1. September 2017 1 Likes

Der leichtfüßige Riese

Eine Erinnerung an den Science-Fiction-Dichter und -Denker Brian W. Aldiss

Lesezeit: 7 min.

Nein, es ist nicht mehr so wie früher. Wirklich nicht. Kaum mehr denkbar wäre heute ein Abend wie der, an dem ich Brian Wilson Aldiss zum ersten Mal begegnet bin. Das Münchner Kulturreferat und das British Council hatten den in Deutschland leidlich bekannten englischen Autor eingeladen, eines seiner Bücher vorzustellen. Nicht seinen neuesten Roman wohlgemerkt oder überhaupt einen Roman, sondern seine (gemeinsam mit David Wingrove erweiterte) Genre-Aufarbeitung „Trillion Year Spree“. Brian W. AldissUnd so ging es an jenem Abend im Gasteig, dem notorischen Versammlungsort des Münchner Bildungsbürgertums, darum, was das eigentlich ist, „Science-Fiction“, wo es herkommt, wie es sich entwickelt hat und warum es, den abfälligen Wertungen des zünftigen Kulturbetriebs zum Trotz, einen so enormen kulturellen Einfluss hat. Und so stand dort der schlaksige man of letters Brian Aldiss – einer jener Menschen, von denen man sofort weiß, wenn sie einen Raum betreten – und trug frei von akademischen Allüren und mit dieser einzigartigen britischen Ironie, die zwischen „ernst gemeint“ und „ernsthaft“ unterscheidet, seine Überlegungen dazu vor. Das war, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, Ende der 1980er Jahre. Und wenn mich die Patina aus Nostalgie nicht trügt, die um diese Veranstaltung gewachsen ist, hat sich an jenem Abend von unserem Universum eine Alternativwelt abgespalten, in der die Science-Fiction endlich den ihr gebührenden Platz unter den Künsten eingenommen hat: als Möglichkeit, etwas Wahres darüber zu erzählen, was wir lediglich imaginieren, dass einmal wahr sein könnte. Welche andere Kunst – welche andere Ästhetik – kann das schon?

Brian W. Aldiss
Brian W. Aldiss (1925–2017)

Wir hier jedoch leben weiter in unserer Welt der „Sci-Fi“ und der „Nerds“ und der „Reboots“ und der „Dystopien“ und was es sonst noch an kruder Terminologie gibt, aber trotzdem darf man sich Brian Aldiss, der wie kaum ein anderer Schriftsteller den Anspruch des Genres verkörperte, einen wertvollen Beitrag zum Menschheitsprojekt zu leisten, nicht als traurigen Tropf vorstellen. Nicht nur die in der britischen Science-Fiction verbreitete Abneigung, sich in eine Schublade zwängen zu lassen (in dieser Hinsicht waren Autoren wie M. John Harrison, Iain Banks oder China Miéville Aldiss’ würdige Nachfolger), half ihm dabei, sich immer wieder munter bergauf ins literarische Schlachtgetümmel zu stürzen; die Schublade selbst war in seinem Heimatland seit jeher viel geräumiger als anderswo.

