9. Juni 2017 1 Likes

Protokolle einer Roboter-Invasion

Eine exklusive Leseprobe aus Sylvain Neuvels neuem Roman „Giants – Zorn der Götter“

Lesezeit: 14 min.

Bereits mit dem Auftaktroman seiner Giants-Trilogie hat sich der Kanadier Sylvain Neuvel in die Herzen der deutschen Science-Fiction-Leser geschrieben. Selten hat jemand so frisch und actiongeladen, dabei allerdings auch tiefgründig, das Thema des Angriffs von Riesenrobotern aus dem All aufgegriffen – und in Band 2 legt Neuvel noch einmal nach. Damit ihr euch selbst ein Bild machen könnt, haben wir hier eine exklusive Leseprobe aus „Giants – Zorn der Götter“ (im Shop) zusammengestellt. Viel Spaß bei der Lektüre!

 
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PROLOG

Tagebucheintrag von Eva Reyes
 

Sylvain Neuvel: Giants - Zorn der GötterMelissa hat sich heute in der Schule über mich lustig gemacht. Sie steht jetzt total auf Jungs. Enzo und seine Freunde fingen wieder an, mich La Evita Loca zu nennen, und sie hat mitgemacht. Sie rief: »Guckt mal! Die verrückte Eva fängt gleich an zu heulen!« Ich hasse sie.

Sie war meine letzte gute Freundin. Angie geht jetzt auf die Baldwin School, und wahrscheinlich höre ich nie mehr von ihr. Essie ist nach Bayamón gezogen. Das waren die Einzigen, mit denen ich mich nach der Schule getroffen habe. Wir haben oft am Rio Pedras Steine gesammelt. Essie liebt Steine, besonders diese blauen. Kyanit heißen sie, glaube ich. Neulich bin ich alleine losgezogen und habe tonnenweise davon gefunden. Ich habe ihr gesagt, dass ich welche mitbringe, wenn ich sie besuchen komme, aber ich weiß nicht, wann meine Mutter mich zu ihr lässt. Sie sagt, es müsse mir erst besser gehen. Sie sagt auch, dass ich mehr rausgehen soll, doch ich habe niemanden mehr zum Spielen.

Heute Abend gehe ich wieder zu dem Psychiater. Er glaubt, ich sei verrückt, wie alle anderen auch. Sie sagen mir immer wieder, es ist normal, schlechte Träume zu haben. Aber ich weiß, dass es keine Träume sind. Es passiert jetzt auch, wenn ich wach bin. Heute in der Schule habe ich es wieder gesehen und angefangen zu schreien. Es war dasselbe wie seit Monaten. Alle sind tot. Auf den Straßen sind Tausende von Toten, eine ganze Stadt voll Leichen. Ich sehe meine Eltern in einer Blutlache in unserem Haus liegen. Das habe ich ihnen nicht erzählt. Heute ist etwas Neues passiert. Ich habe einen Roboter gesehen, der so ähnlich aussah wie Themis, eine große Frau aus Metall, die in die Wolken fällt.

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FILE 1408

Gespräch mit Brigadegeneral Eugene Govender,
Kommandeur der Erdverteidigungstruppen

Ort: Waldorf Astoria Hotel, New York, NY
 

Sie sollten sich beeilen, Eugene.

— Wie lange kennen wir uns jetzt?

Im September werden es vierzehn Jahre.

— Vierzehn Jahre. Und habe ich Ihnen in all der Zeit je angeboten, mich Eugene zu nennen?

»General« kommt mir nach dem, was wir zusammen durchgemacht haben, … unangemessen vor.

— Ja, nicht wahr? Stellen Sie sich mal vor, wie es sich anfühlt, wenn man überhaupt keine Anrede zur Verfügung hat.

Nicht dass ich es nicht genießen würde, wie Sie sich immer wieder über meine Anonymität beklagen, aber Sie sprechen in weniger als einer Stunde vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Ich weiß, wie sehr Sie Reden verabscheuen, falls Sie also meine Hilfe brauchen, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt.

