18. Januar 2017 3 Likes

„Die Vorstellung von Quarks und Lichtjahren erzeugt Bilder in meinem Kopf“

Exklusiv: Das Nachwort zu Cixin Lius Spiegel-Bestseller „Die drei Sonnen“

Lesezeit: 9 min.

Gerade erst hat der scheidende US-Präsident Barack Obama in einem Interview mit der New York Times bekannt, wie stark Cixin Lius Roman „Die drei Sonnen“ (im Shop) ihn beeindruckt hat. Auch hierzulande hat Liu bereits Zehntausende begeisterter Leserinnen und Leser gefunden. Wie kam es aber, dass ein so bescheidener und zurückhaltender Kraftwerksingenieur solch weitgreifende Science-Fiction-Visionen schreiben konnte? In seinem Nachwort zu „Die drei Sonnen“ erzählt Cixin Liu aus seinem Leben und gibt Einblicke in seine ganz persönliche Motivation, sich Gedanken über die Sterne zu machen.

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Cixin Liu: Die drei Sonnen (The Three-Body Problem deutsch)Es gibt eine Nacht in meiner Kindheit, die sich mir ganz deutlich eingeprägt hat: Ich stand an einem Teich am Rande eines Dorfes irgendwo in der Region Luoshan der Provinz Henan, in dem meine Vorfahren seit Generationen gelebt hatten. Viele andere Leute, Erwachsene und Kinder, waren ebenfalls da. Gemeinsam sahen wir zum klaren Nachthimmel empor, wo ein winziger Stern langsam über das dunkle Firmament zog.

Es war der erste künstliche Satellit, den China jemals ins All geschickt hatte: Dongfanghong I (»Der Osten ist rot I«). Es war der 25. April 1970, und ich war sieben Jahre alt.

Damals waren dreizehn Jahre seit dem Start von Sputnik vergangen, und neun Jahre, seit der erste Kosmonaut die Erde verlassen hatte. Nur eine Woche zuvor war Apollo 13 sicher von einer gefährlichen Reise zum Mond zurückgekehrt.

Doch von alldem wusste ich nichts. Während ich zu diesem winzigen, dahinziehenden Stern emporschaute, war mein Herz von einer unbeschreiblichen Neugier und Sehnsucht erfüllt. Und ebenso deutlich wie diese Gefühle hat sich mir der Hunger eingeprägt, den ich verspürte. Damals war die Gegend um mein Dorf herum außerordentlich arm. Der Hunger war für jedes Kind ein ständiger Begleiter. Im Vergleich zu den anderen konnte ich mich noch glücklich schätzen, weil ich Schuhe an den Füßen hatte. Die meisten der Freunde, die an meiner Seite standen, waren barfuß, und einige der winzigen Füße wiesen unverheilte Erfrierungen vom vergangenen Winter auf. Durch die Risse in den Wänden der heruntergekommenen, strohgedeckten Hütten hinter mir drang das schwache Licht von Kerosinlampen – das Dorf sollte erst in den Achtzigerjahren ans Stromnetz angeschlossen werden.

Die Erwachsenen um uns herum sagten, dass der Satellit nicht wie ein Flugzeug sei, weil er die Erde hinter sich gelassen habe. Damals war die Luft noch nicht vom Staub und Rauch der Fabriken verschmutzt, und es war eine besonders sternenklare Nacht, in der die Milchstraße deutlich zu erkennen war. In meiner Vorstellung waren die Sterne, die den Himmel erfüllten, nicht viel weiter weg als der winzige, dahinziehende Satellit, weshalb ich mir vorstellte, zwischen ihnen umherzufliegen. Ich machte mir sogar Sorgen, dass der Satellit auf seinem Weg durch die dichten Sternenhaufen mit einem davon zusammenstoßen könnte.

