9. Juni 2014 2 Likes

Doktorspielchen

Doctor-Who-Jubiläums-Anthologie mit Storys von Neil Gaiman, Eoin Colfer u. a.

Lesezeit: 5 min.

Seit 1963 erlebt der als Doktor bekannte Time Lord mit den zwei Herzen und dem Allzweck-Schallschraubenzieher in der englische SF-Serie „Doctor Who“ jetzt schon Abenteuer zwischen Raum und Zeit. Mit seiner TARDIS, die wegen eines defekten Chamäleon-Schaltkreises wie eine britische Polizeinotrufzelle aussieht, reist der Doktor durch das Universum und den Zeitstrom und kommt in der Regel immer genau dort an, wo seine Eigenschaften und Fähigkeiten und sein erstaunliches Wissen gebraucht werden, um ganze Planeten oder Galaxien zu retten, wobei er die Menschheit besonders gerne beschützt. Steht in der langlebigen, typisch britischen BBC-Serie ein Darstellerwechsel an, stirbt der Doktor indes den Serientod – und kehrt, den Fähigkeiten seiner außerirdischen Art vom Planeten Gallifrey entsprechend, als Regeneration mit verändertem Aussehen und Charakter zurück, um weiterhin das Universum zu retten. Zumeist tut er das mit einem Sidekick, egal ob er selbst in der neuen Version der Regeneration nun albern oder analytisch, gelassen oder herrisch, aristokratisch oder draufgängerisch daherkommt.

Zum 50-jährigen Bestehen der Kult-Science-Fiction-Serie entstanden 2013 elf Prosa-Erzählungen von genauso vielen englischsprachigen Autoren und Autorinnen, darunter prominente Who-Fans wie Neil Gaiman, Eoin Colfer oder Charlie Higson. Jede Kurzgeschichte widmet sich in chronologischer Reihenfolge einer der bis zu diesem Zeitpunkt aktuellen elf Inkarnationen des Doktors, und natürlich wurden die zunächst als E-Books publizierten Storys am Ende noch mal in einem Band gesammelt. Die so zusammengekommene Anthologie ist bei Cross Cult, wo man zuletzt bereits Doctor-Who-Romane von Stephen Baxter und Gary Russell veröffentlicht hat, gerade als schickes Taschenbuch mit dem Titel „Doctor Who: 11 Doktoren, 11 Geschichten“ auf Deutsch erschienen. Elf Inkarnationen, und jede hat ihre Macken – und jede ist auf ihre schrullige Art so sympathisch, wie die TARDIS faszinierend, dieses Raumschiff bzw. diese Zeitmaschine, die im erstaunlichen, wesentlich geräumigeren Inneren sogar Platz für eine Bibliothek und ein Schwimmbecken hat …

Den über 500 Seiten starken Band eröffnet „Artemis Fowl“-Autor Eoin Colfer, der eine grundsolide Story mit dem ersten Doktor und seiner Enkelin Susan für einen launigen Tribut an „Peter Pan“ von J. M. Barrie nutzt und diesem in seiner Geschichte gar erst die Inspiration zu seinem berühmtesten Werk liefert. In seiner Erzählung mit dem zweiten Doktor und dessen schottischem Begleiter Jamie bedient sich Colfers irischer Landsmann und Zunftkollege Michael Scott anschließend der kompletten Motivpalette eines Lovecraft-Pastiches – vom Necronomicon bis zur Stadt aus Glas mit zu vielen Winkeln und Tentakeln ist hier alles dabei, was den Altmeister aus Providence glücklich gemacht hätte. Der englische Jugendbuchautor Marcus Sedgwick konfrontiert den dritten Doktor und seine Begleiterin Jo in der Zeit der Wikinger mit Odin und einem Master – und einem Speer, der Jesus und Hitler gleichermaßen betroffen hat. In Philip Reeves Story mit dem vierten Doktor bereisen selbiger und die Kriegerin Leela einen Baum-Mond – eine hölzerne, aus den Terraforming-Bemühungen der Menschen des 24. Jahrhunderts entwachsene Baumstation, deren Bewohner seit 900 Jahren einen Hass auf den Doktor kultivieren.

