8. August 2014 3 Likes 1

Wurde aber auch Zeit!

Zwanzig fantastische Stories von Harlan Ellison, jede einzelne ein Angriff auf den Verstand

Lesezeit: 4 min.

Harlan Wer?, höre ich häufig auf die Frage, ob mein Gegenüber diese oder jene Geschichte von Harlan Ellison kenne. Die Hochphase der Ellison-Rezeption in Deutschland, sofern man hier überhaupt von so etwas wie einer „Hochphase“ sprechen kann, war in den 1970er und 1980er Jahren; zuletzt erschien hierzulande die Novelle „Mephisto in Onyx“ 1996. Jetzt, 2014, in dem Jahr, in dem Harlan Ellison 80 Jahre alt wurde (siehe dazu Dietmar Daths Artikel in der Frankfurter Allgemeinen), ist es allerhöchste Zeit, ihn dem deutschen Leser wahlweise wieder ins Gedächtnis zu rufen oder vorzustellen – was mit dem nun vorliegenden Sammelband „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ (im Shop) gelingen sollte.

Die erste Harlan-Ellison-Geschichte, die ich in meinem Leben je gelesen habe, trägt den eher sperrigen Titel „Vor den Langerhansschen Inseln treibend: Breitengrad 38° 54‘ N, Längengrad 77° 00‘ 13‘‘ W“. Ich fand sie in einer Reclam-Anthologie von 1985, herausgegeben von Joachim Alpers, Werner Fuchs und Ronald M. Hahn, als ich vielleicht 13 oder 14 Jahre alt war, in der illustren Gesellschaft von Jack Vance, Robert Silverberg, Theodore Sturgeon, Roger Zelazny, Stanisław Lem, Ray Bradbury … eine dieser Best-of-Anthologien eben, die zugleich Einstieg und Überblick sein wollen. Während ich mich heute, ehrlich gesagt, nicht mehr daran erinnern kann, worum es eigentlich in Vances Erzählung „Die Mondmotte“ geht, kann ich mehr als detailgetreu wiedergeben, was in den „Langerhansschen Inseln“ geschieht – weil sich vor allem diese Geschichte in mein Hirn gefressen hat wie nur wenig andere Texte. (Und, mal ehrlich: An wie viele „erste Male“ mit einem Autor können Sie sich noch ganz genau erinnern?)

Ich habe diese Story seitdem gefühlte Tausend Mal gelesen, immer wieder zu diesem Reclam-Bändchen gegriffen, sodass es von ganz alleine auf Seite 350 aufklappt, wenn man es in die Hand nimmt. Mit 13 (oder 14) hatte ich schon ausreichend viel Leseerfahrung auf dem Buckel, um zu begreifen, wer die handelnden Figuren sind, aber in dem Alter begreift man nicht mit dem Verstand, worum es geht, wie semantisch überladen jedes Detail ist, wie stark kondensiert alles ist – das kommt erst später. Was man allerdings auch als Teenager auf einer rein gefühlsmäßigen Ebene erfasst, ist ein Gefühl von Wahrheit, als ob ein Schleier weggerissen würde und plötzlich etwas unverhüllt im Blickfeld liegt, das man lieber wieder verbergen würde.


Harlan Ellison © Foto: Privat

Später kamen andere Ellison-Stories („‚Bereue, Harlekin!‘, sagte der Ticktackmann“, „Ich muss schreien und habe keinen Mund“, „Jeffty ist fünf“ und so weiter), die allesamt nicht minder beeindruckend sind. Aber obwohl ich hier die deutschen Titel aufzähle, las ich sie immer im Original – meist stolperte ich durch puren Zufall über eine in irgendwelchen Anthologien. Und, je länger ich mit Mr. Ellisons Prosa auf Reisen in die Abgründe der menschlichen Seele ging, je mehr Zeit ich mit diesem unglaublichen Autor verbrachte, je mehr ich lernte und je besser ich seine Geschichten dadurch verstand, desto schmerzlicher wurde mir bewusst, wie wenig er hierzulande rezipiert wird. Und wie bitter nötig wir es alle hätten, mehr Harlan Ellison zu lesen. Denn vor allem verdanke ich Harlan Ellison eines: Er bringt mich zum Denken. Nicht nur Nachdenken über eine Passage, nicht nur das Interpretieren eines Textes, sondern er hält mein Hirn am Laufen, hält es Wachsam, stößt mich zum Teil mit der bloßen Gewalt, die seiner Prosa inhärent ist, auf Ungerechtigkeiten und Absurditäten, nicht in seinen streckenweise surreal anmutenden Welten, sondern in dem Teil seiner Welt, den wir kennen. Und wenn man einmal daran gewöhnt ist, seine Gedanken zu schärfen wie Messer, kann man nicht mehr damit aufhören.

Warum ein Autor mit so hoher Durchschlagskraft in Amerika wohlbekannt, hierzulande jedoch nur einem eher kleinen Kreis eingefleischter Fans ein Begriff ist, will mir nicht in den Kopf. Sicher, es gibt einige Gründe (Ellison schreibt überwiegend Kurzgeschichten, lässt sich nicht in eine Schublade oder gar eine Vertriebskategorie einordnen, bezieht sich auf tagespolitische Ereignisse und Personen aus dem amerikanischen Alltag etc. etc.), aber irgendetwas in mir weigert sich einfach, das als valide Begründung zu akzeptieren. Und ich gehe einfach davon aus, dass jeder, der in seinem Leben auch nur eine einzige Kurzgeschichte oder beispielsweise Ellisons Essay über den Vorbeiflug der Sonde Voyager I am Saturn aus dem Jahre 1980 gelesen hat, mir zustimmt. Ich hoffe, seine Geschichten attackieren Ihren Verstand ebenso gründlich, wie sie meinen angegriffen haben.

Ach ja: Die „Langerhansschen Inseln“ sind in „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ auch enthalten, unter dem langen Titel „Hilflos Wind und Wellen ausgeliefert vor der Küste der Langerhansschen Inseln: 38° 54‘ Nördliche Breite, 77° 00‘ 13‘‘ Westliche Länge“.

Harlan Ellison: Ich muss schreien und habe keinen Mund • Erzählungen • Herausgegeben und mit einem Vorwort von Sascha Mamczak • 671 Seiten • € 14,99 (im Shop)

Diese Collection enthält die Stories:
• „Bereue, Harlekin!“, sagte der Ticktackmann (1965)
• Die Stadt am Rande der Welt (1967)
• Ich muss schreien und habe keinen Mund (1967)
• Zauberhafte Maggie Moneyeys (1967)
• Die Bestie, die im Herzen der Welt ihre Liebe hinausschrie (1968)
• Ein Junge und sein Hund (1969)
• Hilflos Wind und Wellen ausgeliefert vor der Küste der Langerhansschen Inseln: 38° 54’ Nördliche Breite, 77° 00’ 13’’ Westliche Länge (1972)
• Das Winseln geprügelter Hunde (1973)
• Der Todesvogel (1973)
• Ich suche Kadak (1974)
• Croatoan (1975)
• Die bessere Welt (1976)
• Jeffty ist fünf (1977)
• Das Nachtleben auf Cissalda (1980)
• Zähl ich den Glockenschlag, der Stunden misst (1978)
• Die Wächter der verlorenen Stunde (1985)
• Das weiche Äffchen (1987)
• Warum wir träumen (1988)
• Der Mann, der Christoph Kolumbus an Land ruderte (1991)
• Mephisto in Onyx (1993)

Kommentare

Bild des Benutzers Shrike

Ich staune, merke mir vor, bin gespannt und werde lesen - in dieser Reihenfolge!

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