9. Oktober 2014 1 Likes 1

Gänsehautentzündung

Michael Fabers Roman „Die Weltenwanderin“ und Jonathan Glazers Kinoadaption „Under The Skin“

Lesezeit: 4 min.

Mit seinem Romandebüt „Under The Skin“ veröffentlichte der gebürtige Holländer und Wahl-Schotte Michel Faber im Jahr 2000 eine wunderbar fiese SF-Fabel, die es schaffte, den allegorischen sozialen Impetus von George Orwells „Animal Farm“ mit den Pulp-Fantasien eines Ray Bradbury und dem psychologischen Realismus Dostojewskis und Fontanes zu vereinen.

In Deutschland unter dem Titel „Die Weltenwanderin“ (Kiepenheuer & Witsch; leider vergriffen) veröffentlicht, erzählt der Roman die Geschichte der jungen Isserley, die scheinbar ziellos in ihrem kleinen roten Corolla durch die schottische Landschaft fährt und Anhalter aufgabelt. Die ersten Kapitel lassen den Leser im Unklaren über Isserleys Motive – doch eine Reihe wiederkehrender Fantasiewörter sowie die besondere Sichtweise der Frau auf ihre Umwelt und vor allem auf die Männer am Straßenrand lassen schnell vermuten, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Im weiteren Verlauf wird dann klar, was eigentlich los ist: Isserley arbeitet als Jägerin, als Abgesandte einer außerirdischen Spezies, die auf der Erde männliche Exemplare der Gattung Mensch in freier Wildbahn erlegt und in einer geheimen Anlage zu Steaks, Schnitzeln und Innereien verarbeitet, die dann in ihrer Heimat als Delikatessen verkauft werden.

Diese etwas krude SF-Prämisse dient Faber als Folie, vor der er – immer aus der hochpersönlichen und psychologisch fundierten Perspektive seiner Protagonistin – scheinbar beiläufig, aber erzählerisch meisterhaft die Frage stellt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Der narrative Trick besteht hier darin, die Aliens als „human beings“ zu bezeichnen, während er den Menschen den Fantasienamen „vodsels“ verleiht. Wir lesen die Geschichte aus der Sicht der Fremden, während unsere eigene Gattung zu Vieh degradiert wird. Mit dieser Umkehrung ermöglicht Faber einen neuen, frischen Blick auf das Thema Fleischkonsum und Vegetarismus, ein Motivkomplex, der nicht zuletzt durch Isserleys Diskussionen mit einem außerirdischen Tierrechtler immer wieder in den Fokus rückt.


Wann ist ein Mensch ein Mensch? – Scarlett Johansson in „Under the Skin“

Isserley selbst ist – wie es der deutsche Titel andeutet – eine Wanderin zwischen diesen beiden Welten – chirurgisch verändert und äußerlich zu einem Vodsel umgestaltet, um ihrer Lockvogelrolle gerecht werden zu können. Diese Manipulation sowie eine lange Historie traumatischer Erfahrungen, die sie wiederholt in eine Außenseiterrolle  drängten, machen Isserley gleichzeitig zum expositorischen Sprachrohr ihrer Art und zu einer Figur des Ausbruchs aus deterministischen Konventionen. Innerlich und äußerlich verletzt löst sich die Jägerin schließlich aus ihren gesellschaftlichen Fesseln und flieht aus den engen Grenzen ihrer professionellen Bestimmung. Ein Kraftakt, der ihr aber – ganz wie anderen Heldinnen des Realismus, etwa einer ganzen Reihe Fontanescher Frauenfiguren – nur bedingt gelingt. Das endgültige Loslösen von ihren Wurzeln und die schließliche Assimilation an eine schöne neue Welt bleiben ihr verwehrt.

