27. Juli 2019

Dystopie mit starkem Wellengang

Comic-Neuausgabe: „Mondgesicht“ von Jodorowsky und Boucq

Lesezeit: 3 min.

Den chilenischen Tausendsassa Alejandro Jodorowsky kennt man für den surrealen Multimedia-Western „El Topo“, seine auf spektakuläre Weise gescheiterte „Dune“-Verfilmung und Comics wie den Science-Fiction-Klassiker „Der Incal“ mit Moebius oder den rauen Western „Bouncer“ mit François Boucq. Die erste Zusammenarbeit von Jodorowsky und Boucq für den frankobelgischen Markt kam Anfang der 90er zustande. Nun legt Schreiber & Leser ihr erstes Panel-Werk „Mondgesicht“ neu auf.

Das titelgebende Mondgesicht heißt eigentlich Borrado, sein Spitzname lautet Moon. Den verdankt der stumme, kindliche Außenseiter seinem weißen Smiley-Gesicht mit nur rudimentären Zügen. Borrado und seine wackere Freundin Isha leben auf der dystopischen Insel Damanuestra, die in einem verseuchten Ozean liegt und ständig von Tsunamis getroffen wird. Über die Insel, die von Bunkern, Tunneln und Höhlensystemen durchzogen ist, herrscht eine tyrannische Familie, die ihr Geld einst mit Eiern machte, unterstützt von einem katholisch anmutenden Geheimdienst. Während die Regenten ihre Diener foltern und deportieren und die Rebellen im labyrinthischen Untergrund des Inselstaats vom Aufstand träumen, berauschen sich die Fischer eines schwer zugänglichen Küstendorfs an der blutigen Tötung verstrahlter Wale sowie an bizarren Fruchtbarkeitsritualen. Als der unverwüstliche Borrado dabei gefilmt wird, wie er die Riesenwellen eines Tsunamis mit seinem Willen kontrolliert und fröhlich zwischen ihnen tanzt, weckt das die Furcht der Herrscher vor dem Umsturz. Soldaten werden ausgesandt, um das Mondgesicht zu schnappen …

Jodorowsky und Boucq realisierten „Mondgesicht“ Stück für Stück im Stil einer Fortsetzungsgeschichte, was man der Story durchaus anmerkt: Es gibt schwächere und stärkere Episoden der Handlung, manchmal in direkter Folge: Der gelungenen, intensiven Szene, in der Mondgesicht einen Wal vor den grausamen Fischern im Blutrausch retten will, folgt so etwa eine bizarre Sequenz, in der ein Sektenführer in einer Höhle besagte Fischer anstachelt, bis die Fanatiker einem Helden mit Riesenumschnalldildo zujubeln, der eine Scheintote aus dem Bauch eines Wals begatten soll – typisch Jodorowsky. Dasselbe kann man über die satirische Darstellung der dekadenten Regenten und ihrer degenerierten Schergen sagen. Das Pornografische, das Schmutzige, das Derbe, das Krasse und das Mystische mochte man entweder schon immer an Jodorowskys Comics oder konnte es zumindest tolerieren –plötzlich lieben wird man es andernfalls kaum, Erleuchtungen gibt’s nur in seinen Werken. Und natürlich heißt das Lesen von Jodorowsky auch immer, mit den Implikationen der Elemente zu jonglieren und bei der Deutung die richtigen Schlüsse zu ziehen und die angedachten Ziele der grellen, übertriebenen Satire zu identifizieren.

Das Artwork von Boucq, der im Verlauf seiner Karriere z. B. noch einige Male mit Autor Jerome Charyn („Teufelsmaul“, „Die Frau des Magiers“) zusammenarbeitete, zeichnete sich dagegen schon immer durch klare Striche und Konturen und eine tolle Architektur aus. Das gilt für die Seitenlayouts wie für das, was auf den Seiten dargestellt ist. Umso passender, dass eine Kathedrale im ersten Band gegen Ende ziemlich wichtig wird, zumal der 1929 geborene Jodorowsky und der 1955 geborene Boucq sich gleichermaßen für Spiritismus begeistern, der sie im Schatten des Doms der Stadt Amiens zusammenführte, wo sie den Grundstein ihrer Geschichte legten. Keine Frage, Boucq gehört zu den Großen aus Frankreich und den markanteren Vertretern der Neunten Kunst, daran hat sich in den letzten gut dreißig Jahren nichts geändert und das sah und sieht man bereits in „Mondgesicht“. Die Zeit mag das Science-Fiction-Dekor von Damanuestra hier und da eingeholt haben, doch die Wirkung der meisten Bilder bleibt unangetastet, ungemindert.

Die schöne „Mondgesicht“-Neuausgabe hat vom Start weg starken Wellengang: Visuell überzeugend, inhaltlich mit Höhen und Tiefen, doch überwiegt zum Auftakt der gute Eindruck. Das zweite Album soll im März 2020 erscheinen.

Abb. © Éditions Du Lombard (Dargaud-Lombard s.a.) 2018, by Jodorowsky, Boucq

Alejandro Jodorowsky & François Boucq: Mondgesicht Bd. 1 • Schreiber & Leser, Hamburg 2019 • 138 Seiten • Hardcover: 29,80 Euro

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