13. Mai 2013 2 Likes

Welt ohne Verbrechen

„The Last Days of American Crime“ – Neo Noir im SF-Gewand

Lesezeit: 6 min.

Neo-Noir vom Feinsten: Autor Rick Remender (Punisher) und Zeichner Greg Tocchini (Batman & Robin) planen in ihrem Science-Fiction-Comic-Krimi The Last Days of American Crime den letzten großen Coup in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Kurz bevor die US-Regierung in einer nicht allzu fernen Zukunft Verbrechen per Funk-Signal und Gedankenkontrolle quasi unmöglich macht und zur Ablenkung von diesem Affront gegen die Menschenrechte auch noch das Währungssystem digitalisiert, wollen Graham Bricke und seine Komplizen eine der Aufladestationen für das neue bargeldlose Zahlungssystem klauen. Dafür bleiben ihnen nur noch zwei Wochen, da dann das Signal aktiviert und jede illegale Tat blockiert wird – die Hatz nach einem kleinen Vermögen und dem letzten Verbrechen Amerikas beginnt …

Die USA in der nahen Zukunft. Kriminalität und Terror haben gewonnen und das einstmalige Land der unbegrenzten Möglichkeiten in die Knie gezwungen. Die US-Regierung entschließt sich, das Problem bei der Wurzel zu packen und per Sendesignal alle illegalen Aktivitäten im Keim zu ersticken, indem die biochemischen Prozesse, die für ein Verbrechen notwendig sind, permanent via Neuro-Inhibitor geblockt werden. Die Kontroverse ist entsprechend groß, und der Massen-Exodus veranlasst Mexiko und Kanada schließlich sogar dazu, die Grenzen komplett abzuriegeln. Doch damit nicht genug: Um die empörte Öffentlichkeit abzulenken, lässt die amerikanische Regierung gleichzeitig durchsickern, dass auch das Währungssystem des Landes eine drastische Änderung erfahren wird – es soll vollauf digitalisiert werden, wodurch künftig jeder Geldfluss direkt protokolliert und besteuert werden würde.

Diese beiden Ankündigungen lassen nur einen Schluss zu: Wer als Berufsgangster in dieser kaputten »Alten Neuen Welt« noch ein großes Ding drehen will, muss sich beeilen. Das weiß auch der hartgesottene Ganove Graham Bricke, der sich aufgrund des knappen Zeitfensters für seinen finalen Coup – den Diebstahl einer Aufladestation des neuen Zahlungsmittelsystems – sogar ein unbekanntes Hacker-Pärchen ins Boot holen muss, dem er nicht weiter traut, als er spucken kann. Schließlich verführt ihn seine neue Komplizin bereits, bevor sie sich ein paar Minuten später offiziell zum ersten Mal in einer Bar treffen und über das letzte große Verbrechen in der Geschichte Amerikas reden.

Rick Remender geht in seinen Comics gerne ein Stück weiter als viele seiner Kollegen, und das meistens mit Erfolg: Marvels obersten und eigentlich grimmigsten Vigilanten, den Punisher, hat er mit Mary Shelleys Frankenstein-Mythos gekreuzt und eine innovative und rasante, bei den Fans des Bestrafers aber keineswegs unumstrittene Horror-Action-Geschichte erzählt. Seine SF-Comic-Reihe Fear Agent ist dagegen eine trashige Hommage an die großen Weltraum-Abenteuerhelden des Golden Age in den Pulp-Magazinen. Und seine Endzeit-Miniserie Lone wird leider genauso selten lobend erwähnt wie sein Contemporary-Fantasy-Spaß The Helm. Aktuell schreibt der viel beschäftigte Mr. Remender nicht nur Videospiel-Drehbücher (Dead Space), sondern für Marvel überdies die neuen Abenteuer der X-Force, der brutalen Black-Ops-Einheit der X-Men. Mit The Walking Dead-Zeichner Tony Moore arbeitet er darüber hinaus am Spider-Man-Spin-off Venom, das bisher ebenfalls ziemlich ungewöhnlich daherkommt und Spider-Mans größten Erzfeind und seinen größten Fan in einer verrückten Symbiose als Geheimagent neu erfindet.

Vor Venom und X-Force schuf Remender für den mittelgroßen US-Verlag Radical Comics jedoch noch die dreiteilige Miniserie The Last Days of American Crime. Dazu dachte Remender, der früher auch als Animationszeichner tätig war und unter anderem an SF-Filmen wie Titan A. E. und Der Gigant aus dem All mitwirkte, sich ein extrem düsteres Near-Future-Setting aus, um darin eine klassische Noir-Krimi-Geschichte über ein paar Gangster zu erzählen, die genauso gegen die Uhr wie gegen sich selbst kämpfen. Ein letzter großer Coup mit riesigen Gewinnaussichten dient als Ziel für eine instabile Crew mit einem ausgeklügelten Plan, ausgesprochen guten Fähigkeiten und einer ganz eigenen Gruppendynamik, die schnell zur Eskalation führt.

