22. März 2012

Dallas 1963

„Der Anschlag“ von Stephen King

Lesezeit: 5 min.

In der Einleitung zur von ihm herausgegebenen voluminösen Aufsatzsammlung »Dawn of an Evil Millenium. Horror/Kultur im neuen Jahrtausend« (Büchner-Verlag) erläutert Jörg van Bebber die Thesenklammer um die in diesem Band veröffentlichten 92 Beiträge wie folgt: »Die Angstdiskurse sind zahlreich geworden, die mediale Apparatur trägt das ihre dazu bei, diese zu vervielfachen. In Ermangelung religiöser Erfahrungen wird die Weltgeschichte apokalyptisch umgedeutet. Horrornarrative haben Hochkon­junktur, in den Massenmedien mit ihrer alltäglichen Bericht­erstattung, und so auch in der Sphäre der Kunst. Die besten Voraussetzungen für ein böses Millennium, ein Zeitalter voller Schreckbilder.«

Das ist auf so unwiderlegbare wie unverbindliche Weise wahr; auch in vergangenen Jahrzehnten hatte Horror mitunter (aus gleichen Gründen) mal höhere, mal schwächere Konjunktur, wie eben auch in der hier chronologisch in den großen Überblick genommenen Dekade 2000 bis 2010. Als Motivation für eine einigermaßen gesicherte akademische Beschäftigung mit dem Genre taugt diese Aktualitäts-Relevanz-These natürlich allemal – allein Menge und motivisch-mediale Vielfalt der (kurzen) Texte liefern Beleg genug. Stephen King hat inzwischen seit etlichen Jahrzehnten ununterbrochen Hochkonjunktur, aber dem Autor ist lediglich ein einziger Aufsatz gewidmet, und dieser betrachtet Kings Werk darüber hinaus durch eine fremdmediale Brille. Simon Ofenloch beschäftigt sich mit Frank Darabonts Film­adaption The Mist von 2007 und konstatiert: »Stephen King ist eine Marke, man möchte gar sagen: ein Franchise.« Von Kings ab dem Jahr 2000 entstandenen Büchern (darunter so tolle und wichtige wie »Das Leben und das Schreiben«, »Das schwarze Haus«, »Love«, »Wahn«, »Die Arena« sowie die letzten drei Romane der Dunkler-Turm-Serie) spielt keines eine Rolle, wodurch King implizit einen zeitlosen beziehungsweise womöglich saurierhaften Status zugewiesen bekommt.

Damit kann selbiger auch ohne Probleme einverstanden sein, denn nicht nur als Franchise, sondern vor allem als großer Gegenwartsautor ist King unmittelbaren Ranwanzereien an die Gegenwart längst enthoben. Mit dem Zeitreise-Roman »Der Anschlag« (im Shop) begibt er sich daher direkt in das »Land des Einst«, das auch Autorenkollegen wie James Ellroy, Norman Mailer und Don DeLillo schon literarisch betraten, nämlich zurück in die Zeit vor dem und um den 22. November 1963, dem Tag des Attentats auf John F. Kennedy. Im Jahr 2011 bekommt der Englischlehrer Jake Epping von Al Templeton, dem Inhaber des örtlichen Diners, ein Zeitportal gezeigt, das sich in der Vorratskammer des Restaurants befindet. Wer es durchschreitet, landet immer wieder um genau 11 Uhr 58 am 9. September des Jahres 1958; kehrt man von einem egal wie lange dauernden Aufenthalt aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück, sind in Letzterer nur zwei Minuten vergangen. Jake übernimmt den durch Als tödliche Erkrankung unerfüllt gebliebenen Auftrag, die Ermordung Kennedys durch Lee Harvey Oswald zu verhindern, muss jedoch am Ende seiner Mission feststellen, dass Veränderungen neuralgischer historischer Ereignisse keine harmonischen Neustarts der Geschichte bedeuten, sondern katastrophale Folgen zeitigen – die Zeit leistet aggressiven Widerstand gegen Veränderungen, vergangene Geschichte sträubt sich gegen manipulierende Eingriffe.

