20. Mai 2015 3 Likes

Kann es sein, dass Weibsvolk anwesend ist?

George R. R. Martin und Gardner Dozois präsentieren die Anthologie „Königin im Exil“

Lesezeit: 5 min.

Selbst die ambitioniertesten Genre-Kleinverlage aus Deutschland und Österreich fahren ihr Anthologie-Engagement nach ausreichend ernüchternden Negativerfahrungen deutlich zurück, und große Verlage sehen Kurzgeschichtensammlungen für gewöhnlich ohnehin als Kassengift. Doch der Hype um „Game of Thrones“ ist wohl tatsächlich so gewaltig, dass man anscheinend alles veröffentlichen kann, das in der Buchhandlung neben den Bänden der erfolgreichen Fantasy-Bestseller-Saga von George R. R. Martin gestapelt werden kann, und so kommt der deutschsprachige Leser erstmals in den Genuss einer jener viel gelobten Anthologien, die Martin und Gardner Dozois im Englischen seit Jahren gemeinsam als Herausgeber zusammenstellen.

Die Übersetzung der mit dem World Fantasy Award geadelten Prosa-Kollektion „Dangerous Women“ – sicherlich ein Wink in Richtung von Harlan Ellisons (im Shop) Anthologie-Meilenstein „Dangerous Visions“ – kommt auf Deutsch als „Königin im Exil“ mit einem Umfang von satten 1120 Seiten daher und bietet Kurzgeschichten und Novellen aus allen Genres. Der gemeinsame Nenner dieser Geschichten zeigt sich darin, dass sie sich auf die eine oder andere Weise allesamt Frauenfiguren widmen oder zumindest als wichtiges Element der Handlung vorweisen können, ob in der postapokalyptischen Zukunft, der amerikanischen Vorstadt, dem Wilden Westen, diversen fantastischen Welten oder GRRMs Westeros.

Für den Science-Fiction-Anteil im Band sorgen diese Autorinnen und Autoren: Etwa Melinda Snodgrass mit ihrer Geschichte über eine konservative Menschheit, die Frauen und genmodifizierte Aliens nicht gut behandelt, und einen Politiker, der nach einem verschwitzten Stripclub-Besuch die Quittung bekommt. Genre-Veteranin Nancy Kress entführt derweil in eine apokalyptische Welt nach der Unfruchtbarkeits-Seuche, in der die letzten Menschen in Rudeln durch die Überreste der Zivilisation streifen. Dabei spürt Kress der Frage nach, was eine Kunst wie Ballett in dieser rauen Zukunft, in der Stärke und Sex alles bedeuten, eigentlich noch wert ist. Diana Rowland erzählt in einer der besten Geschichten der Sammlung wiederum von einem korrupten Cop und einer Tänzerin in einem New Orleans, das verkommt, weil der Mississippi nach der so genannten Veränderung seinen Lauf geändert hat. Alternativwelt-Spezialist S. M. Stirling zeigt, wie einem Vergewaltiger der Prozess gemacht wird in der Ära nach dem Change, als alle Maschinen versagten und alle Elektrizität versiegte, weshalb die Menschen in Amerika wieder sehr einfach und ländlich leben und sich in Sachen Glaube, Militär und Kultur auf keltische Traditionen stützen. Und Caroline Spector taucht für eine Mutter-Tochter-Geschichte in George R. R. Martins „Wild Cards“-Universum voller Superwesen und Mutanten ein, die darin seit der Alien-Virus-Bombe von 1946 anzutreffen sind.

An den Randbereichen und in der Nachbarschaft der Science-Fiction trifft man im Band Megan „Robin Hobb“ Lindholm, die eine grandiose Story darüber verfasst hat, wie es ist, alt zu werden, und wie wir mit älteren Menschen umgehen – dazu gibt es einen Blick durch den Nebel in eine endzeitlich anmutende Spiegelwelt. Diana Gabaldon erzählt in einem Historienabenteuer im 1740 die Vorgeschichte ihrer „Highlander“-Zeitreise-Saga, die als „Outlander“ zur TV-Serie wurde – der Schotte Jamie verdingt sich in Gabaldons Prequel als Söldner in Frankreich. Die u. a. mit dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnete SF-Autorin Pad Cadigan schreibt außerdem über zwei Schwestern, die einer Verschwörung in einem Altenheim auf die Schliche kommen, und integriert Apps und E-Books auf sehr unaufdringliche Art und Weise in ihre Geschichte. Die mit dem Locus Award prämierte Cecilia Holland legt den Fokus ihrer historischen Erzählung hingegen auf eine kaputte britische Königsfamilie.

