16. Juni 2020 2 Likes

Finsteres Schneewittchen

Colleen Dorans Comic-Adaption von Neil Gaimans „Snow, Glass, Apples“

Lesezeit: 2 min.

Die amerikanische Künstlerin Colleen Doran setzte bereits Science-Fiction-Comics wie „Orbiter“ von Warren Ellis (im Shop) oder ihre eigene Space Opera „A Distant Soil“ um, aber auch die Memoiren von Marvel-Vater Stan Lee oder den Endzeit-Thriller „The Clock“. Daneben steuerte sie Artwork zu Neil Gaimans (im Shop) bahnbrechender „Sandman“-Serie bei und adaptierte dessen Kurzgeschichte „Trollbrücke“. Im Sommer 2019 setzte sie darüber hinaus Mr. Gaimans Prosa-Story „Schnee, Glas, Äpfel“ alias „Snow, Glass, Apples“ in Form eines außergewöhnlichen Comic-Bandes um. Dafür erhielt sie schon den Bram Stoker Award, zudem ist sie aktuell als beste Künstlerin und aufgrund der besten Adaption gleich für zwei Eisner Awards nominiert.

Ursprünglich nutzte Gaiman seine finstere „Schneewittchen“-Fassung aus Sicht der vermeintlich bösen Königin, um ein akademisches Symposium zum Thema Mythen und Märchen aufzumischen – was ihm mit seiner brutalen Variation der Volkssage voller Vampirismus und Nekrophilie garantiert gelungen sein dürfte. Ab 1994 wurde die tolle Gaiman-Story in diversen Anthologien veröffentlicht, auf Deutsch etwa in der Sammlung „Die Messerkönigin“ bei Heyne. Colleen Doran gelingt es in ihrer Adaption, sowohl den zeitlosen Zauber des Märchenklassikers als auch den düsteren Horror-und-Fantasy-Vibe von Gaimans cleverer Neuinterpretation zu beschwören. Doran und Gaiman sind überdies beide große Bewunderer des Buchillustrators und Glasmalers Harry Clarke (1889–1931), der ein noch früherer Einfluss auf Doran war als z. B. Manga. Also setzte die US-Künstlerin Gaimans dunkle, gruselige Schneewittchen-Spiegelung in extrem aufwendigen und detailreich gestalteten, oft geradezu überbordenden und fluiden Doppelseiten um, die britische Glasmalereien, europäischen Jugendstil und japanischen Comic vereinen.

Auf Sprechblasen verzichtet sie hingegen ganz, Gaimans Prosa steht ausnahmslos in nie störenden Textkästen. So verewigte Doran die unvergessliche Story des englischen Genre-Superstars („American Gods“, „Good Omens“) in einer stimmungsvollen, superben Bildergeschichte, die selbst Comic-Skeptiker begeistern wird. Einem besonderen und bestechenden Werk, das so markant, düster und schön geraten ist, dass ich das US-Hardcover seit der Lektüre vor vielen Monaten hier neben mir auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer liegen habe und es einfach nicht über mich bringe, es ins Regal zu stellen und dann nicht mehr zwischendurch darin zu blättern oder nur das Cover anzusehen …

Splitter, Dantes oder sonst ein deutscher Verlag? So egal wie die Namen der Zwerge, die bei Gaiman und Doran bloß eine Nebenrolle spielen – man kann sich nur wünschen, dass dieser märchenhaft gute Comic, mit oder ohne Eisner, eine deutschsprachige Ausgabe erhalten wird.

Abb.: © Colleen Doran/Dark Horse

Neil Gaiman & Colleen Doran: Snow, Glass, Apples • Dark Horse, Milwaukie • 64 Seiten • Hardcover: $ 17,99

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.