
„Das Syndrom“
von John Scalzi
Am zweiten Tag als frischgebackener FBI-Agent wird Chris Shane ins kalte Wasser geworfen: Im Watergate Hotel in Washington ist ein Mann ermordet worden. Der Verdächtige, Nicolas Bell, sitzt blutverschmiert, aber ohne Erinnerung an die Tat neben der Leiche. Doch der Fall ist keineswegs klar. Bell scheint nämlich, trotz der erdrückenden Beweislast, nicht der Mörder zu sein. Denn Nicolas Bell ist ein Integrator.
Dieser Beruf entstand gut fünfundzwanzig Jahre zuvor in einer nicht näher definierten Zukunft, nachdem weltweit beinahe drei Milliarden Menschen von einem bis dahin unbekannten Virus befallen wurden. Die meisten Opfer starben an der Krankheit, doch einige wenige wurden verändert. Ein Prozent der Erkrankten entwickelte das Lock-in-Syndrom, bei dem ein wacher Geist in einem komplett paralysierten Körper gefangen ist. Und noch weniger wurden in die Lage versetzt, ein anderes Bewusstsein in ihren Körper aufzunehmen. Diese Menschen wurden später zu Integratoren. Die Regierungen weltweit, allen voran die der Vereinigten Staaten von Amerika, nach deren prominentestem Opfer, der First Lady, das Haden-Virus benannt wurde, stellten gewaltige Geldmittel zur Verfügung, um den Opfern zu helfen. Jeder Versuch, die Krankheit zu heilen, schlug fehl. Also konzentrierte man sich darauf, die Eingeschlossenen so gut wie möglich in die Gesellschaft zu integrieren. Man entwickelte das neuronale Netzwerk, das in den Kopf der „Hadens“ implantiert wird. Dadurch sind die Hadens in der Lage, ihren bewegungslosen Körper hinter sich zu lassen und ihr Bewusstsein entweder in Avatar-ähnliche Roboter, Threeps genannt, oder in einen menschlichen Integrator zu übertragen. Nicolas Bell war also nicht unbedingt Nicolas Bell, als er den Mord beging. Shane und die Agentin Leslie Vann, selbst ehemalige Integratorin, jagen im wahrsten Sinne des Wortes einen Geist.
Schnell stellt sich heraus, dass es bei dem Fall um mehr geht als einen einfachen Mord. Es werden Anschläge auf Firmen verübt, die an Haden-Technologie forschen, und bei allen waren Integratoren im Spiel. Die Taten scheinen mit der nächsten großen Veränderung, die der Welt bevorsteht, im Zusammenhang zu stehen. Denn das Gesetz, das die teuren Threeps und die medizinische Versorgung der Hadens finanziert, steht kurz davor, gekippt zu werden. Stattdessen wird die gesamte Haden-Forschung an den privaten Sektor übertragen. Irgendjemand mit sehr viel Geld und Einfluss scheint es also auf die Hadens abgesehen zu haben – aber wer? Je größer der Fall wird, desto fataler könnten seine Auswirkungen für Politik und Wirtschaft sein. Für Shane und Vann beginnt eine atemlose Verfolgungsjagd, bei der sie selbst zur Zielscheibe werden …
Mit „Das Syndrom“ (im Shop) hat John Scalzi vorerst den Space Operas, mit denen er international bekannt geworden ist, den Rücken gekehrt und sich in das Genre des Zukunftskrimis vorgewagt. Dabei scheint er keineswegs seine Komfortzone verlassen zu haben – es sieht vielmehr so aus, als hätte er die einfach mitgenommen.
Was „Das Syndrom“ so besonders macht, ist die gesamte Hintergrundstory um das Haden-Syndrom und dessen Opfer. Scalzi nutzt sie als Vehikel für eine Reihe von politischen, sozialen und ökonomischen Diskussionen, die sich durch den gesamten Roman ziehen. Welche Verantwortung hat eine Regierung einem Teil ihrer Bevölkerung gegenüber, der in Not ist? Und wiegt diese Verantwortung diejenige auf, die sie gegenüber dem „gesunden“ Teil des Volkes hat? Wie geht man mit Menschen um, die mit einem Bein in einer virtuellen Welt stehen? Die nicht tatsächlich körperlich anwesend sind, sondern Avatare benutzen? Ist es Diskriminierung, wenn Threeps nicht in Restaurants dürfen, weil sie nichts essen, sondern nur Platz wegnehmen? Wie integriert man eine solche Gruppe in die Gesellschaft? Welche Auswirkungen hat es auf die eigene Identität, wenn man in einem Roboter anstatt in einem menschlichen Körper lebt?
Zwar spielt Scalzi diese Fragen anhand einer fiktionalen Minderheit durch, aber unsere reale Welt scheint dahinter mehr als deutlich durch – etwa in dem Umstand, dass er uns nie verrät, welches Geschlecht Chris Shane eigentlich hat. Shanes Identität wird anders definiert, und durch die Augen dieses Ich-Erzählers bekommen wir Leser einen Eindruck davon, wie es ist, ganz anders zu sein.
Dazu gehört auch der Themenkomplex um die Bewusstseinsintegration mit einer Maschine, dem Threep. Dessen Namenspatron, C3PO aus Star Wars, war noch ein „klassischer“ Roboter, dem eine gewisse Menschlichkeit, ein gewisses Selbstbewusstsein gegeben worden war. Doch die Frage, inwiefern Roboter oder Androiden ein Ich-Bewusstsein haben, die noch von Autoren wie Isaac Asimov (im Shop) und Philip K. Dick (im Shop) gestellt wurde, wird seit der Loslösung des Bewusstseins vom Körper im Cyberpunk (im Shop) heute anders gestellt. Deswegen führt John Scalzi uns mehr als einmal effektiv vor Augen, wo Chris Shane sich den ganzen Roman über eigentlich aufhält: zu Hause, ans Bett gefesselt und intravenös ernährt.
Das alles wird in einem spannenden Crime-Plot und den Scalzi-typischen schlagfertigen Dialogen verpackt. „Das Syndrom“ ist ein intelligenter Krimi, gespickt mit dem Besten aus der Science-Fiction: den großen Fragen unserer Zeit.
Elisabeth Bösl
Das Syndrom
Ein Virus geht um die Welt, und die Folgen sind katastrophal. Die meisten Opfer kommen mit einer Art Grippe davon, doch für einige wenige wird die Ansteckung zum Horror: Sie fallen in ein totales Wachkoma, das sogenannte Haden-Syndrom. Millionen von Menschen sind betroffen, und in den USA ist nichts mehr, wie es einmal war. Als der junge FBI-Agent Chris Shane auf einen mysteriösen Mordfall angesetzt wird, stechen er und seine Partnerin in ein Wespennest – ein brutales Versteckspiel beginnt, in dessen Zentrum möglicherweise die Antwort auf das Rätsel des Haden-Virus steht …
Weitere Leseempfehlungen: