9. September 2019 5 Likes

Rettet die Tiere!

Es gibt einen Test, ob Menschen wirklich begreifen können, was Zukunft bedeutet

Lesezeit: 6 min.

„Wenn man in unserer Zeit einen realistischen Roman schreiben will“, sagte William Gibson vor Kurzem in einem Interview, „dann braucht man dazu den Werkzeugkasten der Science-Fiction. Wir leben in einer Science-Fiction-Welt.“ Ich stimme ihm zu, aber ich denke dabei nicht an selbstständig fahrende Autos, an sprechende Kühlschränke oder an Elon Musks Projekt, das menschliche Gehirn mit dem Internet zu verbinden – an all den technischen Kram also, den man gemeinhin mit einer „Science-Fiction-Welt“ assoziiert. Nein, ich denke dabei an eine kleine Zeitungsmeldung vor einigen Wochen, in der es hieß, dass der Bestand an frei lebenden Giraffen auf eine erschreckend niedrige Zahl gesunken ist. Dass die Giraffen vom Aussterben bedroht sind.

Zur Kunst der Science-Fiction gehört nämlich insbesondere die Möglichkeit, der Gegenwart das zu entziehen, was man für selbstverständlich hält, und das Ergebnis dann als Zukunft zu verkaufen. Eine Meldung in den Nachrichten, dass Giraffen eine vom Aussterben bedrohte Art sind, wäre vor nicht allzu langer Zeit noch ein ebenso eleganter wie schockierender Einstieg in ein dystopisches Szenario gewesen: die Erde als ökologisches Wrack, die Menschen im Kampf um die letzten Ressourcen, und so weiter. Denn die großen, schönen, sanftmütigen Giraffen zählen zu den ikonischen Tieren schlechthin, so unverzichtbar für das Bild, das wir von der Natur haben, wie für kitschige Afrikawerbung. Giraffen gehören zum Inventar – wie Supermärkte und Bundestagswahlen.

In unserer Science-Fiction-Welt ist die schockierende Meldung vom langsamen Verschwinden der Giraffen nun also Realität, und als hätte sich ein besonders kreativer Autor dieses Szenario ausgedacht, kommt noch hinzu, dass kaum jemand deswegen schockiert zu sein scheint. Das Aussterben der Giraffen in der sogenannten freien Natur vollzieht sich still und leise auf den hinteren Seiten der Zeitungen oder ganz unten in den Newsstreams – genauso wie das Aussterben unzähliger anderer Tierarten. Ja, tatsächlich bekommen wir vom Verschwinden der meisten Tiere gar nichts mit, denn die allermeisten Tiere, die aussterben, sind nicht groß, schön und sanftmütig, sondern klein und glitschig, was ihren Nachrichtenwert deutlich mindert (oder haben Sie je vom Fransenzehen-Laubfrosch gehört?). Und das wiederum setzt voraus, dass wir überhaupt wissen, dass es sie je gegeben hat, denn lediglich fünf Prozent der Tierarten auf der Erde sind wissenschaftlich erfasst.

Die konkreten Ursachen für dieses größte Massenaussterben seit sechzig Millionen Jahren – „the great thinning“, wie Michael McCarthy es nennt – sind kein Geheimnis. Industrielle Landwirtschaft, Monokulturen, Flurbereinigung, Flächenversiegelung, Wilderei, schwarzer Handel mit Exoten, intensive Nutzung einstiger Schutzgebiete, all das zerstört sukzessive die Lebensräume der Tiere. Die konkreten Ursachen für das Massenaussterben sind also menschengemacht und haben mit einem auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystem zu tun, dessen Geschäftsgrundlage die Ausbeutung der natürlichen Welt ist und das sich auf verhängnisvolle Weise verselbstständigt hat: Alle sind dafür verantwortlich, und gleichzeitig ist niemand dafür verantwortlich.

Aber jenseits des ökonomischen hat das Verschwinden der Tiere, hat unser Desinteresse an ihrem Verschwinden, noch einen weiteren Aspekt. In seinem großartigen Essay „Warum sehen wir Tiere an?“ beschreibt John Berger, wie wir Menschen die Tiere, die über Jahrtausende hinweg ein fester Bestandteil unserer Existenz waren, in den letzten zweihundert Jahren immer mehr aus unserem Leben, unserer Wahrnehmung, unserem Denken verdrängt haben. Sie fristen nun ihr Dasein in künstlichen Räumen, in Zoos und Wildparks, in Wohnungen und Gärten, in Kinderbüchern, Fernsehshows und Animationsfilmen: Randfiguren, Schauobjekte, Spielzeuge. Und was im neunzehnten Jahrhundert begann, steuert nun auf seinen finsteren Höhepunkt zu. Berauscht von uns selbst, unseren Artefakten, unseren Gadgets, unseren Systemen haben wir gänzlich aus den Augen verloren, dass wir den Planeten Erde mit anderen Geschöpfen teilen. Atmende Geschöpfe wie wir. Fühlende Geschöpfe wie wir. Sterbliche Geschöpfe wie wir.