— Warum halten Sie dann nicht die Ansprache? Sie sind doch derjenige, der mir das Chaos erst eingebrockt hat.

Lassen Sie mich den Anfang hören.

— Wo ist der verdammte Zettel? Ah, hier. Haben Sie irgendwo meine …

Sie liegt auf dem Nachttisch.

— Danke. Es geht ungefähr so: »Ich weiß, dass viele von Ihnen Angst haben. Ich weiß, dass Sie Antworten wollen.«

Ich meinte, wie fängt Ihre Rede an?

— Das ist der Anfang meiner verfluchten Rede.

Eugene, Sie sprechen nicht zu den Kadetten Ihrer Akademie. Das ist die UN-Generalversammlung. Es gibt ein Protokoll. Normalerweise beginnt man mit der Anrede. Herr Präsident, Herr Generalsekretär, Mitglieder der Generalversammlung, meine Damen und Herren.

— Gut. Dann fange ich damit an. Danach sage ich: »Ich weiß, dass viele von Ihnen Angst haben. Ich weiß, dass Sie Antworten wollen.«

Nein. Sie müssen erst etwas Tiefsinniges sagen, etwas Erbauliches.

— Etwas Erbauliches? Es steht ein verdammter Roboter mitten in London. Die Leute wollen, dass ich ihn wegschaffe. Daran ist nichts erbaulich.

Dann sagen Sie etwas, das nichts damit zu tun hat. Hauptsache tiefsinnig. Die letzte Ansprache, die ich persönlich gehört habe, war von einem US-Präsidenten. Er hat in etwa gesagt: »Wir kommen zusammen am Scheideweg zwischen Krieg und Frieden, zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Furcht und Hoffnung.«

— Also gut. Herr Präsident, Herr Generalsekretär, Mitglieder der Generalversammlung, meine Damen und Herren. Diejenigen von Ihnen, die mich kennen, wissen, dass ich nicht viele Worte verschwende. Diejenigen, die mich gut kennen, wissen auch, wie sehr ich Reden verabscheue. Deshalb werde ich mit Ihrer Erlaubnis meine einleitenden Worte einem ehemaligen US-Präsidenten entleihen. Er sagte: »Wir kommen zusammen am Scheideweg zwischen Krieg und Frieden, zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Furcht und Hoffnung.«

Das ist …

— Das war ein Scherz. Aber ich habe ein Zitat von jemand anderem, der besser mit Worten umgehen konnte. Das kann ich an den Anfang stellen, aber danach müssen Sie sich mit einigen Worten von mir begnügen. Sein Name ist Thomas Henry Huxley. Er war Wissenschaftler, einer der ersten modernen Biologen. Er sagte: »Das Bekannte ist endlich, das Unbekannte unendlich. Wir stehen mit unserem Verständnis auf einer kleinen Insel inmitten eines unermesslichen Meeres des Unerklärlichen. Unsere Aufgabe ist es, mit jeder Generation ein wenig mehr Land zu gewinnen.« Vor fast einem Jahrzehnt, als Themis der Welt präsentiert wurde, begriffen wir, dass dieses Meer viel größer ist, als wir dachten, und seit den Ereignissen in London heute Morgen ist unsere Insel der Gewissheit so klein geworden, dass ich mich frage, ob wir darauf noch stehen können.

Darf ich es jetzt sagen?

Ich weiß, dass viele von Ihnen Angst haben.

— Machen Sie sich nicht über mich lustig.

Ich weiß, dass viele von Ihnen Angst haben. Ich weiß, dass Sie Antworten wollen. Ich sage Ihnen ganz offen, ich kenne die Antworten auf Ihre Fragen nicht. Noch nicht. Und ich muss ein Geständnis ablegen. Ich … ich habe auch Angst. Ich habe Angst, weil ich nicht weiß, was das für ein Ding ist oder was es will. Ich weiß nicht, ob noch mehr davon kommen, und ich weiß nicht, ob wir etwas dagegen tun könnten. Es gibt vieles, was wir nicht wissen. Wenn Sie mich fragen, ist ein wenig Angst nur gesund.

