15. September 2017 2 Likes

„Es mangelt uns an Weitsicht.“

Im Gespräch mit Science-Fiction-Legende William Gibson („Neuromancer“, „Archangel“)

Lesezeit: 6 min.

William Gibson (im Shop) ist der Godfather des Cyberpunk. Man kann sich nicht einmal mehr die hypothetischen Lücken vorstellen, die heute in der multimedialen Science-Fiction klaffen würden, wenn der 1948 geborene Amerikaner das Genre nicht mit seinen Visionen für immer geprägt hätte. Doch sein Ruhm ist kein Relikt. Bis heute gilt Gibson, dessen Debütroman „Neuromancer“ (im Shop) zu den großen Klassikern zählt, als eine der wichtigsten Stimmen der Zukunftsliteratur. Ob Sachbuch oder Roman – als SF-Fan fiebert man jedem neuen Werk des schreibenden Propheten entgegen und saugt seine Beobachtungen der Wirklichkeit und seine Erwartungen an das Kommende förmlich auf.

Jetzt hat Gibson mit „Archangel“ seine erste originäre Comic-Miniserie vorgelegt, die auf Deutsch bei Cross Cult soeben als Komplett-Sammelband erschienen ist. Alles begann damit, dass Gibsons Schauspielerfreund Michael St. John Smith („Outer Limits“, „Andromeda“) dem Zukunftsseher von einem Bekannten beim Fernsehen erzählte, der auf der Suche nach einem Stoff für eine TV-Miniserie über Deutschland im Zweiten Weltkrieg war. So wurde die Idee zu „Archangel“ geboren, das unterwegs fast ein Videogame geworden wäre, bis es im Comic ein Zuhause fand. Gibson gefiel das, da er sich selbst als visuellen Autor betrachtet, der in Bildern denkt. „Archangel“ wurde von Michael Benedetto („Joe Hills Tales from the Darkside“) in Comic-Seiten heruntergebrochen, als Zeichner fungierten Butch Guice („Captain America“, „Winterworld“) und Al Barrionuevo („Batman“). Der Comic setzt in einer radioaktiv verstrahlten, hoffnungslosen Gegenwart ein, in der die USA über die Splitter-Technologie verfügen, mit deren Hilfe andere Realitäten sowie Kontinuitäten erschaffen werden können. Vizepräsident Henderson nutzt den Splitter in der Quantum-Transfereinrichtung, um von 2016 ins Jahr 1945 zu reisen und dort den Platz seines Großvaters einzunehmen, den Lauf der Dinge zu verändern und möglichst viel Macht zu erlangen. Da die Welt bereits einmal von Korruption und Gier zerstört wurde und nun die ganze Zeitlinie bedroht ist, reist Major Torres hinterher, um zwischen anachronistischen Drohnen und Tarnanzügen Schlimmeres zu verhindern.

Im Interview spricht William Gibson über die Science-Fiction als Traumzeit, Dystopien, seine Comic-Erfahrungen und die geplanten Adaptionen seiner Werke.


Foto: Wikipedia

Guten Tag, Herr Gibson. Sie werden oft als Prophet der Zukunft bezeichnet. Fällt es Ihnen noch auf, wenn die Ideen aus Ihren Romanen und Storys mal wieder von der Gegenwart eingeholt wurden?

Ich habe mich noch nie sonderlich für das Potential der Science-Fiction interessiert, Dinge vorherzusagen. Viel mehr interessiert es mich, wie wir mit unseren vorausschauenden Geschichten falsch liegen. Es gibt zum Beispiel keine Mobiltelefone in „Neuromancer“, das erstmals 1984 veröffentlicht wurde. Neue Technologien verändern die Welt oft auf eine Art und Weise, die sich ihre Erfinder nicht einmal vorstellen konnten.

Sind Sie davon enttäuscht, wie die Menschheit mit technologischen Errungenschaften umgeht – und in was für einem schlechten Zustand sich die Welt befindet, trotz all der großen Erfindungen?

Ich glaube, es mangelt uns an Weitsicht. Vermutlich haben wir schon zur Zeit der Industriellen Revolution angefangen, das Klima unseres Planeten zu zerstören. Wobei einige behaupten, dies hätte bereits viel früher mit der Landwirtschaft begonnen. Ich habe einmal gelesen, dass es ohne die Verwendung fossiler Brennstoffe absolut unmöglich gewesen wäre, eine technologische Gesellschaft wie die unsere aufzubauen. Also geht es weniger darum, was wir aktiv falsch gemacht haben, sondern darum, was wir wissen und nicht wissen. Um unbeabsichtigte Konsequenzen.

Ist dystopische Science-Fiction als Kommentar und Warnung eine typische Reaktion auf Krisenzeiten? Unsere Welt hat sehr viele Probleme – während dieses Interviews steuern Trump und Kim Jong-un die Welt an den Rand eines nuklearen Krieges. Das erinnert fast an die Zeit des Kalten Krieges, eine der großen Epochen des Science Fiction …

Zu jedem gegebenen Zeitpunkt der Geschichte lebten viele Menschen unter furchtbaren Bedingungen. Science-Fiction ist eine Art Traumzeit für unsere industrielle Gesellschaft. In dieser Hinsicht war das Genre lange Zeit eine äußerst privilegierte Beschäftigung, sowohl für Autoren als auch für die Leser. Die Angehörigen von kolonialisierten vorindustriellen Kulturen hatten gar keine Möglichkeit, sich die Zukunft vorzustellen. Ich denke, das ändert sich zum Glück gerade.

