2. April 2017 1 Likes

Androids dream of infinite sadness

Das Action-RPG „Nier: Automata“ im Test

Lesezeit: 7 min.

Mit dem Begriff der Dystopie wird inflationär, manchmal sogar umgangssprachlich ein bisschen schludrig umgegangen. Denn als negative Kehrseite der tendenziell eher zukunftsfreundlichen Utopie, besteht einer ihrer wesentlichen und manchmal vergessenen Kernmerkmale darin, einen negativen Ausgang der Ereignisse zu bevorzugen. In vielen Dystopien stirbt die Hoffnung; und nicht erst zuletzt. Um es gleich vorweg zu nehmen: Man muss sich das Anfang März für PC und PS4 erschienene Nier: Automata von Platinum Games und Square Enix unbedingt mit dieser Schärfung des Begriffs nähern, um diesen in vielerlei Hinsicht tristen, gnadenlos pessimistischen und oft genug schlicht traurigen Action-Rollenspiel gerecht zu werden.

Mag der Titel auf den ersten Blick nur eines von vielen japanischen Zukunftsszenarien mit eigenwilligen Anime-Figuren und teils abwegig absurden Designentscheidungen sein, erweist sich Nier: Automata über die gut 25 Spielstunden als konsequenter Weg in den Niedergang, der mit unvorhersehbaren Wendungen Akzente jenseits des üblichen JRPG-Mainstreams setzt. Das ist umso bemerkenswerter, da sich das Game über weite Strecken sperrig und in Sachen Gameplay teilweise sogar höchst enervierend präsentiert. Kaum Wunder also, wenn manche Spieler nach einigen Stunden voller Backtracking zu den immer gleichen Orten einer überschaubaren Spielwelt, altbackener Technik mit unscharfen Texturen und hölzernen Charakteren oder immer gleichen Attacken der recht wenigen Feindklassen eher gelangweilt das Pad zur Seite legen. Nier: Automata ist definitiv nur etwas für Sci-Fi-Dystopiker mit längerem Atem, einer Liebe für abgedreht depressive Story-Twists oder Fans äußerst dynamischer Kampfsysteme mit viel Kombo- und Abwechslungspotenzial.

Die Geschichte ist in einer fernen Zukunft angesiedelt, in der die Menschheit längst von Aliens und deren Roboterarme von der Erde vertrieben und auf den Mond verbannt wurde. Um den Planeten zurück zu gewinnen, entwickelten die übrigen Menschen verschiedene Androiden-Klassen, die von einer Raumstation für sie den Kampf gegen die mechanischen Besatzer führen. Die beiden Androiden 9S und 2B werden zu Beginn des Games wieder auf die komplett verödete und von Flora und Fauna längst überwucherte Erdoberfläche geschickt, um verschiedene Aufträge zu erfüllen. Wir übernehmen zunächst die Kontrolle über die Androidin 2B, allerdings wechseln sich die spielbaren Charaktere gerade mit zunehmender Spielzeit häufiger ab und erhalten auch weiteren Zuwachs. Auf der Oberfläche sind neben Elchen und Wildschweinen kleinere Gruppen von Blecheimern unterwegs, während wir immerhin noch ein weiteres Rebellenlager aufsuchen dürfen, um uns genretypisch mit erbeuteten oder gefundenen Wertgegenständen weitere Upgrades, Waffen oder Items für unsere Kämpfer besorgen können.

Einzelne Nebenmissionen erwarten uns dabei ebenso wie Story-Aufträge, die uns in die einzelnen Regionen der Spielwelt inklusive Wüste, Untergrund, Hochhausschluchten, einer gigantischen Stahlfabrik, einem Wald mit Ritterburg oder auch einem Vergnügungspark. Gerade die absonderliche Mischung der Settings fängt optimal die triste Grundstimmung der Story ein, da sich die Roboter mit ihrem Verhalten an die ihnen zugewiesenen Orte anpassen. Wenn man etwa zum ersten Mal beim Vergnügungspark auf fröhlich feiernde Roboclowns oder im Wald auf Wildschweinen reitenden Ritter trifft, die ihre Rolle in mehrfacher Hinsicht verinnerlicht und zum Kern ihrer Existenz erklärt haben, wird mehr als deutlich, dass es in „Nier“ um mehr geht, als einen Stellvertreterkrieg zwischen Androiden und Robotern.