Meine Eltern waren damals nicht bei mir, weil sie in einer über tausend Kilometer weit entfernten Kohlenmine arbeiteten, in der Shanxi-Provinz. Ein paar Jahre zuvor, ich war damals noch kleiner, war diese Mine einer der Schauplätze der blutigen Kämpfe der Kulturrevolution gewesen. Ich erinnerte mich an Schüsse mitten in der Nacht, an Laster, die durch die Straßen fuhren, voll beladen mit Männern, die Gewehre umklammerten und rote Armbinden trugen … Aber ich war damals zu jung, um heute zu wissen, ob diese Bilder echte Erinnerungen sind oder Trugbilder, die ich mir später zurechtkonstruiert habe. Wie dem auch sei, eines weiß ich mit Sicherheit: Weil die Mine nicht sicher war und meine Eltern unter der Kulturrevolution zu leiden hatten, war ihnen keine andere Wahl geblieben, als mich in das Heimatdorf meiner Vorfahren in Henan zu schicken. Als ich Dongfanghong I sah, lebte ich bereits seit über drei Jahren dort.

Einige weitere Jahre vergingen, bevor ich begriff, wie weit der Satellit und die Sterne voneinander entfernt waren. Damals las ich eine Reihe beliebter Wissenschaftseinführungen mit dem Titel Einhunderttausend Warums. Aus dem Band über Astronomie erfuhr ich, was ein Lichtjahr ist. Davor hatte ich bereits gewusst, dass das Licht innerhalb einer Sekunde eine Entfernung zurücklegen konnte, die siebeneinhalb Reisen um den Erdball entsprach, aber ich hatte noch nie darüber nachgedacht, welch gewaltige Entfernungen man überbrücken konnte, wenn man ein ganzes Jahr lang mit einer solchen Geschwindigkeit flog. Ich stellte mir einen Lichtstrahl vor, der mit einer Geschwindigkeit von dreihunderttausend Kilometern pro Sekunde durch die kalte Stille des Alls reist. Verzweifelt versuchte ich, mir die erschütternden Ausmaße und die Gewichtigkeit dieser Idee auszumalen und verspürte dabei nicht nur eine gewaltige Last von Schrecken und Ehrfurcht, sondern gleichzeitig ein rauschhaftes Hochgefühl.

Von jenem Augenblick an war mir klar, dass ich über ein besonderes Talent verfügte: Maßstäbe und Wirklichkeiten, die die Grenzen der menschlichen Sinneswahrnehmung weit überschritten – sowohl im Großen wie im Kleinen – und die für andere anscheinend nur abstrakte Zahlen waren, nahmen in meinem Kopf konkrete Gestalt an. Ich konnte sie anfassen und fühlen, so wie andere Menschen Bäume und Steine anfassen und fühlen konnten. Selbst heutzutage, wo es die meisten Leute nur noch langweilt, davon zu hören, dass das Universum einen Radius von fünfzehn Milliarden Lichtjahren hat oder dass Strings viele Größenordnungen kleiner sind als Quarks, erzeugt die Vorstellung von einem Lichtjahr oder einem Nanometer nach wie vor lebhafte, großartige Bilder in meinem Kopf und erweckt in mir ein unbeschreibliches Gefühl der Ehrfurcht und der Erschütterung. Ich weiß nicht, ob ich im Vergleich zu dem Großteil der Bevölkerung, der nichts Derartiges erlebt, Glück oder Unglück habe. Aber mit Sicherheit waren es diese Gefühle, die mich erst zu einem Science-Fiction-Fan und später zu einem Science-Fiction-Autor gemacht haben.

In jenem Jahr, in dem ich zum ersten Mal von der Vorstellung eines Lichtjahrs mit Ehrfurcht erfüllt wurde, kam es in der Nähe meines Heimatdorfs zu einer Überschwemmung (bekannt als die Große Flut vom August 1975). Innerhalb eines einzigen Tages fielen in der Region Zhumadian in Henan 100,5 Zentimeter Regen. Achtundfünfzig Dämme verschiedener Größe brachen, einer nach dem anderen, und zweihundertvierzigtausend Menschen starben in den Fluten. Kurz nachdem das Wasser zurückgegangen war, kehrte ich in mein Dorf zurück und sah eine Landschaft voller Flüchtlinge vor mir. Es kam mir vor, als beobachtete ich das Ende der Welt.

