16. Januar 2014 4 Likes

Früher nannte man es Science-Fiction

Leben wir in einem neuen Erdzeitalter?

Lesezeit: 13 min.

Spüren Sie es schon? Nein? Zugegeben, für unseren Alltag hat es nicht unbedingt die allergrößte Bedeutung, wie Geowissenschaftler die erdgeschichtliche Epoche nennen, in der wir und andere Lebe­wesen gerade unseren jeweiligen Verrichtungen nachgehen; die Zahl jener, die beim morgendlichen Zähneputzen daran denken, dass sie im »Holozän« leben, dürfte sich in Grenzen halten. Trotzdem hat die seit einigen Jahren geführte Debatte darüber, ob ebendieses Holozän unmerklich an sein Ende gekommen und ein neues Erdzeitalter angebrochen ist, nicht nur akademische Bedeutung, ganz im Gegenteil: Sie betrifft unsere Verrichtungen auf diesem Planeten – die jedes Einzelnen, die unserer Kollektive – auf so subtile wie wirkungsmächtige Weise, gerade weil sie so theoretisch ist. Denn es gibt keinen Bereich, in dem die Theorie die Praxis so sehr bestimmt wie in dem Bild, das wir uns von der uns umgebenden Welt machen.

Dieses Bild justiert sich grundlegend neu, wenn man es durch die Brille des »Anthropozäns« – so der Name des neuen geologischen Epochenabschnitts – betrachtet. Popularisiert hat diesen Namen, unter Rückgriff auf entsprechende Überlegungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, vor etwa zehn Jahren der niederländische Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen, um darauf hinzuweisen, dass die Menschheit inzwischen praktisch jeden Teilbereich der Umwelt maßgeblich beeinflusst, wenn nicht gar fundamental verändert – von der Litho- zur Biosphäre, von der Atmo- zur Hydrosphäre –, und dass sich diese Veränderungen nicht nur in unmittelbaren ökologischen Schäden manifestieren, sondern auch noch in Tausenden von Jahren in den geologischen Schichten der Erde nachweisbar sein werden: in Sedimentablagerungen dort, wo Staudämme den natürlichen Lauf der Flüsse verbiegen; in Versteinerungen von Organismen an Orten, wohin sie nur über globalisierte Transportwege gekommen sein können; in ausgebleichten Schichten von Korallenbänken, die durch die Übersäuerung und Erwärmung der Ozeane abgestorben sind; in Rückständen angeschwemmten Plastiks an den Küsten; in erodierten Endlagerstätten für Atommüll.1 Es ist diese Langzeitwirkung, die das Anthropozän – vulgo: das »Zeitalter des Menschen« – überhaupt erst zu einem Zeitalter macht, denn die für derartige Klassifizierungen zuständige Internationale Kommission für Stratigraphie legt äußerst strenge Maßstäbe an den Erdkalender an (das Holozän, die aktuelle Erdepoche, deren Beginn das Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11.500 Jahren markiert, ist erdgeschichtlich betrachtet ja nur ein Augenzwinkern) und ist bisher noch zu keiner einhelligen Meinung darüber gekommen, ob sie nun das Anthropozän offiziell ausrufen soll oder nicht.

Das hat der Karriere des Begriffs allerdings in keiner Weise geschadet. Bücher und Aufsätze werden zum Thema geschrieben, Konferenzen abgehalten, Ausstellungen er­öffnet, das Wort prangt auf Magazincovern und schleicht sich, nicht selten als »Paradigmenwechsel« im Kuhn’schen Sinne, in Vorträge angesehener Wissenschaftler, ohne dass es noch weiterer Erklärungen bedürfte. Denn am Befund gibt es ja nichts zu deuteln: Der Mensch ist inzwischen tatsächlich der entscheidende Faktor auf dem Pla­neten geworden; er hat mehr als drei Viertel der eisfreien Erdoberfläche signifikant verändert, darunter mit Bauwerken wie dem Panamakanal sogar kontinentale Großstruk­turen, und beeinflusst fast neunzig Prozent der globalen Tier- und Pflanzenwelt.2 Die Erde von heute ist nicht mehr dieselbe wie die von vor, sagen wir, zweihundert Jahren. Wurde dieser Befund bisher lediglich im Rahmen eines Politikfelds unter anderen und hier im Spannungsfeld von Alarmismus und Schönfärberei diskutiert, erhält die Umwelt­debatte mit der Ausrufung eines neuen Erdzeitalters tatsächlich auch eine neue Qualität. Denn das Anthropozän beschreibt im Gegensatz zu früheren stratigraphischen Markierungen nicht mehr nachträglich die von uns unabhängigen langfristigen Veränderungen im Umweltgeschehen eines dynamischen Planeten, sondern postuliert, was ein Teil dieses Umweltgeschehens aus dem Planeten macht. Anders ausgedrückt: Das Anthropozän ist reine Science Fiction.

