Yes, Mr. Vice President!
Al Gore berichtet von der Zukunft, aber meint die Gegenwart – Eine Kolumne von Sascha Mamczak
Soll ich Al Gore verklagen? Immerhin hat der Titel seines aktuell erschienenen Buches „Die Zukunft“ (im Shop) gewisse Ähnlichkeiten mit meinem aktuell erschienenen Buch „Die Zukunft“ (im Shop), und wer sich ein bisschen mit Titelschutzrecht auskennt, weiß, dass da juristisch einiges machbar ist. Doch abgesehen von der Tatsache, dass ich nachweisen müsste, als erster auf diesen (zugegebenermaßen genialen) Titel gekommen zu sein: Will ich mich wirklich mit Al Gore anlegen? Der Mann war US-Senator, Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat, er hat etliche Bestseller veröffentlicht, wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und ist überhaupt eine globale Berühmtheit. Ich auf der anderen Seite … lassen wir das.
Was ich eigentlich sagen will: Al Gore hat ein Buch mit dem Titel „Die Zukunft“ geschrieben. Es ist ein in vielerlei Hinsicht gewichtiges Buch geworden – allein die Informationsdichte: die 600 Seiten sind mit über 2000 Fußnoten gespickt, und am Ende findet man ein Register, in dem sich von Freud bis McLuhan, von Schumpeter bis Xiaoping, von Aristoteles bis Gibson praktisch alle tummeln, die etwas zum Menschheitsdiskurs beigetragen haben -, aber er hätte es gar nicht „Die Zukunft“ nennen müssen, denn worum es in Gores „Die Zukunft“ tatsächlich geht, ist: die Gegenwart. Unsere Gegenwart, die sich mächtig aufplustert und dabei einen so langen Schatten wirft, dass man mit nicht allzu großem intellektuellem Aufwand einige Entwicklungen, vulgo: Trends, identifizieren kann, die mit ziemlicher Sicherheit die Zukunft - jedenfalls die Zukunft derer, die heute auf die Welt kommen – prägen werden. Diese Trends (die Globalisierung von Produktion, Substitution und Kommunikation, die Ausdifferenzierung weltpolitischer Macht, die ökologische Abwärtsspirale, die permanente technologische Revolution und so weiter) werden uns tagtäglich in unterschiedlichster Form und mit unterschiedlichstem propagandistischem Spin in den Nachrichten um die Ohren gehauen, weshalb es nur zu begrüßen ist, dass es sich Al Gore in „Die Zukunft“ zur Aufgabe gemacht hat, sie so nüchtern wie möglich zu systematisieren, zu diskutieren und … zu kritisieren.
Das – also das Kritisieren – gefällt mir ganz besonders an Gores Text. Wie viele Bücher von aktiven oder ehemaligen Politikern kennen Sie, in denen nicht nur Selbstbeweihräucherung und allenfalls das Herunterbeten früherer Wahlkampfsprüche geboten wird, sondern in denen es wirklich um die Sache geht: nämlich um die Art und Weise, wie es uns gelingen könnte, die Gegenwart so einzurichten, dass daraus eine Zukunft wird, in der man leben kann und nicht ums Überleben kämpfen muss? Schon Sokrates war der Ansicht, dass es genau darum im politischen Raum gehen sollte, aber der politische Raum, den wir uns gebastelt haben, funktioniert leider anders: „Zukunft“ ist in diesem Raum eine Art Hitchcockscher Super-McGuffin, den alle wie eine Monstranz vor sich hertragen, der aber letztlich gar nichts bedeutet. „Zukunft“ im politischen Raum ist das Ziel, an dem wir aufgefordert sind, Politik zu messen, doch dieses Ziel verschwindet im Nebel der Rhetorik, der Parteiprogramme, der Regierungsverlautbarungen; „Zukunft“ im politischen Raum ist ganz einfach das, was man in anderen Zusammenhängen Heilsversprechen nennt. Dies gilt in ganz besonderer Weise für die US-amerikanische Art, Politik zu betreiben: Regelmäßig wartet hier Großes „am Horizont“, haben „die besten Jahre“ noch gar nicht begonnen, bricht stets „ein neuer Tag“ an. Auf allen Ebenen ist die amerikanische Politik von einer Zukunftspropaganda durchtränkt, die etwas Infantiles hat: Als Präsident Carter – soweit mir bekannt, der einzige Spitzenpolitiker, der sich zu Amtszeiten jemals so weit aus dem Fenster gelehnt hat – es Ende der 1970er Jahre in seiner berühmt-berüchtigten „malaise speech“ wagte, gesellschaftliche Fehlentwicklungen als Auftrag zu verstehen, einen anderen, einen neuen Blick auf Gegenwart und Zukunft zu werfen, es also wagte, die Wählerinnen und Wähler wie Erwachsene zu behandeln, wurde er von Ronald Reagan mit einem simplen „Die Zukunft ist grenzenlos, und sie gehört uns!“ in den Boden gestampft. So läuft das jenseits des großen Teiches. So läuft das, wenn wir ehrlich sind, eigentlich überall.