Die zunächst eher tumben Gehilfen der Invasoren haben nämlich mit der Zeit (und es verging sehr viel davon, wie sich bald herausstellt) menschliches Verhalten verinnerlicht und ahmen dieses nach. So treffen wir etwa auf eine gigantische Sängerin, die einst versuchte, mit ihrem Gesang und Poesie die Liebe eines anderen Roboters zu gewinnen, ehe „sie“ erkennen musste, dass dieses Konzept bei ihrem Angebeteten nicht vorhanden war. Im Verlauf des Abenteuers lernen wir auch die Roboter-Kolonie unter der Führerschaft der freundlichen Pascale kennen, die Nietzsche liest und mit ihren friedliebenden Mitrobotern den für sie zunehmend sinnlosen Kampf gegen die Menschheit aufgegeben hat. Im Gegensatz dazu erscheinen die Androiden mit ihrem Klassensystem und speziell der hoch militanten Führungsriege ihrer Raumstation als gefühlsarme Wesen, die sich mit jedem Neustart oder Upload ihrer Erinnerungen entledigen und daher trotz ihrer humanoiden Erscheinung oft entmenschlichter wirken als ihre Gegenspieler.

An diesem Punkt macht sich auch das typische Japano-Design am stärksten bemerkbar, denn speziell die Androidinnen wie 2B triefen mit der expressiven Zurschaustellung ihrer weiblichen Körper inklusive Minikleid vor sexistischen Klischees. Will man das positiv interpretieren, könnte man hier den stärksten Widerspruch zwischen äußerer Hülle und unterkühltem Inneren sehen (was gerade das exzellente Design der Androiden-Station unterstreicht), wobei sich gerade auch dieses Spannungsfeld analog zur „Vermenschlichung“ der Roboter als zunehmend hybrid erweist. Selbstverständnisse jeder Art zerbröseln bis zum bitteren Finale mit einer solchen Grausamkeit, dass man selbst um den Verlust eines Robokindes oder der bewussten Löschung mancher Erinnerungsspeicher zur Vermeidung persönlichen Schmerzes fast eine Träne vergießen möchte.

Doch Nier: Automata hat neben der Story noch einige weitere Merkwürdigkeiten auf der hohen Kante, die den Titel aus der Masse hervorheben. Da wäre etwa die permanente Unberechenbarkeit, in welche Richtung sich Story wie Gameplay gerade entwickeln. Denn wir sind nicht nur in klassischer Third-Person-Perspektive mit unseren Androiden unterwegs, sondern wechseln mehrfach mithilfe einer Flugeinheit in eine klassische Shooter-Mechanik (mit Top-Down-Perspektive) oder schießen uns mit einem kleinen Hackermodul durch grobklotzige VR-Level, um Feinde zu schwächen oder Portale zu öffnen. Zwar erschöpft sich auch dieser Mix im Lauf der Zeit durch zu viel Redundanz, da sich neben den Settings auch die Feinde immer wiederholen. Besonders ärgerlich dabei: häufig müssen wir Gegenstände von A nach B befördern, ohne dass sich einerseits daraus ein Mehrwert ergeben würde und andererseits zwingt uns das Game damit sehr häufig längere Ladezeiten auf.

Besonderes Lob verdient hingegen das komplexe Kampfsystem, mit dem selbst brachiale Multi-Kombos und elegantes, unbedingt nötiges Ausweichen mit etwas Übung leicht von der Hand gehen (für ganz faule Zocker gibt es sogar einen Automatik-Modus) und die Action mit verschiedenen Aufrüstungen und Variationen kaum langweilig wird. Über 30 Waffen, die sich zu verschiedenen Sets kombinieren lassen, bieten viel Raum für Experimente. Darüber hinaus verhelfen uns schwebende, weitgehend autonom agierende Begleitbots mit Schusswaffen und nützlichen Sonderattacken bei der Gegnerdezimierung, wobei wir zwischen Fern- und Nahkampf wechseln können und so eine zusätzliche Prise Taktik ins Spiel kommt. Dass das RPG gerade an der Action-Front groß auftrumpft, darf eigentlich niemanden verwundern, denn die Entwickler von Platinum Games zeichneten bereits für die hervorragend ausbalancierten und gleichzeitig extrem effektgeladenen Kampfsysteme großartiger Referenztitel wie Bayonetta oder Metal Gear Rising: Revengeanz verantwortlich.