Denken Sie, dass all die weichgespülten, häufig romantischen Romane und Filme mit dystopischem Inhalt die Bedeutung von echter dystopischer Science-Fiction untergraben?

So etwas wie „echte dystopische Science-Fiction“ hat es meiner Meinung nach nie gegeben. Der Film „Children of Men“ beispielsweise ist großartig, aber für einen Science-Fiction-Film höchst ungewöhnlich. Ähnliches trifft auf „Mad Max: Fury Road“ zu, wenn auch auf komplett andere Weise. Die Tatsache, dass dystopischer Kitsch existiert, mindert nicht die Wirkung anderer Werke. (Denkt nach.) Die Dystopie ist eine typische Form der Moderne. Die literarische Utopie hingegen existiert bereits seit der Antike. Wenn man heutzutage aus einem Roman jene Elemente entfernen würde, die bisher als dystopisch galten, würde er uns als nicht naturalistisch genug erscheinen, also unrealistisch wirken.

Lassen Sie uns über den Comic „Archangel“ sprechen, Ihr neuestes Werk. Können Sie uns etwa über Ihre Beziehung zu Comics erzählen?

Da ich im Amerika der 1950er und 1960er aufwuchs, kam ich als Kind mit den typischen Sachen in Berührung: Disney, den DC-Superhelden, Kriegscomics. Aber dann kam die Gegenkultur und ich verpasste den Siegeszug von Marvel komplett, weil ich nur Underground-Comics las. Die Entstehung der Graphic Novel in den späten 1980ern nahm ich zwar wahr, aber nur aus der Ferne.

Wie schwer war es für Sie als erfahrener Romancier, plötzlich in Panels und Sprechblasen zu denken? Oder kam Ihnen hier Ihre Arbeit an Drehbüchern zugute?

Ich habe tatsächlich bereits eine Reihe von Drehbüchern verfasst, und „Archangel“ begann ebenfalls als solches, das war also schon die halbe Miete. Es war faszinierend, mitzuerleben wie die Redakteure und Künstler bei IDW das Drehbuch wiederum in einen Comic verwandelten – noch eine weitere Form!

Ich habe gelesen, dass eine der Inspirationen für „Archangel“ die magischen und technologischen Verschwörungstheorien zum Zweiten Weltkrieg waren …

Als Teenager war ich fasziniert von den Geschichten über die Foo Fighters-Leuchterscheinungen und die Ghost Rockets über Skandinavien, und so weiter. All diese Mythen kamen zu einer Zeit auf, als deutsche Raketen tatsächlich auf England fielen!

Denken Sie, dass der „Schatten der Geschichte“, der lange Zeit auf Deutschland lag, im Hinsicht auf internationale Beziehungen endlich verschwindet? Oder nimmt man in Amerika derzeit vor allem den Aufschwung der „Neuen Rechten“ während der Flüchtlingskrise in Deutschland wahr?

Ich denke, Amerika hat jetzt die Gelegenheit, zu lernen, dass Faschismus keine exotische Krankheit ist, sondern überall gefährlich werden kann, besonders weil er auf der Grundlage bestimmter universeller menschlicher Eigenschaften operiert. Deutschland weiß schon länger hierüber Bescheid und ist dementsprechend besser auf solche unvermeidbaren Ausbrüche vorbereitet.

Ihre Kurzgeschichte „Hinterwäldler“ (im Shop) soll eine Trickserie werden, und „Deadpool“-Regisseur Tim Miller adaptiert „Neuromancer“ für die Leinwand. Es ist einige Zeit vergangen seit Film-Adaptionen Ihrer Werke „Johnny Mnemonic“ (im Shop) und „New Rose Hotel“ (im Shop), man mag von einer neuen Ära sprechen. Was sind Ihre Hoffnungen für die aktuellen Projekte?

Um ehrlich zu sein, nehme ich die Adaptionen meiner Geschichten für Film und Fernsehen nicht als meine eigenen Arbeiten wahr. Für mich ist es nicht so, als wäre ein Film von „Neuromancer“ die tatsächliche Realisierung des Romans. Der Roman ist seine eigene Realität. Also bin ich immer interessiert, aber nicht wirklich besorgt.

Glauben Sie, dass das multimediale Interesse an SF dazu beitragen wird, dass „Archangel“ letzten Endes doch noch eine TV-Serie wird?

Ursprünglich dachten wir an eine „limitierte“ TV-Serie, aber das Drehbuch habe ich für einen Spielfilm geschrieben. Ich denke, es fühlt sich immer noch wie eine TV-Serie mit fünf Episoden an.

Es gibt nicht viele Zukunftsversteher in Ihrer Liga. Haben Sie einen Rat für uns zitternde, ängstliche Wesen da draußen, die nervös auf Twitter schielen und die nächste Katastrophe erwarten?

All meine Ratschläge klingen wie Sprüche, die auf Kühlschrankmagneten stehen könnten, obwohl sie sehr ernst gemeint sind: Bleib im Moment. Lebe einen Tag nach dem anderen. Zahl keine emotionalen Dividenden an Katastrophen, die noch nicht passiert sind. Versuche, deinen Sinn für Humor zu bewahren.

Vielen Dank für die Ratschläge und das Interview!

Ich danke Ihnen!


aus „Archangel“


aus „Archangel“

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