Bei seiner Verfilmung des Stoffes setzt der britische Regisseur Jonathan Glazer (Sexy Beast, Birth) jedoch weniger auf Realismus, sondern etabliert in seinem bisher experimentellsten Film eher so etwas wie einen abstrakten Naturalismus. Dabei verzichtet er gänzlich auf narrative Exposition sowie weitgehend auf Dialoge und vermittelt den außerirdischen Charakter seiner Protagonistin durch einen harschen Wechsel surrealistisch-impressionistischer Tableaus und fast schon spürbar nasskalter naturalistischer Panoramaaufnahmen der schottischen Winterlandschaft. Seine Isserley (ein Name, der im Film nie fällt) ist eine kühl distanzierte Beobachterin, deren innere Entwicklung von der willigen Befehlsempägnerin zur neugierigen und proaktiven Ausreißerin Glazer komplett von den inneren Monologen des Romans entkoppelt.


Erst distanzierte Beobachterin – Scarlett Johansson in „Under the Skin“

Mit rein filmischen Mitteln (Schnitt, Kamera, Score, mise-en-scène) stellt er zunächst seine Heldin und ihre Aufgabe vor: die langen Fahrten durch schottische Metropolen und Einöden, die Kontaktaufnahme mit ihren Opfern und schließlich der Verführungstanz – all das wird leitmotivisch vor allem durch die kongeniale Musik von Mica Levi und den harschen Kontrast zwischen teilweise mit versteckter Kamera in ganz realen Situationen gedrehten Straßenszenen und höchst stilisierten, symbolschwangeren Studioaufnahmen zur verstörend eindringlichen Darstellung einer psychosexuell konnotierten Tötungs- und Verwertungsmaschinerie. Dabei nimmt Glazer immer wieder Elemente der Vorlage und zitiert sie visuell – etwa der Schnee, der sich buchstäblich aus heiterem Himmel materialisiert oder Isserleys Jacke aus Kunstfell, die auf ihre außerirdische „tierische“ Identität verweist.

Doch bleiben die ganz konkreten Ausführungen und detaillierten Darstellungen der kommerziellen Mastanlage und Fleischverwertung des Romans gänzlich außen vor. Diesem maschinistischen SF-Aspekt setzt er eine Reihe impressionistisch-experimenteller filmischer Mittel entgegen, die die Fremdheit der ungeheuerlichen Vorgänge zusätzlich noch betonen. Und als seine Protagonistin beginnt, wenn nicht unbedingt Gefühle, so doch eine gewisse empathische Neugierde für das „Vieh“ zu entwickeln, nähert sich Glazer dem Hauptthema der Vorlage immer weiter an: „Under The Skin“ – Roman wie Film – stellt die Frage, was sich sowohl metaphorisch als auch ganz buchstäblich unter der Haut befindet und inwieweit Erscheinungen das Denken determinieren, das Sein das Bewusstsein bestimmt. Isserley löst sich aus ihren Zwängen – eine rein emotionale Entscheidung, die sie schließlich mit ihrem Leben bezahlt, als sie von der Jägerin zur Gejagten und zum Opfer eines bislang von ihr selbst repräsentierten Darwinismus wird.

Mit einer beeindruckend uneitlen und dezent-zurückhaltenden Scarlett Johansson in der Hauptrolle sowie einem großartigen männlichen Arsenal segelohriger, hühnerbrüstiger, zahnlückiger und anderweitig entstellter Schotten ist Jonathan Glazer nun bereits zum dritten Mal in Folge ein herausragender Film geglückt, der die Kubrickbezüge seines Vorgängers „Birth“ mit den experimentellen Ansätzen eines Gaspar Noé verbindet. Mit langem Atem und ruhiger Hand erschafft er eine gleichzeitig gänzlich fremde und zutiefst vertraute Welt aus der Perspektive einer Heldin, die ganz tief unter ihrer künstlichen Haut vor allem eins ist: ein Mensch.

„Under The Skin – Tödliche Verführung“ ist ab dem 10.5. bei uns auf Blu-ray und DVD erhältlich.

Under The Skin – Tödliche Verführung (UK 2013) • Regie: Jonathan Glazer • Darsteller: Scarlett Johansson, Jeremy McWilliams, Lynsay Taylor Mackay, Dougie McConnell

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Es gibt übrigens eine Eigeninitiative von Kinos, die den Film jetzt doch noch auf die Leinwand bringt: http://undertheskin-film.de

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