür eines Aufenthaltsraums erreichten, hineinstürzten und die Tür hinter sich zuwarfen. Sie hörten das Poltern schwerer Stiefel; der Rettungstrupp, sechs Männer in Schutzanzügen, lief den Korridor entlang, um das Leck abzudichten und die Opfer zu bergen.

Als sie wieder still geworden war, blickte David sie ernst an. »So viel zu deinen Theorien«, sagte er und begann zu husten. Sein Gesicht war gerötet, die Wangen feucht von Tränen.

Seine Feststellung erforderte keine Antwort, und Julie schwieg; sie fragte sich, was mit den Menschen im Korridor geschehen war und ob der Rettungstrupp sie rechtzeitig hatte in Sicherheit bringen können. »Ich muss jetzt ins Medicenter«, sagte sie. »Die haben für eine Weile alle Hände voll zu tun.«

»Warte noch etwas, bis die Rettungsleute das Loch abgedichtet und die Luft gereinigt haben. Dann kannst du zum Medicenter gehen, und ich werde Jeremiah aus seiner Bude werfen und sofort mit dem Bau beginnen. Dies hätte nicht geschehen können, wenn du mich nicht dazu überredet hättest, ihn in Ruhe zu lassen. Mein Gott, wir haben Glück gehabt, dass die Mauer nicht gerissen ist. Die ganze Struktur dieses Sektors ist instabil.«

Dann saßen sie schweigend und wichen dem Blick des anderen aus, bis die Glocke das ›Alles klar‹-Signal gab.

 

Später klopfte Julie an Jeremiahs Tür und trat ein, als sie Davids Stimme hörte. Das Zimmer war ein Chaos; überall lagen Stein- und Mörteltrümmer. Jeremiah saß zusammengesunken auf einem Stuhl. David stand vor ihm, etwas verunsichert durch ihre Ankunft; anscheinend hatte er gerade gehen wollen.

»Wie viele sind gestorben?«, fragte er und blickte den alten Mann an.

Sie zögerte. »Zwei«, gab sie schließlich zu. »Aber …«

»Zwei«, wiederholte er. »Zwei Menschen sind unnötig gestorben, weil das Komitee gegenüber einem alten Mann sentimental war. Da gibt es nicht mehr viel zu sagen, nicht wahr, Jillie? Auf jeden Fall habe ich ihm erklärt, dass er seine Sachen zusammenpacken und für einige Zeit in ein anderes Zimmer ziehen soll, während hier gebaut wird. Später kann er wieder hierher zurückkommen. Mehr kann ich nicht tun. Ihm mache ich keine Vorwürfe, nur dem Baukomitee und mir selbst.«

Jeremiah hatte sich auf die Beine gestemmt und zog seine Maske über den Kopf; dann stieg er auf den kleinen Steinhaufen und stieß das Oberlicht auf, um seine Tauben hereinzulassen; mit den elektronischen Vögeln drangen ein paar nebelige Fetzen der Atmosphäre in den Raum.

»Sieh dir das an!«, sagte David grimmig. »Ich bin sicher, dass er es die ganze Zeit gewusst hat. Er muss diesen Mist jeden Tag hereindringen gesehen haben, ohne uns einen Ton davon zu sagen. Sein verdammtes Hobby war ihm wichtiger als Festive.«

Jeremiah, der seine zurückgekehrten Tauben untersuchte, blickte auf. »Ich habe es nicht für wichtig gehalten«, sagte er ruhig. »Und es geschieht auch nicht immer, nur während des Sommers, wenn ein Gewitter in der Luft liegt. Ich halte es für Kondensation. Wir wissen, dass die Luftgeneratoren auf der untersten Ebene nicht mehr in Ordnung sind. Ich habe berechnet, dass der Luftdruck in Festive ein wenig niedriger ist als Draußen, und dass die Luft hier auch kühler ist. Ich war der Ansicht, dass es feuchte Luft ist, die hier kondensiert.« Er blickte Jillie flehend an. »Wie Dampf aus einem Kessel«, murmelte er.

»Blödsinn«, erwiderte David grob. »Das ist doch nichts als eine Ausrede. Aber damit kommst du nicht weit.«

»David …«

»Das gilt auch für dich, Jillie. Du glaubst, was du glauben willst, wie alle Frauen. Die Tatsachen werden einfach ignoriert. Zwei Menschen sind gestorben, denke daran! Ich hätte auch sterben können. Ich konnte nicht atmen – soviel ist sicher. Ich sollte mich auch behandeln lassen. Gott weiß, wieviel Gift ich in meinen Lungen habe.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Jillie bestimmt.