Wie beruhigend. Ich fühle mich schon besser.

— Aber wir dürfen uns von der Angst nicht daran hindern lassen, das zu tun, was wir tun müssen. Wir dürfen uns von der Angst nicht unser Handeln diktieren lassen. Wir müssen uns in Geduld üben. Was wir hier haben …

Worauf wollen Sie hinaus?

— Wir sollten abwarten, statt etwas sehr Dummes zu tun.

Zum Beispiel?

— Sie wissen doch, dass es in England Leute gibt, die eine Machtdemonstration sehen wollen. Und auch die NATO erwägt ein militärisches Eingreifen. Ich will, dass jeder in diesem Raum seinen Einfluss geltend macht. Ich will, dass sie alle Mittel einsetzen, um das zu verhindern.

Warum?

— Das wissen Sie doch selbst! Der zweite Roboter ist möglicherweise noch mächtiger als Themis. Vermutlich können die britischen Bodentruppen ihm keinen Kratzer zufügen. Und wir reden von London. In einer städtischen Umgebung ist es einfach unmöglich, bei einem Bodenangriff genügend Feuerkraft zusammenzuziehen. Ein umfassender Luftschlag wäre erfolgversprechender, aber dazu müssten unsere größten Luftstreitkräfte gemeinsam operieren. Und wir würden damit die Stadt dem Erdboden gleichmachen. Wenn das den Roboter nicht erledigt, wäre eine starke Atombombe unserer beste und letzte Option, obwohl wir danach den Großteil der englischen Bevölkerung umsiedeln müssten. Ist das deutlich genug?

Wenn Sie das den Leuten klarmachen wollen, dann sollten Sie es so sagen, in diesen Worten. Erklären Sie ihnen, dass es bei einem Angriff keinen günstigen Fall gibt, und dass sie mit einem Bluff nicht weiterkommen.

— Meinen Sie nicht, dass das ein bisschen grob wäre? Sie haben doch um etwas Tiefsinniges und Erbauliches gebeten.

Sie haben mit etwas Tiefsinnigem und Erbaulichem angefangen, sodass die Leute sich schlau vorkommen, wenn sie Sie in zwanzig Jahren beim Abendessen zitieren. Wenn es etwas gibt, das die Leute heute verstehen sollen, dann sagen Sie es, als würden Sie mit Ihren Enkelkindern reden. Die Hälfte der Anwesenden hört Sie über einen Dolmetscher, und die meisten haben die Aufmerksamkeitsspanne eines Fünfjährigen. Wenn sie den Raum verlassen, werden diese Leute in ihren Heimatländern anrufen. Wahrscheinlich sprechen sie mit ihren Verteidigungsministern, den hochrangigen Generälen und Stabschefs, Leuten, die eine Armee befehligen und sie gern einsetzen möchten. Sie bitten sie, einer Gruppe von Wissenschaftlern statt ihren eigenen Militärberatern zu vertrauen. Stellen Sie sicher, dass der Grund dafür nicht bei der Übersetzung verloren geht.

— Ich habe noch einen anderen Absatz, der mich einigermaßen intelligent wirken lässt.

Lassen Sie hören.

— Was wir hier haben, ist kein Problem Londons. Es ist kein britisches oder europäisches Problem. Es ist auch sicher kein Problem der NATO. Es ist ein Problem der ganzen Welt. Es ist unser aller Problem, aller Länder, die hier repräsentiert sind, und wir müssen gemeinsam eine Lösung finden. Diese Institution wurde als Folge des verheerendsten Krieges der menschlichen Geschichte gegründet, um den Frieden zu fördern, indem die Länder ihre Konflikte hier lösen, in diesem Raum, statt auf dem Schlachtfeld. Sie wurde auch geschaffen, damit wir unser Wissen und unsere Ressourcen bündeln und große Ziele verwirklichen können, die ein Land allein selbst im Traum nicht erreichen kann. Heute haben wir die Chance, beides zu tun: einen Krieg unvorstellbaren Ausmaßes zu verhindern und die Menschheit an eine ganz neue Schwelle zu führen. Wenn es je eine Zeit für die Vereinten Nationen gegeben hat, dann jetzt. Wenn es je einen Grund für die EVT gegeben hat, dann ist es dieser.