Brian W. AldissUnd so ist es zwar völlig angemessen, dass Aldiss, der am 19. August kurz nach seinem zweiundneunzigsten Geburtstag in Oxford gestorben ist, in den meisten Nachrufen als „grand old man of British science fiction“ bezeichnet wurde (auch wenn etliche seiner Bücher „non-fiction“ oder sogar ziemlich bodenständige „general fiction“ waren). Aber im Gegensatz zu zahllosen anderen SF-Autoren seiner Generation – im Gegensatz übrigens auch zum berühmtesten britischen SF-Autor seiner Generation, Arthur C. Clarke – war Aldiss nie Teil einer futurologischen „ideas industry“, der es darum geht, einen Einfall, vulgo: eine Vision, in ein möglichst zweckdienliches sprachliches Korsett zu zwängen. Aldiss liebte Ideen, keine Frage, aber noch viel mehr liebte er die Sprache selbst; ja, nicht selten war die Sprache die eigentliche Idee. Bei späteren Begegnungen, meist auf Conventions, wurde mir das regelmäßig bewusst, wenn Aldiss in Diskussionsrunden oder abendlichen Gesprächen an der Bar auf Genauigkeit pochte: Man erzählt nie nur einfach so von etwas, man erzählt immer auf eine bestimmte Weise von etwas – auch und gerade wenn die Geschichte im „inner“ oder „outer space“, jedenfalls jenseits der bekannten Realität, angesiedelt ist. Was mir natürlich lange vorher hätte bewusst werden können, etwa bei der Lektüre seiner frühen Romane wie „Non-Stop“ oder „Hothouse“, die schon Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre viel mehr waren als nur in Prosa gegossene Populärwissenschaft. Natürlich liegt „Hothouse“ eine grandiose Idee zugrunde – wir sind in einer fernen Zukunft, in der die Rotation der Erde praktisch zum Stillstand gekommen ist und sich auf der sonnenzugewandten Seite des Planeten eine bizarre Pflanzenzivilisation entwickelt hat –, aber wenn man das Buch liest, kommt es überhaupt nicht darauf an, wie realistisch oder gar wie wissenschaftlich diese Idee ist, sondern man versinkt in einer Welt aus Drippellippen, Kuschelwuscheln, Fisteldisteln, Schnappklappbäumen, Milchbilchen und Mulmulmen; einer Welt, die so weit weg von unserer ist, dass sie uns ziemlich viel über unsere sagen kann. „Hothouse“ (auf Deutsch als „Am Vorabend der Ewigkeit“ und „Der lange Nachmittag der Erde“ erschienen) war der erste Roman von Brian Aldiss, den ich gelesen habe, und bis heute gehört er zu den wenigen Romanen, in denen ich mich immer wieder verlieren kann. In seiner wilden sprachschöpferischen Kreativität, die stets die Geschichte im Auge behält, ist er ein Musterbeispiel dafür, was die Kunst der Science-Fiction vermag, wenn man sie spielerisch ernst nimmt: Sie zeigt uns, dass Fantasie keine Fantasy ist.

Brian W. AldissBrian Aldiss’ Fantasie war, um ein Klischee zu bemühen, unerschöpflich; bis ins hohe Alter schrieb er praktisch jeden Tag, und am Ende seines Lebens konnte er auf über vierzig Romane und Kurzgeschichtensammlungen, auf zahlreiche Essay- und Gedichtbände, auf Reisebücher und reichlich Autobiografisches zurückblicken. Und Aldiss’ Fantasie war nicht kategorisierbar (wenn es denn überhaupt sinnvoll ist, die Produkte einer Fantasie kategorisieren zu wollen). War Aldiss „New Wave“? Keine Ahnung. An manchen Tagen denke ich, dass die New Wave ohnehin nur aus einem genial-spleenigem Herausgeber, Michael Moorcock, und einem genial-spleenigem Autor, J. G. Ballard, bestand; an anderen Tagen bin ich überzeugt, dass die New Wave ganz unabhängig von ihren Protagonisten ein kreatives Spannungsfeld war – nicht unähnlich dem, was etwa zur selben Zeit als „New American Cinema“ firmierte –, das Künstlern die Gelegenheit bot, die zu werden, die sie waren. Ganz sicher kam die New Wave Aldiss’ Experimentierfreude, seinem Hang zu Surrealismus und Symbolismus und seiner politischen Sensibilität entgegen, und wir verdanken dieser Periode so denkwürdige Phantasmagorien wie „Report on Probability A“ oder „Barefoot in the Head“, die, mit der entsprechenden Aufmerksamkeit gelesen, gar nicht so enigmatisch waren, wie sie zu sein vorgaben. Aber Aldiss stellte seine Kunst nie irgendeinem Trend zur Verfügung, sondern tänzelte von einer Ausdrucksform zur anderen, verneigte sich vor Mary Shelley, Olaf Stapledon und H. G. Wells, frönte dem Vergnügen am Niedergang der Zivilisation (sein vielleicht bester, auf jeden Fall stimmigster Roman „Greybeard“ fügt sich nahtlos in diese dezidiert britische Tradition), baute mit der „Helliconia-Trilogie“ über einen Planeten, dessen Jahreszeiten viele Jahrhunderte andauern, eine Science-Fiction-Welt reinsten Wassers (die sich sogar um die science bemühte) und gönnte sich allerlei Eigensinnigkeiten und Exzentrizitäten wie etwa den gemeinsam mit dem Physiker Roger Penrose geschriebenen Roman „White Mars“. Leichtfüßig und unbekümmert, nie mit der Maßgabe, an seinem „Profil“ zu feilen oder sein „Werk“ zu kontrollieren, konstruierte er über die Jahrzehnte ein ganz eigenes literarisches Ensemble, und wenn es dort auch kein klar auszumachendes bauliches Leitmotiv gibt, dann doch einen Fokussierungspunkt, wie man ihn am Ende von Blickachsen findet: Seine Science-Fiction protzte nicht. Es waren keine Heldengeschichten, die er erzählte, sondern immer Geschichten vom Staunen und Lernen, vom Denken und Träumen, vom Fragen und Zweifeln. Aldiss war ein literarischer Riese, und in den weiten Gefilden der Science-Fiction stellte er so manch bekannteren Riesen in den Schatten, aber es gibt kein Buch von ihm, das bewusst oder unbewusst sagt: Seht her, ich bin bedeutsam, ich bin ein großes Buch.