Die Science Fiction – schon lange bevor Hugo Gernsback den Begriff erfand –, ist ja nicht denkbar ohne ihren, wenn man so will, weltlichen Zwilling: der anthropogenen Dynamisierung von Materie in der »wissenschaftlichen Revolution«, die im sechzehnten Jahrhundert begann, im neunzehnten Fahrt aufnahm und im zwanzigsten schließlich zu jenen Grenzüberschreitungen führte, die uns im einundzwanzigsten so viel Kopfzerbrechen bereiten.3 Das muntere Spekulieren darüber, »wie es sein könnte«, hieß in praktisch allen Fällen: Wie es sein könnte, wenn wir die großartige Fähigkeit unseres Gehirns, natürliche Vorgänge zu taxieren und zu analysieren, dazu verwenden, ebendiese natürlichen Vorgänge in unserem Sinne und zu unserem Nutzen zu verändern. Wie Dietmar Dath einmal sagte: »Science Fiction ist das, was passiert, wenn der Mensch aus der Natur heraustritt.«

Das Ur-Modell einer so verstandenen Science Fiction und faszinierender Kristallisationspunkt von gesellschaftlicher Umwälzung und literarischer Propagierung ist Francis Bacons in den Zwanzigerjahren des siebzehnten Jahrhunderts erschienenes Utopie-Fragment »Neu-Atlantis«. Während Descartes und Galilei den neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff (in Konkurrenz zum polytheistischen Beschwören, monotheistischen Sich-fügen und buddhistischen Von-der-Hand-in-den-Mund-leben) noch als geistige Grundlage für eine bessere Lebensordnung formulierten, haben wir es bei Bacon bereits mit im großen Stil angewandter Wissenschaft zu tun: Der Bacon’sche Mensch erkennt nicht nur – er handelt schon; er begnügt sich nicht mit einem neuen Verständnis von Natur – er »macht« Natur.4 Ist in der aktuellen Diskussion der naturwissenschaftlich exakte Zeitpunkt, wann das Anthropozän begann, noch umstritten – Crutzen etwa schlägt das späte achtzehnte Jahrhundert vor, als die Konzentration von CO2 und Methan in der Atmosphäre erstmals durch menschliche Aktivität zunahm –, so wäre mein Favorit für die geisteswissenschaftliche Verortung das Jahr 1627, als »Neu-Atlantis« erschien. Seither denken wir – also der westeuropäisch-nordamerikanische Teil der Weltbevölkerung, der sich als der prägendste erwiesen hat – anders, seither leben wir in einem historischen Abschnitt, in dem sich die Menschen das Ziel gesetzt haben, sich mit technischen Mitteln so weit wie möglich von ihren natürlichen Bedingtheiten zu lösen, um diese Bedingtheiten dann wiederum selbst bedingen zu können. Eine Feedback-Schleife, die zu enormen Errungenschaften geführt hat: zu Hightech-Medizin, globaler Infrastruktur und Massenkommunikation, kurz: Zivilisation. Und zu enormen Problemen: zum Rückgang der Artenvielfalt, zur Veränderung des Stickstoff- und Phosphorhaushalts, zum Ansteigen der globalen Mitteltemperatur, kurz: Umweltkrise. Die Science Fiction des Bacon’schen Typs, die sich, von Mercier über Shelley, Verne und Wells bis zu Asimov und Baxter, wie ein hartnäckiges Mem durch das Genre zieht, ist das Viagra dieser Feedback-Schleife: Je mehr wir durch Wissenschaft und Technik verstehen, desto mehr sollen wir auch tun, und selbst wenn wir scheitern, dann haben wir es wenigstens getan. Die Science Fiction dieses Typs hat den Anthropozän-Menschen vorhergesagt und nicht selten auch heroisiert. Aber was ist das für ein Mensch? Und was bedeutet es eigentlich, wenn er »aus der Natur heraustritt«?