Setzen Sie das ans Ende, wenn ihre Aufmerksamkeit nachgelassen hat. Erst mal sollten Sie über Ihre militärische Laufbahn reden, damit sie eine Beziehung zu Ihnen herstellen können.

— Ich habe irgendwo ein paar Worte aufgeschrieben … Hier.

Ich weiß, dass viele von Ihnen Zweifel haben. Die Entscheidung, die EVT zu schaffen, ist nicht einstimmig gefallen. Warum sollten Sie der EVT vertrauen und nicht Ihrem eigenen Militär? Das ist wahrscheinlich die einzige Frage, die ich heute beantworten kann. Ich bin Soldat, seit über vierzig Jahren. Und ich kann Ihnen Folgendes sagen: Soldaten brauchen Informationen …

Sie müssen weiter ausholen. Erzählen Sie ihnen, in wie vielen Kriegen Sie waren, wie viele Menschen Sie getötet haben. Lassen Sie sie das Blut sehen. Präsentieren Sie sich als Kriegstreiber, der beim geringsten Anlass eine Bombe auf London werfen würde. Nur dann werden sie Ihnen glauben, wenn Sie sagen, dass sie es nicht tun sollen.

— Was soll ich sagen? Ich bin Brigadegeneral in der südafrikanischen Armee und Kommandant einer UN-Militäreinheit. In Südafrika habe ich die Army Armour Formation befehligt, das ist ein schwierig auszusprechender Ausdruck für viele Panzer. Ich habe im südafrikanischen Grenzkrieg gekämpft, ich habe an friedenssichernden Einsätzen im Sudan teilgenommen, ich habe Truppen der UN-Interventionsbrigade in der Demokratischen Republik Kongo kommandiert. Ich war mein ganzes Leben lang in der einen oder anderen Armee, und …

Perfekt.

— … und ich kann Ihnen Folgendes sagen: Soldaten – Menschen wie ich – brauchen Informationen, um nützlich zu sein. Wir müssen wissen, was vorgeht. Ohne Informationen, das kann ich Ihnen garantieren, wollen Sie Ihr Schicksal nicht in die Hände des Militärs legen. Wir improvisieren nicht. Wir sind wie ein Elefant im Porzellanladen, und wir können großes Chaos anrichten, wenn Sie uns unseren eigenen Schwanz jagen lassen.

Ich bin auch Kommandant der Erdverteidigungstruppe, die im Prinzip eine Streitmacht mit einer einzigen gigantischen Waffe ist. Als Kommandant befehlige ich zwei Soldaten. Oder eigentlich nur einen. Der andere ist streng genommen ein kanadischer Berater. Außerdem arbeiten achtundsechzig Wissenschaftler für mich. Als mir die Aufgabe angeboten wurde, wurde mir das nicht so genau gesagt, weil alle wussten, dass ich keine Wissenschaftler mag. Wissenschaftler sind wie Kinder: Sie wollen immer alles wissen, sie stellen zu viele Fragen, und sie befolgen die Befehle nie genau.

Das, meine Damen und Herren, ist die EVT. Ein großer Roboter, ein Soldat, ein Linguist und ein ganzer Haufen ungehorsamer Kinder. Was wir brauchen, was die Welt jetzt braucht, sind meine aufsässigen Kinder. Sie wissen mehr über außerirdische Technologie als jeder andere auf diesem Planeten, und sie lernen jeden Tag dazu. Das ist ihr Job: Sie lernen unaufhörlich, jeden Tag. Sie stecken Land für unsere kleine Insel des Wissens ab, damit wir Platz zum Atmen haben.

Berührend.

— Ich habe mich an die Rede erinnert, mit der Sie mich damals überzeugen wollten, diesen Posten anzunehmen.

Sie haben abgelehnt.