Brian W. AldissBrian Aldiss hatte das wunderbare Talent, eine Science-Fiction-Geschichte so zu erzählen, als sei das Erzählte völlig normal; normal nicht in dem Sinn, dass das alles einfach so geschieht, sondern in dem Sinn, dass wir Teil davon sind. Man lese nur die berühmte Story „Supertoys Last All Summer Long“, aus der Stanley Kubrick nach 2001 unbedingt einen weiteren „epochalen“ Science-Fiction-Film machen wollte, aber dem selbstgestellten Anspruch offensichtlich nicht gerecht wurde (von seiner Zusammenarbeit mit Kubrick bei diesem Projekt, das schließlich von Steven Spielberg umgesetzt wurde, hat Aldiss oft und gerne berichtet). Die Story beginnt mit dem Satz: „In Mrs. Swintons Garten war immer Sommer, die reizenden Mandelbäume standen dort in ewiger Blüte.“ In der Folge geht es um den Androidenjungen David und wie er die Welt sieht, aber nichts ist hier, obwohl so Visionär-Menetekelhaftes wie eine künstliche Intelligenz im Mittelpunkt steht, futuristisch, nichts ist hier ein „Thema“ oder die Vorwegnahme einer „Debatte“. Erzählt wird schlicht von David, und das Wichtigste, was wir von ihm wissen müssen, ist bereits in diesem ersten Satz enthalten (wer bei Spielbergs Verfilmung A.I., einem, man verzeihe mir noch ein Klischee, sträflich unterschätzten Film, genau aufpasst, entdeckt die visuelle Entsprechung dieses Satzes). David mag ein Android sein, aber er ist verletzbar. So wie die Bewohner des Planeten Helliconia verletzbar sind. So wie die Menschen auf einer Erde am Ende der menschlichen Geschichte verletzbar sind. So wie ein Schriftsteller und seine Worte verletzbar sind. So wie wir alle verletzbar sind.

Ich glaube (auch da könnte mich mein Gedächtnis trügen), das letzte Mal habe ich Brian Aldiss auf einem Science-Fiction-Kongress in Nantes gesehen, wo er, von französischen Fans sanft gedrängt, sein Zwei-Personen-Stück über Philip K. Dick aufführte und sich später am Abend beim üppigen Büffet darüber lustig machte, dass die meisten Kritiker einfach nicht verstehen, welch intellektueller Reichtum in der Science-Fiction steckt: „They just don’t get it, the poor lads.“ Brian Aldiss hat auf diesen Reichtum nicht nur aufmerksam gemacht, sondern er hat auch alles ihm Mögliche getan, um diesen Reichtum zu mehren. Das ist nun Vergangenheit, aber wenn ich zurückdenke, denke ich an einen sehr britischen man of letters, der im Münchner Gasteig von der Science-Fiction schwärmt, als sei das völlig normal.

Es ist nicht mehr so wie früher, aber zumindest hier, in meiner Erinnerung, ist es immer Sommer.

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