Auch mit dem wohlwollendsten Blick kann man das Verhältnis zwischen Mensch und Natur nur als hoffnungslos verkorkst bezeichnen. Das hat offenbar einen in psychopaläontologische Tiefenschichten reichenden Grund, den Sartre sehr anschaulich mit dem Begriffspaar »Sein-für-sich« (Mensch) und »Sein-an-sich« (Welt) beschrieben hat, einer ontologischen Kluft, die es ermöglicht, dass wir überhaupt erst von einem »Verhältnis« zur Natur sprechen können: Obwohl wir selbst Natur sind – immer noch und vermutlich auch noch in der überschaubaren Zukunft –, nehmen wir die belebte und unbelebte Welt um uns herum dennoch als etwas von uns Getrenntes wahr, als etwas, mit dem man sich befassen, auf das man einwirken, das man verändern kann. Und das man – der entscheidende Punkt in diesem Zusammenhang – interpretieren kann. Der revolu­tionäre Übergang, der sich im sechzehnten Jahrhundert in Europa anbahnte, war ja kein technischer – schon seit Jahrtausenden wirkten die Menschen auf die Natur ein, betrieben Landwirtschaft, züchteten Tiere, bauten Kanalsysteme –, sondern ein epistemologischer: Die natürliche Welt wurde zum »storehouse of matter« (so Isaac Newton, heute würden wir sagen:

»Ökosystemdienstleistungen«) deklariert, das wir nutzen, plündern, kultivieren können, ganz wie es uns beliebt; sie gehörte nicht länger höheren Mächten oder sich selbst, sie gehörte nun uns. Und so fielen im Laufe der Jahrhunderte alle intellektuellen, geographischen und biosphärischen Schranken, wurde extrahiert, emittiert und globalisiert, bis zu dem Punkt, an dem der derart entfesselte Mensch auf die letzte verbliebene Schranke traf: sich selbst. Und da sind wir nun also. In diesem Sinne wäre die Aus­rufung des Anthropozäns tatsächlich der Moment, in dem der Mensch endgültig aus der Natur heraustritt: Erst wenn wir die entscheidende erdgeschichtliche Kraft sind, sind wir uns endlich selbst genug.

Aber was nun? Was »passiert« jetzt? Was machen wir den lieben langen Tag im Anthropozän? Das ist einer der eher neuralgischen Aspekte der Debatte, denn die Befürworter des Anthropozän-Gedankens sehen in der Ausrufung eines neuen Erdzeitalters nicht nur einen kategorisierenden Anlass, sondern auch einen moralischen, handlungsstiftenden: Wenn es nun also so weit ist, dass wir die Geschicke des Planeten in die Hand genommen haben, dann sollten wir dies auch mit Sinn und Verstand tun, dann sollten wir diese uns übertragene Verantwortung im umfassenden, kuratorischen, ja paternalistischen Sinne annehmen (wie Stewart Brand schon 1968 in seinem »Whole Earth Catalog« schrieb: »We are as gods, and might as well get good at it.«). Es ist das Modell des »Weltgärtners«, das hier zum Ausdruck kommt und das nicht zufällig ein Parallelstrang der Anthropozän-Diskussion ist: Da es nun all diese neuartigen, also vom Menschen beeinträchtigten, umgestalteten oder überhaupt erst erzeugten Ökosysteme gibt, haben wir auch die Pflicht, sie zu »managen«.5 Und da so etwas wie ein geschlossenes Ökosystem auf der Erde gar nicht existiert (selbst die Erde ist ja keines), fällt letztlich alles, was auf der Welt kreucht und fleucht und stürmt und fließt, in unseren Verantwortungsbereich. Wie aber kultiviert, kontrolliert und repariert man »alles«, wenn nicht durch stabilisierende, kalibrierende Maßnahmen im großen Stil? Indem wir das Schlamassel, das wir durch technische Eingriffe angerichtet haben, durch technische Eingriffe wieder in Ordnung bringen. (Das Vertrauen in die welt- und bewusstseinsverändernde Kraft der Technik ist trotz aller Großkatastrophen so stark wie eh und je; wer’s nicht glaubt, studiere die Debatte um das sogenannte »maker movement«.) Bei der Lektüre von Crutzen & Co. wird recht schnell deutlich, dass sich hinter dem appellativ-pädagogischen Charakter des Anthro­pozäns eine weitere Science-Fiction-Idee verbirgt: die des »Geo-Engineering«. Wenn wir schon das »Zeitalter des Menschen« ausrufen, warum dann nicht Teilchen in die Atmosphäre schießen, um die lästigen Sonnenstrahlen zu reflektieren? Warum nicht Pflanzen und Tiere gentechnisch so um- und aufrüsten, dass sie der von uns verursachten Umweltzerstörung trotzen können? Warum nicht die Natur, wie es das Wyoming Wheather Modification Project propagiert, »effizienter machen«? Kein Wunder, dass schon Francis Bacon schwärmte, der Gartenbau sei »die reinste aller menschlichen Freuden« …