Das Kennedy-Attentat stellt (mindestens bis zum 11. September 2001) sicherlich eines der größten kollektiv-amerikanischen Traumata dar, und das phantastische Sujet der Zeitreise haben bereits etliche schlaue Autoren variiert. Für beide Motive interessiert sich King auf die ihm eigene Art; er betrachtet bzw. nutzt sie weniger als detailliert fabulierend und imaginierend auszukundschaftende Stoffe oder Themen, sondern als Anschübe und Ausstattungs­requisiten. Der reale historische Horror wird gewissermaßen gesamtwerkskohärent in den eigenen literarisch-fiktionalen Horrorkosmos eingespeist – Geschichte ist für King erzählte und damit auf einer metahistorischen, eben poetischen Ebene wahre Geschichte, wenn es auf Seite 771 heißt:

»Einen Augenblick lang war alles klar, und wenn das passierte, sah man, dass die Welt in Wirklichkeit kaum da war. Wussten wir das insgeheim nicht alle? Es war ein perfekt ausbalancierter Mechanismus aus Rufen und Echos, die vorgaben, Räder und Zahnräder zu sein: eine Traumuhr, die hinter einem milchigen Glas schlug, das wir als Leben bezeichneten. Dahinter? Darunter und auf allen Seiten? Chaos, Stürme, Männer mit Hämmern, Männer mit Messern, Männer mit Gewehren. Frauen, die verdrehten, was sie nicht beherrschen konnten, und herabsetzten, was sie nicht verstehen konnten. Ein Universum aus Horror und Verlust, das eine einzelne beleuchtete Bühne umgab, auf der Sterbliche tanzten, um der Dunkelheit zu trotzen.«

Nicht umsonst beginnt die bereiste Vergangenheit für Jake im Jahre 1958. Dorthin hat sich King bereits ausführlich in seinem Roman »Es« begeben, und auch der Ort, den Jake bei seinem ersten unglücksverhinderungswilligen Probelauf im Einst aufsucht, ist derselbe, nämlich Derry, neben Castle Rock das wichtigste fiktive Städtchen in Kings Welt. Und »Es« scheint nicht vernichtet, sondern einfach weitergewandert oder vertrieben worden zu sein, ein paar Jahre später, nach Dallas, in eine gleichfalls böse, hinterwäldlerische, rassistische Stadt, für deren im Anschlag auf den Präsidenten kulminierende Bösartigkeit der Autor einen höchst plausiblen Grund anzugeben weiß. King passt einfach perfekt in die Fünfziger- und Sechzigerjahre, und das liegt eben nicht – wie »Der Anschlag« in seiner ganzen üppigen und ziemlich melancholischen Wohlgestalt auf ein Neues und unglaublich Gekonntes vorführt – an irgendwelchen nostalgischen, gute alte Zeiten über­zuckernden Erzählintentionen.

Schließlich ist dieser Roman im Herzen (wieder mal) eine Liebesgeschichte, und zwar eine Liebesgeschichte mit einem sehr heftig rührenden Finale (über das man die dystopische Hauptpointe beinahe vergisst). Sterbliche, die auf einer Bühne vor letztlich immergleicher Kulisse einander lieben, miteinander tanzen und so dem unwirklichen wie wirklichen Horror trotzen – um die geht es. Denn wie sagen Jake und die reizende Schulbibliothekarin Sadie Dunhill auf Seite 804 einander weise:

»›Wird sie mir gefallen, Jake? Deine Welt?‹

 ›Das hoffe ich, Schatz.‹

 ›Ist sie sehr anders?‹

 Ich lächelte. ›Die Leute zahlen mehr für Benzin und haben mehr Knöpfe zu drücken. Sonst ist sie ziemlich gleich.‹«

Sadies psychopathischer Ehemann fährt übrigens einen rot-weißen Plymouth Fury Baujahr (selbstverständlich) 1958, der einem ebenfalls teuflisch bekannt vorkommt. Es ist eben tatsächlich alles eine Geschichte.

Stephen King: Der Anschlag • Roman · Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner · Wilhelm Heyne Verlag, München 2012 · 1056 Seiten · eBook € 9,99 (im Shop)

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