Der Satellit, der Hunger, die Sterne, die Kerosinlampen, die Milchstraße, die Fraktionskämpfe der Kulturrevolution, ein Lichtjahr, die Überschwemmung – all diese scheinbar zusammenhanglosen Dinge verschmolzen miteinander zu den ersten Jahren meines Lebens und formten dabei auch die Science-Fiction, die ich heute schreibe.

Als SF-Autor, der als Fan angefangen hat, benutze ich meine Geschichten nicht als tarnende Fassade, hinter der ich die gegenwärtige Wirklichkeit kritisiere. Für mich ist der größte Reiz der Science-Fiktion die Erschaffung zahlreicher imaginärer Welten, die außerhalb der Wirklichkeit liegen. Ich war schon immer der Meinung, dass die großartigsten und schönsten Geschichten der Menschheit nicht von fahrenden Spielleuten gesungen oder von Stückeschreibern und Romanautoren verfasst werden, sondern uns von der Wissenschaft zukommen. Die Geschichten der Wissenschaft sind im Vergleich zu denen der Literatur weit überwältigender, prachtvoller, vertrackter, tiefgründiger, spannender, seltsamer, erschreckender, geheimnisvoller und sogar gefühlvoller. Nur sind diese wunderbaren Geschichten in kalte Gleichungen eingesperrt, die die meisten Menschen nicht lesen können.

Die Schöpfungsmythen der verschiedenen Völker und Religionen unserer Welt verblassen angesichts der Pracht des Urknalls. Die drei Milliarden Jahre lange Geschichte der Evolution des Lebens von sich selbst vervielfältigenden Molekülen bis hin zur Zivilisation ist reicher an Überraschungen und romantischen Momenten als jeder Mythos und jedes Epos. Und dann ist da noch die poetische Vision von Raum und Zeit in der Relativität, von der seltsamen subatomaren Welt der Quantenmechanik … Diese wundersamen Geschichten der Wissenschaft verfügen alle über eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Durch das Medium der SF-Literatur möchte ich einzig und allein mit der Kraft der Fantasie meine eigenen Welten erschaffen und in ihnen die Poesie der Natur vermitteln, die romantischen Legenden erzählen, die sich zwischen dem Menschen und dem Universum entfalten.

Aber ich kann der Wirklichkeit ebenso wenig entkommen wie meinem Schatten. Die Wirklichkeit hinterlässt bei jedem von uns ihr unauslöschliches Brandzeichen. Jedes Zeitalter legt denen, die es durchlebt haben, unsichtbare Ketten an, und mir bleibt nur, in meinen Ketten zu tanzen. In der Science-Fiction wird die Menschheit oft als Kollektiv beschrieben. In diesem Buch sieht ein Mensch namens »Menschheit« sich einer Katastrophe gegenüber, und alles, was er angesichts der Frage von Überleben oder Auslöschung an den Tag legt, entspringt zweifellos der Wirklichkeit, die ich erlebt habe. Das Wundersame an der Science-Fiction ist, dass sie, wenn sie in bestimmten hypothetischen Welten angesiedelt ist, das, was in unserer Wirklichkeit böse und finster ist, in etwas Rechtschaffenes, hell Leuchtendes verwandeln kann – und umgekehrt. Dieser Roman und seine beiden Fortsetzungen versuchen genau das – aber ganz egal, wie sehr die Wirklichkeit durch die Fantasie verzerrt wird, letztendlich bleibt die Realität immer bestehen.