»Terraforming Earth« hat Kim Stanley Robinson diese Sichtweise einmal ironisch genannt, und der amerikanische Autor hat auch gleich den Anthropozän-Roman der Stunde geschrieben: In »2312« findet dieses ultimative Ingenieursdenken auf der Erde und den anderen Planeten des Sonnensystems großflächig Anwendung. Dass dabei einiges schiefgeht, liegt in der Tücke tech­nischer Kontingenz, aber die Pointe des »2312«-Szenarios ist nicht die Warnung vor einem allzu starken Eingriff in natürliche Abläufe – dieser Zug, so Robinson, ist längst abgefahren, ob wir das nun bedauern oder nicht –, sondern darin, dass wir keinen Plan für das Anthropozän haben, dass wir vor uns hin basteln und prozessieren und kreieren und dabei eine Welt formen, ohne zu wissen, was das eigentlich für eine Welt sein soll.

Genauer gesagt: Das einzige, das wir von der Welt wissen, die wir »machen«, ist, dass es unsere Welt ist. Wie ein dicker anthropischer Faden zieht sich dieses Argument durch die Naturdebatte der westlichen Intelligentia: Von Diderots »Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss« über Kants »Die Erkenntnis hat sich nicht, wie früher angenommen, nach den Gegenständen zu richten, sondern die Gegenstände haben sich nach unserer Erkenntnis zu richten« und Schellings »Die Natur schlägt im Menschen die Augen auf und bemerkt, dass sie da ist« bis zu Zˇizˇeks »Schließung der Kluft, die die passive Anschauung und die aktive Produktion voneinander trennt« – neuzeitliches, europäisches Fortschrittsdenken war immer radikal emanzipatorisches Denken, war letztlich immer darauf bedacht, dass unser Erkenntnisvermögen konstitutive Bedeutung für die Welt hat.6 Wir haben uns also selbst der Natur übergestülpt und diesen Prozess in einem beispiellosen Euphemismus »Befreiung« genannt, und seither funktioniert Natur so, wie der Mensch gerade versteht, dass sie funktioniert: wie ein Webstuhl, wie eine Dampfmaschine, wie ein Computer; seither sind Tiere nur dann intelligent, wenn sie etwas können, was wir auch können; seither sind Nationalparks »Wildnis«, fahren unsere Busse mit »clean natural gas« und hat sich der Klimawandel gefälligst an der »Zwei-Grad-Leitplanke« zu orientieren. Man kann es anmaßend, wirklichkeitsblind oder einfach nur erratisch nennen: Denn die Natur ist kein Webstuhl, keine Dampfmaschine und kein Computer, ja es ist fraglich, ob sie überhaupt so etwas wie eine »Einheit« ist, und selbst die härtesten Technokraten kommen immer wieder an den Punkt, an dem sie feststellen müssen, dass sich das »storehouse of matter« gar nicht nach den Regeln verhält, die wir aufgestellt haben.7 (An der Erkenntnis etwa, dass die Schöpfung keineswegs stabil ist, ist zu seiner Zeit schon ein Genie wie Carl von Linné verzweifelt.) Aber das ficht uns nicht an, es ist lediglich ein weiteres Problem, das es zu lösen gilt, und so gehen wir mit einer mentalen Infrastruktur ins Anthropozän – besser gesagt: erzeugen wir das Anthropozän –, die mit dem, was wir da zu durchdringen und zu kontrollieren hoffen, nicht viel zu tun hat. Wissen wir wirklich, was geschieht, wenn die Grönländer Tomaten anpflanzen? Glauben wir wirklich, wir können ohne Folgen Gas aus dem Boden herauspressen? Meinen wir wirklich, Eingriffe in die sexuelle Fortpflanzung hätten keine Konsequenzen?

Nein, nicht wirklich.