»Was?«

»Du hast kein Gift in deinen Lungen. Ich komme gerade vom Medicenter, wie du dich erinnern wirst. Die beiden Toten – sie sind nicht vergiftet worden, sondern hatten ein schwaches Herz. Alle anderen sind wieder völlig gesund – ohne irgendwelche Nachwirkungen.«

»Was, zum Teufel, willst du damit sagen?« Davids Gesicht lief vor Wut rot an. »Willst du mir etwa einreden, dass ich mir den weißen Dreck, der da hereindrang, nur eingebildet habe? Ich schwöre dir, dass ich nicht atmen konnte. Ich bin fast erstickt. Du hast mich doch selbst gesehen.«

»Ja, ich habe dich gesehen … aber du hast nur keine Luft bekommen, weil du sahst, dass das Fenster zerbrochen war; da hat sich deine Luftröhre verschlossen – ein Reflex-Krampf. Und das Gleiche passierte den anderen. Von einer Sekunde zur anderen brach eine Massenhysterie aus. Du bist so von der Vorstellung geprägt, die Atmosphäre sei giftig, dass dein Bewusstsein es als erwiesene Tatsache annimmt und dir verbietet, sie einzuatmen.«

»Und was ist dann dieses weiße Zeug? Wir haben es doch eben noch einmal gesehen.«

Julie lächelte. »Kondensation, wie Jeremiah gesagt hat …«

David grunzte. »Ich ziehe es vor, meinen Augen zu trauen, vielen Dank. Zwei Menschen sind an diesem Gift gestorben. Ich sage dir, nichts kann draußen leben …«

Jeremiah blickte auf. Seine Augen glänzten.

»Doch, etwas kann dort leben, David«, sagte er. »Sieh!«

Davids Augen weiteten sich, als er das mit den Flügeln schlagende Ding in den Händen des alten Mannes anblickte, und dann die Reihe der reglosen, abgeschalteten Tauben auf ihrer Sitzstange …

»Es sind eigentlich keine wirklich guten Nachbildungen«, sagte Jeremiah mit zitternder Stimme. »Aber sie waren gut genug, um diesen kleinen Kerl zu täuschen.«

Der Vogel stieß ein leises Gurren aus und blickte sie mit hellen, wachen Augen an.

 

»Ich weiß nicht …«, murmelte David. »Mein Gott, ich weiß nicht. Vielleicht hast du Recht, aber ich weiß es nicht …«

Julie blickte ihn wütend an. »Wieviele Beweise brauchst du denn noch? Bist du denn blind? Dies ist genau der Beweis, auf den wir gewartet haben – dies ist etwas, das du dem Rat vorweisen kannst, und wenn sie nicht auf dich hören wollen oder versuchen, den Beweis zu unterdrücken, können wir ganze Festive zum Aufstand bringen, indem wir es den Menschen selbst sagen und es ihnen beweisen. Und dann können wir endlich so leben, wie wir leben sollten, in der freien Luft, ohne Angst vor Strahlung oder anderen Verunreinigungen, denn wenn Vögel in der Atmosphäre leben können, können auch wir in ihr leben. Stell es dir doch nur vor, David! Wir könnten diesem Gefängnis entkommen, vielleicht schon morgen, und wenn die Menschen das sehen, kommen sie sicher nach. Und wenn der Rat und all die Feiglinge dort unten zurückbleiben wollen, so ist das ihre Sache. Aber sie können nicht allen anderen die Chance verwehren, so zu leben, wie es den Menschen bestimmt ist.«

David starrte den Vogel an, noch immer unentschlossen. »Aber angenommen, sie können sich nicht zum Atmen zwingen, selbst nachdem wir ihnen den Vogel gezeigt haben? Wir haben sehr, sehr lange in Festive gelebt, Julie.«

Jeremiah hörte den beiden mit wachsender Ungeduld zu. Sein Blick schweifte durch den kleinen Raum, er sah die Wände, das trübe Oberlicht, den überall verstreuten Schutt, die gesprungene Decke, die alten, grob zusammengezimmerten Möbel. Er hörte ein leises Zischen aus der Öffnung des Luftkanals, das leise Geräusch von Schritten und Stimmen vom Korridor. Er zog Luft in die Nase und erkannte den Geruch von Festive, obwohl seine Nase ein ganzes Leben lang Zeit gehabt hatte, sich an ihn zu gewöhnen. Plötzlich wurde ihm klar, dass dies alles, die Eindrücke eines ganzen Lebens, vielleicht nicht viel wert waren …

Er ließ die Taube los, die durch das Zimmer zur Sitzstange flog und dort ihre reglosen Artgenossen neugierig musterte.

Mit erstaunlicher Elastizität packte Jeremiah einen zerbeulten Aluminiumhocker und schleuderte ihn durch das Oberlicht.

»Jetzt, David!«, schrie er, als die Scherben auf ihn herabregneten und weiße Wolken hereindrangen. »Atme, verdammt noch mal, atme!«

David atmete.

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