Dieser historische Verlust ist nicht wiedergutzumachen; wenn eine Tierart ausstirbt, ist sie für immer verschwunden, und die Liste der verschwundenen Tiere, die niemand akkurat führen kann, wird Tag für Tag länger. Und das wiederum zeigt auf einzigartige Weise, wie grotesk unsere Beziehung zu jenem imaginierten, fabrizierten Gebilde ist, das wir „Zukunft“ nennen. Ja, es zeigt, welch gefährliche Illusionen wir uns über die Zukunft machen. In einer Gesellschaft unseres Typs, die sich ansonsten vollständig entmythologisiert hat, ist die Zukunft nämlich das verbliebene mythologische Heilsversprechen: ein Raum voll unendlicher Möglichkeiten, Chancen und, Elon Musk lässt grüßen, Innovationen. Das Problem ist nur: Je weiter wir in diese Zukunft vorstoßen, desto mehr geht uns genau diese Zukunft verloren. Sie schrumpft vor unseren Augen. Indem wir etwa die Atmosphäre jahrzehntelang als Müllkippe behandelt haben, haben wir schon jetzt die nächsten zwei Generationen zahlloser Möglichkeiten und Chancen beraubt, und der Raum an Möglichkeiten wird für die darauffolgenden Menschen noch viel kleiner, je mehr sich das Klimageschehen den berühmten Kipppunkten nähert.

Nun könnte es, im Fall des Klimas, allerdings sein, dass sich, wenn wir kollektiv auf die Nutzung fossiler Rohstoffe verzichten, in einigen hundert Jahren wieder eine Art von atmosphärischem Gleichgewicht einstellt. Für die Tiere – für die Artenvielfalt auf dem Planeten Erde – gilt das jedoch nicht. Was die Tiere betrifft, schrumpft die Zukunft, an der wir Tag für Tag arbeiten, unwiederbringlich, nicht zuletzt deshalb, weil das menschliche Leben von der Vielfalt des Lebens insgesamt abhängt. (Wenn sich etwa der Verlust an Insekten fortsetzt wie bisher, wird die Nahrungsversorgung in etlichen Teilen der Welt früher oder später zusammenbrechen.)

Gleichzeitig, schließlich ist unsere Welt eine Science-Fiction-Welt, wird diese Zukunft, an der wir Tag für Tag arbeiten, selbst zu einem unserer Artefakte: wenn wir die Tiere, die wir zum Aussterben gebracht haben, in Laboren zu rekonstruieren versuchen. Das klingt irgendwie ehrenvoll, aber man braucht sich nur den aktuellen Fall des Nördlichen Breitmaulnashorns ansehen – eine Art, die funktionell ausgestorben ist und nun mit enormen Aufwand und offenem Ausgang nachgezüchtet wird –, um zu begreifen, dass das die vielleicht größte aller unserer Illusionen über die Zukunft ist. Tiere sind nämlich keine erneuerbare Ressource. Tiere sind kein Ingenieursprodukt. Tiere sind gleichberechtigte Lebewesen (um genau zu sein: sie sind „sowohl gleich als auch ungleich“, wie John Berger schreibt), und wenn wir wollen, dass die Zukunft ein Raum voller Möglichkeiten ist, dann müssen wir den Tieren ihren Raum auf dem Planeten zugestehen. Jetzt. In der Gegenwart. Die Tiere sind der ultimative Test, ob wir in der Lage sind zu verstehen, was Zukunft wirklich bedeutet.

Ich empfinde allergrößte Bewunderung für jene Menschen, die sich bemühen, diesen Test zu bestehen. Die, nicht selten unter Einsatz ihres Lebens, für den Erhalt der globalen Artenvielfalt kämpfen. Die sich in ihrem Land oder ihrer Stadt für Schutzgebiete einsetzen. Die Volksbegehren initiieren. Die ihren Garten zu einem Habitat umgestalten. Alles, was man noch bewahren kann, muss bewahrt werden. Nichts davon ist zu klein oder zu unwichtig.

Doch das ominöse Subjekt „Menschheit“ – auch das übrigens eine Erfindung der letzten zweihundert Jahre – wird diesen Test erst bestehen, wenn wir (das heißt: ganz viele von uns) unser Verhältnis zu den Tieren tiefgreifend verändern. Wenn wir völlig neu über das nachdenken, was ein „Mensch“ und was ein „Tier“ ist. Wenn wir verstehen, dass wir in einer Welt existieren, die sich, wie es die Dichterin Marianne Moore einmal gesagt hat, „weder unseren Gesetzen noch unseren Bedürfnissen oder unserem Sinn für Ordnung fügt, sondern nach einer eigenen, größeren, geheimnisvolleren und für uns manchmal auch tragischeren Ordnung funktioniert“. Sollte dieses Szenario eines Tages Realität werden, dann wäre das eine Science-Fiction-Welt, in der ich gerne leben würde.

Und die Tiere ganz sicher auch.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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