— Stimmt, aber es war eine gute Rede. Dann habe ich noch ein paar Absätze über das, was wir wissen, und vor allem über das, was wir nicht wissen.

Was wissen wir?

— Nicht viel. Ich sage Ihnen, was ich vorbereitet habe.

Wir hatte nur einige Stunden Zeit, uns die verfügbaren Daten anzusehen, und unsere Leute waren noch nicht vor Ort, aber Folgendes wissen wir: Der Roboter in London ist ungefähr drei Meter größer als Themis und zehn Prozent schwerer. Wir nennen ihn Kronos. Das war’s. Der Rest ist Spekulation.

Vielleicht befindet sich niemand in dem großen Metallmann. Vielleicht wird er ferngesteuert, vielleicht ist er gar kein Roboter. Er hat sich seit seiner Ankunft nicht bewegt. Wir halten das für ziemlich unwahrscheinlich, aber wir können die Option auch nicht einfach außer Acht lassen. Es könnten auch Menschen darin sein. Das würde bedeuten, dass ein weiterer Roboter irgendwo vergraben und von einem der heute hier vertretenen Länder entdeckt wurde. Auch das ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

Ausgehend von dem, was wir über Themis wissen, ist das wahrscheinlichste Szenario, dass sich mindestens zwei außerirdische Piloten an Bord befinden, und da der Roboter in London Themis verdammt ähnlich sieht, lautet unsere Arbeitshypothese, dass er von derselben Spezies hergestellt wurde. Deswegen müssen wir es jedoch nicht zwangsläufig mit den Leuten zu tun haben, die Themis gebaut haben. Da sie einen riesigen Roboter auf der Erde zurückgelassen haben, könnten sie dasselbe auch auf einem anderen bewohnten Planeten getan haben, und möglicherweise sind es diese Leute, die uns besuchen. Wie gesagt, wir wissen nicht viel.

Falls wir es mit Außerirdischen zu tun haben, könnten sie uns freundlich gesinnt sein. Sie haben nicht aus allen Rohren auf uns gefeuert – das ist meistens ein gutes Zeichen –, und unsere gegenwärtige Theorie zu Themis ist, dass sie hiergelassen wurde, damit wir uns verteidigen können. Sie könnten allerdings genauso gut feindliche Absichten haben. Dann scheint es seltsam, dass sie uns so viel Zeit lassen, uns vorzubereiten, aber vielleicht ist ihre Anwesenheit nur das Vorspiel zu einer großen Invasion oder Attacke. Eine weitere, sehr einleuchtende Erklärung, zu der wir tendieren, ist, dass sie noch versuchen, mehr über uns in Erfahrung zu bringen. Vielleicht konnten sie aus der Ferne nicht feststellen, ob wir eine Bedrohung darstellen oder wie wir auf ihre Anwesenheit reagieren.

Aber genug spekuliert. Im Moment muss ich jeden Satz mit »vielleicht« oder »falls« anfangen. Ich wurde gebeten, herzukommen und eine Empfehlung abzugeben. Sie ist eine sehr einfache: Schicken Sie Themis nach England. Das wird sieben oder acht Tage dauern. Lassen Sie meine Kinder eine Woche weiterarbeiten, dann kommen wir wieder zusammen. In der Zwischenzeit bitte ich Sie alle inständig, sich in Zurückhaltung zu üben und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Das ist nicht der Zeitpunkt für spontane Aktionen, so verlockend das auch sein mag.

Das war’s. Das ist meine Rede. Ist sie lang genug?

Genau richtig.

— Es hat natürlich nicht geholfen, dass ich sie für die Presse komplett neu schreiben musste, nachdem Rose ihren verdammten Verstand verloren hat.

Was hat sie getan?

— Das haben Sie nicht mitbekommen? Sie ist im Fernsehen aufgetreten und hat der ganzen Welt erzählt, dass wir uns raushalten sollten.

Wer ist wir?

— Die EVT. Sie hat gesagt, Themis zu schicken, wäre der größte Fehler. Ich weiß, dass Sie sie mögen, aber sie ist nicht ganz klar im Kopf. Die Frau bewegt sich auf sehr dünnem Eis.

