10. Dezember 2014 3 Likes

Ein feiner Alternativwelt-Whodunit

Jo Waltons „Die Stunde der Rotkehlchen“

Lesezeit: 3 min.

In Jo Waltons Alternativwelt-Krimi „Die Stunde der Rotkehlchen“ muss Inspector Charmichael von Scotland Yard auf dem Landsitz der Farthing-Familie den Mord an Sir James Thirkie aufdecken – dem geachteten Mann, der in dieser Welt mit einer abweichenden Historie 1941 den ehrenwerten Frieden mit Hitler ausgehandelt hat, weshalb England nicht weiter zerbombt, aber von faschistischem Gedankengut durchdrungen worden ist. Trotzdem hat Lucy, die Tochter der Farthings, einen jüdischen Mann geheiratet, wodurch sie bei ihrer Mutter endgültig in Ungnade gefallen ist. Doch das ist nicht das Einzige, was acht Jahre nach dem Pakt mit Hitler auf dem Farthing-Anwesen im Argen liegt. Denn die intrigante Farthing-Clique, deren Symbol das Rotkehlchen auf der Rückseite der gleichnamigen britischen Viertelpenny-Münze ist, gilt nicht umsonst als die mächtigste, einflussreichste politische Gruppierung im Land. Dafür ist dem Clan jedes Mittel – und jeder Sündenbock und jedes Opfer – Recht, wie sowohl Charmichael als auch Lucy und ihr Mann David bald merken …

Alternativwelt-Romane sind besondere Science-Fiction-Romane – und Jo Waltsons „Die Stunde der Rotkehlchen“ ist ein besonderer Alternativwelt-Roman. Dass die in Kanada lebende Waliserin eine ungeheuer stilsichere Autorin ist, dürfte sich spätestens nach „In einer anderen Welt“ auch hierzulande herumgesprochen haben. Nicht umsonst gewann Walton für ihre Hommage an das Lesen und die Science Fiction 2014 den Kurd-Laßwitz-Preis für das beste ausländische SF-Werk in deutscher Erstausgabe. Auch ihr „Die Stunde der Rotkehlchen“ ist stilistisch wieder sehr fein.

Genauso fein wie die Art und Weise, in der Walton ihr Alternativwelt-Setting vermittelt. Waltons Worldbuilding ist absolut subtil – und dabei absolut effizient. Alles wird in den Kapiteln um Charmichaels Ermittlung und Gedanken sowie in Lucys Tagebucheinträgen aufbereitet, stets eingebettet in den jeweiligen Erzählton des Kapitels und die zwischen diesen beiden Perspektiven pendelnde Handlung. Trockene Erklär-Passagen, so zäh wie falsch gebratenes Steak, die Waltons veränderte Historie erklären, bleiben einem erspart und stehen dem Genuss nicht im Wege. Zwischendurch kann man daher beinahe vergessen, dass der Roman in einer Welt mit kontrafaktischem Geschichtsverlauf spielt, in dem England und Nazi-Deutschland Frieden geschlossen haben – England sich aus dem Krieg zurückgezogen hat und nicht mehr auf dem Kontinent ins Geschehen eingreift. Nicht zuletzt deshalb mögen einen die Parallelen zwischen Waltons fiktiver Vergangenheit von 1949 und der realen Gegenwart überraschen – trotz aller Subtilität erstaunlich einschneidende Parallelen zu rassistischen, wenn nicht sogar faschistischen Tendenzen, die sich in der Denkweise und Stimmung der heutigen Gesellschaft leicht verstecken können.

Von all dem abgesehen, ist Waltons erster Band um Inspector Charmichael auch noch ein hervorragender, ebenso stimmungsvoller wie spannender Whodunit-Krimi geworden, der einer reichen Tradition folgt, ohne sich von ihr einengen oder als Kopie versklaven zu lassen.

Waltons Alternativwelt-Krimi überzeugt von der ersten Seite bis zum mutigen, modernen Ende und ist dazwischen ein vielschichtiger und intelligenter Roman über Politik, Macht und die Schattenseiten menschlicher Beziehungen.

Der zweite Band um Inspector Charmichael kann nach diesem starken Auftakt gar nicht schnell genug auf Deutsch erscheinen.

Jo Walton: Die Stunde der Rotkehlchen (Inspector Carmichael Bd. 1) • Aus dem Englischen von Nora Lachmann • Golkonda, Berlin 2014  • 289 Seiten • €16,90

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