Der fünfte Doktor und Nyssa müssen in einer Kurzgeschichte des u. a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichneten US-Autors Patrick Ness klären, wieso schon 1945 Wahrsage-Geräte in einer amerikanischen Kleinstadt zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs für Ärger sorgen. Fantasy-Autorin Richelle Mead lässt den sechsen Doktor und Peri Brown eine Hochzeit crashen, um eine alte Feindin aufzuhalten, während der siebte Doktor und seine Gefährtin Ace von Autorin Malorie Blackman, der aktuellen Preisträgerin des Children’s Laureate, aus einem Temporalplexus – kosmischem Treibsand – in eine alternative Zeitlinie katapultiert werden, in der die tödlichen Daleks friedlich und ferner die größten Lehrer des Universums sind. In der Story von SF-Autor Alex Scarrow landet der achte Doktor nicht zum ersten Mal in der Nähe von Roswell, wo er eine vom US-Militär abgeriegelte Stadt vor einer aggressiven Alien-Spore befreien muss, die sich ansonsten rasend schnell ausbreiten und alles irdische Leben vernichten wird.

Die neunte Inkarnation des Doktors in der Geschichte von „Young Bond“-Autor Charlie Higson hat unterdessen eine unmenschliche Begleiterin: Die besserwisserische, furienhafte Gliederfüßerin Ali vom Planeten Karkinos, mit welcher der Doktor ins alte Babylon reist, wo sie es 2000 Jahre vor Christi Geburt mit einem Sternenmann aufnehmen müssen, der ganze Planeten zum Frühstück verspeist. Der irische „Skulduggery Pleasant“-Schöpfer Derek Landy schickt den zehnten Doktor und Martha Jones in eine Unrealität, die unter anderem von alten Kinderbüchern gespeist ist. Zum Schluss ist Fantastik-Superstar Neil Gaiman dran, der sich dem elften Doktor widmet und den eigensinnigen Fliegenträger und Amy Pond auf eine Erde zurückkehren lässt, auf der die Menschen ausgestorben sind, nachdem sie ihre Heimat nach und nach verkauft haben…

Für Doctor-Who-Fans ist diese Anthologie – dieses Schaulaufen des Doktors, dessen Patient das Universum ist –Pflicht und Kür in einem. Eifrige Komplettisten der Herren Colfer und Gaiman – der die beste Story des Buches abgeliefert hat, das im Übrigen ohne Totalausfälle auskommt, selbst wenn Derek Landy haarscharf vorbeischrammt – werden zudem ebenfalls nur schwer verzichten können und viel mehr froh sein, eine Übersetzung dieser nerdigen Ausflüge der beiden Autorengrößen zu bekommen. Fans merkwürdiger Zeitreise-Science-Fiction mit eindeutig britischer Note dürfen hingegen auch dann einen Blick riskieren, wenn sie in keinem der bisher genannten und tangierten Fan-Lager zuhause sind. Und wer SF-Geschichten mit dem Charme des zu früh verblichenen Douglas Adams vermisst, dessen schmerzhaftes Fehlen trotz der beeindruckenden Autorennriege auffällt, ist hier ausnahmsweise gleichfalls nicht so falsch.

Doch auch und vor allem Doctor-Who-Neulinge, die zum ersten Mal in die TARDIS steigen und zur Rettung des Raum-Zeit-Kontinuums eilen, sind mit dieser Sammlung bestens bedient. Denn den beteiligten Autoren gelingt durch die Bank ein großes Kunststück, das diese Anthologie schon zu etwas Besonderem macht: Man muss letztlich keine einzige der über 800 Episoden der TV-Serie gesehen haben, um die Erzählungen zu verstehen. Es werden zwischendurch genug Info-Krumen fallen gelassen, um sich problemlos zurechtzufinden und um die Hintergründe, die Mechanik, den Ton und die Faszination der Serie zu erfassen – um seinen Spaß mit diesen äußerst vergnüglichen Doctor-Who-Häppchen und very britishen Zeitreise-Doktorspielchen zu haben.

Keine Frage: Eine umwerfende Anthologie mit dem Doktor.

11 Doktoren 11 Geschichten • Cross Cult, Ludwigsburg 2014 • 517 Seiten • € 16,80

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