Cixin Liu
Cixin Liu
Bild (c) Li Yibo

Ich bin seit jeher der Meinung, dass außerirdische Intelligenzen der größte Quell von Unsicherheit für die Zukunft der Menschheit sein werden. Andere große Veränderungen wie der Klimawandel und ökologische Katastrophen sind Prozesse mit vorgezeichneten Abläufen, an die wir uns anpassen, aber zum Kontakt zwischen Menschen und Außerirdischen kann es jederzeit kommen. Vielleicht ist der Sternenhimmel, zu dem die Menschheit emporblickt, in zehntausend Jahren noch immer leer und schweigt, aber vielleicht wachen wir auch morgen auf und stellen fest, dass ein außerirdisches Raumschiff von der Größe des Mondes in der Umlaufbahn parkt. Das Auftauchen einer außerirdischen Intelligenz wird die Menschheit dazu zwingen, sich dem Anderen zu stellen. Bislang hatte die Menschheit noch nie ein äußeres Gegenstück. Das Auftauchen dieses Anderen oder allein schon das Wissen um seine Existenz wird unvorhersehbare Auswirkungen auf unsere Zivilisation haben.

Es gibt einen seltsamen Widerspruch, der in der Naivität und Gutherzigkeit der Menschheit dem Universum gegenüber zutage tritt: Auf der Erde kommen die Menschen auf einen fremden Kontinent und zerstören dort mit Krieg und Seuchen die verwandten Zivilisationen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Aber wenn sie zu den Sternen emporblicken, werden sie sentimental und glauben, dass es sich bei außerirdischen Intelligenzen, wenn es sie gibt, um Zivilisationen handeln müsse, die an universelle, edle moralische Regeln gebunden sind, als wäre es Teil eines offensichtlichen allgemeinen Verhaltenskodex, verschiedenste Lebensformen zu lieben und zu schätzen.

Ich finde, dass es eigentlich genau andersherum sein sollte: Wir sollten die Freundlichkeit, die wir den Sternen entgegenbringen, auf die Angehörigen der menschlichen Art auf der Erde richten und Vertrauen und Verständnis zwischen den verschiedenen Völkern und Zivilisationen der Menschheit aufbauen. Doch das Universum außerhalb unseres Sonnensystems sollten wir immer wachsam im Auge behalten und möglichen Anderen im All jederzeit die schlimmsten Intentionen unterstellen. Das ist für eine zerbrechliche Zivilisation wie die unsere mit Sicherheit der verantwortungsvollere Weg.

Weil ich Science-Fiction-Fan bin, hat die Science-Fiction mein Leben geprägt, und ein großer Teil der Science-Fiction, die ich gelesen habe, kommt aus Amerika. Der Umstand, dass westliche Leser nun mein Buch lesen können, freut mich und erfüllt mich mit Aufregung. Science-Fiction ist eine Literatur, die der ganzen Menschheit gehört. In ihr geht es um Ereignisse, die die ganze Menschheit angehen, und deshalb sollte sie das Literaturgenre sein, das für Leser aller Länder am ehesten verständlich und zugänglich ist. Science-Fiction handelt oft von einer Zeit, in der die Menschheit ein harmonisches Ganzes bildet, und ich glaube nicht, dass wir auf das Auftauchen von Außerirdischen warten müssen, damit dieser Tag kommt.

Ich bedanke mich aufrichtig bei meiner Übersetzerin Martina Hasse für ihre fleißige Arbeit, durch die mein Roman auf Deutsch erscheinen kann. Ich bedanke mich bei CEPIEC – der China Educational Publications Import & Export Corporation Ltd. –, beim Zeitschriftenverlag des Magazins Science Fiction World und beim Heyne Verlag, denn sie alle haben mit größtem Vertrauen und größter Aufrichtigkeit die Veröffentlichung meines Buches vorangetrieben.
 

Liu Cixin

Am 28.12.2012 in Shanxi, Yangquan geschrieben
und am 15.5.2016 revidiert

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Cixin Liu ist einer der erfolgreichsten und produktivsten chinesischen Science-Fiction-Autoren. Er hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits mehrfach prämiert. Cixin Lius erfolgreichster Roman „Die drei Sonnen“ wurde mit dem Galaxy Award, dem bedeutendsten Genre-Literaturpreis Chinas, und 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert.

Cixin Liu: Die drei Sonnen ∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Martina Hasse ∙ Heyne Verlag, München 2016 ∙ 592 Seiten ∙ E-Book: € 11,99 ∙ im Shop

Bild (c) Li Yibo

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