Sie hat einige … verstörende Erlebnisse hinter sich.

— Das verstehe ich. Aber ich verstehe nicht, warum Sie ihr das Kommando überlassen haben. Sie könnte im Team mitarbeiten, ohne das Sagen zu haben. Sie mag mich nicht, weil ich der große böse Soldat bin, doch was sie tut, hilft uns nicht gerade weiter. Themis zu schicken, ist die einzige Möglichkeit, uns ein bisschen Zeit zu verschaffen. Ansonsten stehen spätestens morgen früh Truppen im Regent’s Park, und wir wissen beide, wie das endet.

Lassen Sie hören.

— Was?

Das, was Sie für die Presse vorbereitet haben.

— Gut. Sie haben vielleicht gehört, dass die Leiterin unserer wissenschaftlichen Abteilung, Dr. Rose Franklin, heute Morgen mit den Medien gesprochen hat. Sie hatte eine Menge zu sagen, aber im Großen und Ganzen glaubt sie, dass wir nichts tun und niemanden, nicht einmal die EVT, schicken sollten. Stattdessen sollten wir hoffen, dass der Roboter irgendwann aus eigenem Antrieb wieder verschwindet. Dr. Franklin ist eine brillante Wissenschaftlerin und sicher berechtigt, ihre Meinung zu äußern, auch wenn sie nicht für die EVT spricht. Wie Sie vielleicht wissen, wurde Dr. Franklin bei einem Unfall mit Themis in Colorado beinahe getötet, und ich glaube, der Vorfall hat sie übervorsichtig gemacht. Ich kann ihrer Schlussfolgerung nicht zustimmen, aber sie hat noch viel mehr gesagt als »Wir sollten nicht die EVT schicken«. Sie hat heute Morgen einige wichtige Dinge angesprochen.

Wir kommen zum ersten Mal mit einer außerirdischen Spezies in Kontakt. Egal, wie es läuft, das wird ein entscheidender Moment in der Geschichte der Menschheit sein. Wir sollten alle einen Augenblick innehalten, um zu begreifen, wie bedeutend und einschneidend diese Ereignisse sind.

Vor diesem Hintergrund hat Dr. Franklin darauf hingewiesen, dass wir wahrscheinlich keinen guten ersten Eindruck hinterlassen, wenn wir eine Panzerdivision und ein paar Tausend bewaffnete Soldaten anrücken lassen. Dem kann ich nur schwer widersprechen.

Sie war der Meinung, Themis zu schicken wäre ein noch größerer Fehler. Panzer und Fußsoldaten könnten als Zeichen der Aggression betrachtet werden, aber sie würden keine ernsthafte Bedrohung darstellen, falls der Roboter unserem ähnelt. Themis hingegen könnte ihnen Schwierigkeiten bereiten. Ich glaube allerdings, ein vertrautes Gesicht könnte eine gute Möglichkeit sein, den Dialog zu eröffnen, aber man kann natürlich darüber streiten, ob es eine gute Idee ist, das Einzige auf der Erde zu schicken, das diesen Leuten gefährlich werden könnte.

Präzise. Entschlossen und trotzdem versöhnlich. Das gefällt mir. Ziehen Sie Ihr Jackett an. Es ist Zeit zu gehen.

— Erinnern Sie sich, was Sie mir beim zweiten Mal gesagt haben, um mich dazu zu bringen, die Aufgabe anzunehmen?

Ja.

— Sie haben gesagt: »Ich habe einen militärischen Posten für Sie, auf dem Sie nie wieder jemanden töten müssen.«

Ich weiß. Und ich habe immer noch vor, dieses Versprechen zu halten.

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Eine ausführliche Leseprobe des Romans findet ihr hier.

Sylvain Neuvel: Giants – Zorn der Götter ∙ Band 2 der Themis-Files-Trilogie ∙ Aus dem Englischen von Marcel Häußler ∙ Roman ∙ Heyne Verlag ∙ 480 Seiten ∙ E-Book: € 11,99 (im Shop)

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