Die zeichnerische Ausgestaltung der verkommenen Zukunft in Remenders Szenario oblag Greg Tocchini. Der 1979 in Brasilien geborene Künstler bringt Seite für Seite all den Schmutz und all das Blut in Remenders pessimistischer Zukunftsvision zum Leuchten und nutzt dabei eine erstaunlich bunte Farbpalette. Obendrein geizt er keineswegs mit sexy Einstellungen oder handfester Action-Kost, während die Verdorbenheit des heruntergewirtschafteten Amerikas immer im zeichnerischen Fokus bleibt. So führt uns Tocchini trittsicher durch die ziemlich textlastige Story voller Gewalt und Erotik.

Eine Frage stellt sich während der Lektüre allerdings unweigerlich: Hätte Autor Remender den sozialkritischen Elementen seines interessanten Backgrounds mehr Raum geben müssen? Vielleicht. Die Story und ihre Figuren beeinflusst Remenders Zurückhaltung in Bezug auf ein tieferes Eintauchen ins Setting aber nicht weiter, und für einen tollen Rahmen genügen die gelegentlichen Schnipsel allemal. Die Art und Weise, wie Remender sein Setting nebenbei mit Leben füllt, erinnert sogar an Veteranen wie Frank Miller oder Howard Chaykin. Auch in den einstmals revolutionären dystopischen Comic-Klassikern dieser beiden einflussreichen Künstler waren Nachrichtensendungen ein bewährtes Mittel, um den SF-Hintergrund ihrer Szenarien zu zementieren. Bei Remender geschieht dies jedoch nie im Zentrum einer Seite, sondern eher beiläufig und ein wenig abseits der narrativen Hauptstraße, wenn etwa irgendwo im Hintergrund eines Motelzimmers ein Fernseher läuft und die Sprechblasen uns mit TV-Talk-Runden und News-Sendungen versorgen, in denen hitzig über den Neuro-Inhibitor debattiert und berichtet wird. Hier zollt Remender der Social Fiction dann auch am ehesten Tribut – etwa wenn Experten im Studio darüber streiten, ob es ethisch vertretbar sei, die Rückgewinnung der Sicherheit eines Landes damit zu erkaufen, dass alle Individuen von der moralischen Entscheidungspflicht befreit werden, indem ein Signal diese Entscheidung für sie trifft.

Unter SF-Aspekten wäre hier sicherlich mehr zu holen gewesen. Andererseits hätte ein entsprechend stärker ausgeleuchteter Background, der dann zwangsläufig zu oft mit dem Vordergrund verschmilzt und automatisch mit der harten Gangster-Story konkurriert, schnell das Tempo aus der Geschichte nehmen können. So hat der unerbittliche Noir-Reißer bis zum letzten Panel immer ordentlich Schwung. Die dystopische Präventionsmaßnahme bleibt dagegen lediglich ein interessantes Hintergrundrauschen, das immer irgendwie präsent ist, aber nie in letzter Konsequenz untersucht wird, nachdem es die Handlung erst einmal ins Rollen gebracht hat und die Uhr, deren Ticken wir und die Protagonisten beständig hören, gnadenlos herunterlaufen lässt.

Darum hat Remenders düster-futuristischer Geldraub nicht zuletzt wegen seiner erzwungenen Geschwindigkeit eine enorme Sogwirkung und schlägt bis zum Finale genretypisch noch so manchen unerwarteten Haken – und selbst ganz am Schluss gibt es noch den einen oder anderen Kniff, mit dem Remender seine Leser überrascht. Für die Lektüre seines SF-Comics sollte man also immer alle Sinne beisammen haben, um nicht abgehängt zu werden. Dann steht dem Genuss dieser großartigen Neo-Noir-Gangstergeschichte aber nichts mehr im Wege.

Die ursprüngliche Definition des Noir-Genres geht auf die kritische Beschäftigung mit den düsteren Hollywood-Krimis der Dreißiger- und Vierzigerjahre zurück. Kein Wunder, dass angesichts dieser Tradition sowie der beachtlichen Erfolge diverser Comic-Verfilmungen bereits eine Leinwand-Adaption von The Last Days of American Crime geplant ist: Die Filmversion des kernigen Szenarios, das für eine cineastische Aufbereitung in der Tradition epischer Gangster-Streifen wie Heat geradezu prädestiniert scheint, steht schon in den Startlöchern. In absehbarer Zukunft soll sie mit Sam Worthington (Avatar) in der Hauptrolle in die Kinos kommen.

Die Tage, da The Last Days of American Crime ein Geheimtipp für findige US-Leser war, die von Alex Maleev’ und Greg Tocchinis phantastischen Heftcovern angezogen wurden, scheinen also nicht nur wegen der überfälligen deutschen Hardcover-Ausgabe beim Bielefelder Splitter-Verlag gezählt. Zum Glück. Es wäre zwar nicht das erste und auch nicht das letzte Verbrechen an unterschätzten Comics gewesen – aber mit Sicherheit doch verdammt schade um die Geschichte des letzten großen Coups in den Annalen der Vereinigten Staaten.

Rick Remender / Greg Tocchini: The Last Days of American Crime • Splitter Verlag, Bielefeld • 172 Seiten • € 22,80

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