Für fantastischen Stoff zeigen sich unterdessen noch folgende Autoren verantwortlich: Bestseller-Garant Brandon Sanderson (im Shop) präsentiert eine starke, atmosphärische Erzählung über eine ungewöhnliche Kopfgeldjägerin aus seinem Coserme-Universum. Jim Butcher widmet sich in einer sympathischen, spaßigen Urban-Fantasy-Story der Schülerin seines populären Magiers und Problemlösers Harry Dresden – die Geschichte macht definitiv jeden Nichtleser heiß auf Butchers Serie, sollte wegen der Spoiler aber vielleicht mit Vorsicht genossen werden, wenn man da empfindlich ist. Lev Grossman hat eine junge Zauberin an einem magischen Internat im Gepäck und Sherrilyn Kenyon schreibt über Geister- und Schatzsucher – die zwei schwächsten Geschichten im Band, und auch Sam Skyes Story über die düsteren, elfen-artigen Shicts aus seiner „Die Tore zur Unterwelt“-Romanserie überzeugt nur bedingt.

In der historischen Titelstory von Bestseller-Autorin Sharon Kay Penman dreht sich alles um Konstanze von Sizilien. Klingen-Autor Joe Abercrombie setzt eine weibliche Desperado in einer staubigen Western-Action-Story in Szene, und Alleskönner Joe R. Lansdale schreibt in seiner typischen, ungekünstelten Art über einen alten Wrestler, der im Bann einer düsteren Femme fatale steht. Carrie Vaughn nimmt den Leser mit an die Front des Zweiten Weltkriegs, wo eine ehrgeizige russische Kampfpilotin zum Fliegerass werden möchte, und Krimi-Meister Lawrence Block offeriert eine krasse, harte, sexuell verdrehte Noir-Story über einen Mann, mit dem es die Frauen nicht gut meinen, und der es erst recht nicht gut mit den Frauen meint. Megan Abbott legt darüber hinaus eines ihrer subtilen, verstörenden, superb geschriebenen Krimi-Filets vor, das beweist, dass ein ins Deutsche übersetzter Roman von Frau Abbott definitiv nicht ausreicht und hier dringend Handlungsbedarf besteht.

Zum krönenden Abschluss gibt es noch eine Novelle von George R. R. Martin (im Shop) höchstpersönlich, der als Chronist aus der Vergangenheit seiner Sieben Königslande berichtet und sich einem früheren Konflikt um den Eisernen Thron widmet, der mit ordentlich Blut und Drachenfeuer geführt wurde. Trotz der heraldischen Überdosis aus gewohnt vielen Namen und Orten ein Fest für GRRM-Fans, insofern sie gerne J. R. R. Tolkiens „Silmarillion“ gelesen haben.

„Königin im Exil“ enthält für jeden genug lesenswerte Geschichten – nicht nur für Alice Schwarzer. Betrachtet man sich den hiesigen Markt, fällt es nicht schwer, die seitenstarke Sammlung aufgrund des hohen qualitativen Durchschnitts der 21 Texte als die derzeitige Königin unter den auf Deutsch verfügbaren Anthologien mit SF- und Fantasy-Tendenz zu bezeichnen.

Bitte mehr davon! Zum Beispiel die Antihelden/Schurken-Anthologie „Rogues“ von Martin und Dozois, oder gar eine ihrer Retro-Science-Fiction-Sammlungen.

George R. R. Martin & Gardner Dozois (Hrsg.): Königin im Exil • Blanvalet, München 2015  • 1120 Seiten • €16,99

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