Im Kontext all dieser Facetten sollte auch nicht unterschlagen werden, wie selbstreflexiv Nier an manchen Stellen angelegt ist. Zwei besonders markante Beispiele mögen diese Qualität skizzenhaft unterstreichen: zum einen durchlebt man das Abenteuer nicht einmal, sondern mehrmals. Läuft zum ersten Mal den Abspann über den Bildschirm, werden wir darauf hingewiesen, mit unserem Speicherplatz eine neue Runde starten zu können, die mit neuen Einblicken und Hintergründen aufwartet. Doch auch dann ist noch nicht Schluss, da Runde drei wiederum völlig neue Stränge einfügt, welche das Storytelling in Summe zum sprichwörtlichen Häuten einer Zwiebel erheben. Viele Ereignisse betrachten wir daher in einem ganz neuen Licht und das gleich mehrfach. Ein zweiter Aspekt der in Nier auf ganz eigene Art ausgestellten Selbstreflexivität betrifft eines der insgesamt über 20(!) freispielbaren Enden, wenn wir mithilfe einer längeren Frage-und-Antwort-Schleife plötzlich bezüglich unserer Selbstlosigkeit auf die Probe gestellt werden. Dieser Test, wohlgemerkt als eine von vielen Meta-Kuriositäten des Titels, hat mit den innerhalb der Spielwelt verstreuten Androiden-Körper zu tun, die wir zuvor wahlweise zur temporären Kampfunterstützung revitalisieren oder deren Items wir an uns nehmen können. Sind wir nun wiederum selbst tatsächlich bereit, unser gesamtes Inventar ohne Rückhalt an andere Fremd-Spieler per Zufall zu vergeben, ohne je Dank oder eine Belohnung dafür zu erhalten? Mehrere Fragerunden führen uns dann zur ultimativen Entscheidung, in der uns abverlangt wird, alle gespeicherten Spielstände zu opfern, um so auf den Status eines kompletten Neulings zurückzufallen. Nach über 25 Stunden Spielzeit eine harte Entscheidung, ohne dafür im Falle der Annahme je Dank oder Anerkennung erwarten zu können. Dass sich dieser Twist vorzüglich in den motivisch-dystopischen Gesamtverlauf der Handlung einfügt, sei dabei nur noch der Vollständigkeit halber erwähnt.

Fazit

Wer trotz aller naturgemäßen Eigenheiten eines JRPGs einen schmissig zugänglichen, außerdem perfekt produzierten Blockbuster wie Horizon: Zero Dawn erwartet, dürfte von Nier: Automata schnell enttäuscht sein. Zu altbacken die Grafik, zu klein die Spielwelt und zu viele Kämpfe gegen die immer gleichen Gegnerhorden. Doch wer diesen epischen Titel zu schnell als launische Diva diskriminiert, tut Nier ein Unrecht an, das diesem verschrobenen Highlight nicht gerecht wird. Anders als die glatten, oft auch eher hohlen Stories vom Schlage eines Final Fantasy 15, zieht Platinum Games den verfolgten Ansatz mit aller tristen Konsequenz und inklusive hervorragender Spielbarkeit bis zum Ende voll durch und liefert eine tieftraurige Sci-Fi-Ballade, die sich das Etikett „dystopisch“ als Qualitätsmerkmal völlig zurecht auf die Fahnen schreiben darf. Ein Game, wie man es heutzutage viel zu selten findet. 

Nier: Automata  • Platinum Games/Square Enix • Action-RPG

Abb. © Platinum Games/Square Enix

 

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