Es ist also durchaus erstaunlich, dass ein ehemaliger Spitzenpolitiker wie Al Gore ohne jeden politischen Filter und ohne eigene politische Agenda (zumindest hält er sich hier wirklich sehr zurück) auf globale politische, ökonomische und soziale Fehlentwicklungen aufmerksam macht. Dass er sich dabei an hunderten von Zitaten entlang hangelt, die ihm, vermute ich mal, sein Redaktionsteam zusammengetragen hat – geschenkt. Dass er ganz in amerikanischer Tradition die Lösung für etliche Weltprobleme im technischen Bereich sieht – nun gut. Dass er den USA trotz aller innenpolitischer Defizite (von denen gerade er ein Lied singen kann) auch in den kommenden Jahrzehnten eine globale Führungsrolle zuspricht – wer hätte das anders erwartet? Gores „Die Zukunft“ ist eindeutig das Buch eines Politikers, aber in diesem Fall ist es ausnahmsweise zu begrüßen, dass gerade ein Politiker über Themen schreibt, die sonst eher Fachwissenschaftler in ihrem Elfenbeinturm beackern. Denn bei allem Verdruss über die im politischen Raum handelnden Personen - eines ist ihre ureigene Kompetenz: Sie müssen sich qua Profession die Mühe machen, alle Teile einer Gesellschaft wenn schon nicht in Einklang, dann wenigstes miteinander in Verbindung zu bringen. Jede neue Erfindung, jede neue Technik ist nicht nur irgendwie „cool“ – sie hat Folgen für den Arbeitsmarkt, für die Rechtsprechung, für das soziale Miteinander. Trends fallen nicht vom Himmel - sie werden politisch gefördert, ökonomisch vereinnahmt und sozial vermachtet. Die Zukunft ereignet sich nicht einfach nur – sie wird im Hier und Heute wie ein Claim abgesteckt.
Al Gore weiß das ganz genau, weil das Abstecken von Zukunftsclaims jahrelang sein Beruf war, und auch wenn in seinem Buch nur selten die Rede davon ist, wie er dieses Geschäft im Detail betrieben hat, so schimmert doch immer wieder durch, dass da einer schreibt, der hinter die Kulissen der Trendmaschinerie geblickt hat, der weiß, wie sie tickt und was sie antreibt, der weiß – und das ist wohl das Wichtigste –, dass wir uns auf unserem Weg in die Zukunft auf sehr dünnem Eis bewegen. Al Gores „Die Zukunft“ hat nichts Infantiles an sich, seine Zukunft ist auf wunderbar unamerikanische Art erwachsen.
Da sehe ich ihm sogar diese Sache mit dem Titel nach.
Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich.
Kommentare
Da teilen sich also zwei große einen Titel.
Hört sich gut an, was Sie da über Al Gores Buch schreiben.
Ich werde aber trotzdem zuerst die Mamczak-Zukunft lesen.