18. April 2014

New-Weird-Mahlstrom

China Miévilles „Perdido Street Station“ ist die Neuerfindung der modernen Fantastik

Lesezeit: 3 min.

Willkommen in der Welt von Bas-Lag. Willkommen in dem gigantischen, stark den ins endgültig Bizarre gestülpten urbanen Extravaganzen Londons ähnelnden Stadtstaat New Crobuzon, dessen Topografie und Bewohner sich in Szenen wie dieser manifestieren: „Geheimnisvolle Schwaden wogten über den Dächern. Die Flüsse zu beiden Seiten wälzten sich träge ihrem Rendezvous entgegen, an manchen Stellen dampfte das Wasser, wenn Strömungen namenlose Chymikalien zu potenten Mixturen verquirlten. Die Brühe von fehlgeschlagenen Experimenten, aus Fabriken und Laboratorien und Alchimistenklausen, vermischte sich willkürlich zu abnormen Elixieren. In Brock Marsh besaß das Wasser unvorhersehbare Eigenschaften. Junge Strandläufer, die am Flussufer bei der Suche nach Treibgut in merkwürdig gefärbten Modder traten, fingen plötzlich an, in fremden Zungen zu sprechen, hatten Heuschrecken im Haar oder verblassten allmählich, wurden durchsichtig und verschwanden.“

Oder wie dieser: „Ein paar ausgezehrte junge Männer lagen längelang auf einem Tisch und zuckten im gleichen Rhythmus, vollgedröhnt mit Shazbah oder Dreamshit oder Opja-Tee. Eine Frau hielt ihr Glas in einer stählernen Kralle, aus deren Gelenken Dampf zischte und Öl auf den Bretterboden tropfte. In einer Ecke schlappte ein Gast geduldig Bier aus einer Schale und leckte sich dann die Fuchsschnauze, die man ihm ins Gesicht geheftet hatte.“

Man muss nicht lange warten oder suchen, um in Perdido Street Station (im Shop ansehen), dem nun erstmals in einem voluminösen Band veröffentlichten Hauptwerk des unüberbietbar klangkunstvoll benamten Ausnahme-Fantasten China Miéville, auf derartige Sätze zu stoßen – es ist zum Bersten voll von ihnen. Und sie sind weit mehr als bloßer Zierrat dieser einzigartigen, Alternativwelt-Fantasy mit viktorianisch grundiertem Steampunk verrührenden Geschichte um den mehr oder weniger menschlichen Wissenschaftler Isaac Dan dar Grimnebulin, der in „einer Spezies-überschreitenden Liason” mit der Käferkopf auf Frauenleib tragenden Künstlerin Lin lebt und u.a. einer Plage monströser, vom Unbewussten sich nährender Mutanten-Motten entgegenzuwirken versucht.

Das von einem wahren Mahlstrom von Pageturner-Sog zusammengehaltene wundersam-überreiche Gewimmel der Einfälle, Bilder und Sprachartistik, das Miéville in seine mit Arthur C. Clarke Award und Kurd-Laßwitz-Preis geehrte sowie für Hugo, Nebula Award und World Fantasy Award nominierte Großerzählung packt, lässt nicht nur die üblichen groben fantastischen Genrekategorien, sondern auch den solcherlei Radikal-Neuarrangements von Genremustern fixierenden Terminus „New Weird“ reichlich blass aussehen. Hier geht es nicht darum, Genres zu bedienen oder (im besseren Fall) mutig zu mixen. Hier geht es um das Erschaffen einer kompletten und komplett eigenen literarischen Welt.

Damit steht China Miéville in einer Reihe mit literarischen Exzentrikerinnen und Exzentrikern des Unwirklichen wie Jeff VanderMeer, Cory Doctorow, Caitlín R. Kiernan, Michael Cisco oder Paul Di Filippo. Als politisch hellwacher Kopf und Mitherausgeber der Zeitschrift Historical Materialism – Research in Critical Marxist Theory weiß er außerdem, dass Sozialisten unbedingt Science (oder eben: Weird) Fiction lesen sollten und renoviert mit Perdido Street Station von Grund auf, was man sich unter „engagierter“ oder „sozialkritischer“ Prosa vorstellen könnte. Und dass man die Größe dieses keinesfalls nur den Genrekunst Geneigten vorbehaltenen Stücks kanonischer Gegenwartsliteratur auch hierzulande unvermindert bestaunen kann, ist nicht zuletzt der herausragenden Übersetzung von Eva Bauche-Eppers zu verdanken.

China Miéville: Perdido Street Station · Heyne, München 2014 · 846 Seiten · € 13,99

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