Vor diesem Hintergrund ist das, was passiert, wenn der Mensch aus der Natur heraustritt, eine finale Selbstentmündigung, die wir selbst gar nicht bemerken, weil wir keine andere Perspektive mehr haben, weil wir sie schon seit so langer Zeit als »Fortschritt« vorantreiben. Denn wenn alles, was ist, aus uns kommt, aus unserer Vorstellungskraft, aus unserem Streben nach einem »guten Leben«, dann entfällt die Projektionsfläche, die dieser Vorstellungskraft überhaupt erst Sinn und Maß verleiht. Wenn die Natur im nicht-technischen Sinne zu existieren aufhört, dann hört auch der Mensch im nicht-technischen Sinne zu existieren auf – und etliches davon, was wir uns an Moral und Ethik mühsam erarbeitet haben, gleich mit. (Kürzlich habe ich einen Text gelesen, der die Frage aufwarf, ob es nicht moralischer wäre, mit gentechnischen Verfahren Nutztiere zu erzeugen, die kein Schmerzempfinden haben, als sie weiter für unser »gutes Leben« zu quälen. Bedenkenswert? Willkommen in der ethischen Wüste des Anthropozäns!8)

»The work of thought – thinking – consists«, schreibt der isländische Philosoph Páll Skúlason, »in maintaining a concern for the world as an objective, independent whole: a world of nature. But we cannot think unless the natural world speaks to us and gets us to believe in an independent reality lying beyond human thought and culture.«9 Wenn das stimmt – und ich persönlich sehe keinen Grund, an diesem Befund zu zweifeln –, dann bleibt nichts anderes übrig, als das westliche Modell der Naturbetrachtung, -bewertung und -nutzung als eben das zu deklarieren, als was es weiter oben beschrieben wurde: als eine Interpretation. Als eine Möglichkeit. Und dass es viele solcher Möglichkeiten hier auf Erden – nicht etwa nur auf dem Waldmond Endor – gab und gibt, das haben die Poeten unter den Anthropologen wie Claude Lévi-Strauss, Philippe Descola und Ursula K. Le Guin beeindruckend nachgewiesen.

Natürlich hat das Bild des »Gärtners« einen moralisch besseren Klang als das des »Nutzers«, natürlich hört sich »kultivieren« besser an als »ausbeuten«, aber wie der Garten beschaffen sein soll und nach welcher Maßgabe wir die Welt kultivieren wollen (oder ob überhaupt), darüber muss man trefflich streiten. Wenn es gut läuft, dann wird dieser Streit die nächsten Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte prägen. Wenn es gut läuft, heißt: Wenn nicht die bisher unverstandenen Rückkopplungseffekte unserer Eingriffe in die Natur so katastrophale Folgen zeitigen, dass sich unsere Enkel einen Teufel darum scheren werden, ob sie nun im Anthropozän leben oder nicht, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sein werden, zu überleben (auch dieses Szenario hat die Science Fiction bis zum Abwinken durchgespielt). Wenn es also gut läuft, dann werden sich die kommenden Generatio­nen – die Generation, die jetzt gerade am Ruder ist, hat tragischerweise andere Prioritäten – darüber in die Haare geraten, was es eigentlich heißt, einen Planeten nur für sich selbst zu haben, und ob es wirklich ein intellektuell schlüssiges Konzept ist, aus der Natur »herauszutreten«. Was es für Folgen hat, wenn wir das, was Natur jahrtausendelang war – eine von uns unabhängige, undurchdringbare Realität, ein »Sein-an-sich« –, einfach so als von uns abhängig und durchdrungen erklären. Womöglich nämlich die Folge, dass menschliche Erkenntnis ohne diese Realität gar nicht mehr funktioniert. Wenn es gut läuft, dann wird das Anthro­pozän zum kürzesten aller Erdzeitalter: Dann werden die Menschen ziemlich bald begreifen, dass eine Welt, in der sie sich selbst genug sind, keine Welt ist, in der sie leben wollen.

In was für einer Welt aber werden sie leben wollen?

Nun, das wäre wirklich mal ein interessanter Stoff für einen Science-Fiction-Roman.

 

Anmerkungen
1    Siehe: Paul J. Crutzen: The Geology of Mankind, in: Nature 1/2002. Aktuellere Beiträge sind: Christian Schwägerl: Menschenzeit, München 2010; Eckart Ehlers: Anthropozän, Darmstadt 2008; Jill Bennett: Leben im Anthropozän, Ostfildern 2011; Peter Sloterdijk u. a.: Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Frankfurt/M. 2011
2    In Deutschland sind nur noch weniger als zwei Prozent der gesamten Fläche »naturnah«, etwa Watten und Hochgebirgsfluren (vgl. Bild der Wissenschaft 8/2013). Wer sich dafür interessiert, wie subtil solche Veränderungsprozesse auf regionaler Ebene ablaufen, dem sei empfohlen: Rainer Beck: Ebersberg oder das Ende der Wildnis, München 2003
3    Zu diesen Grenzüberschreitungen im Einzelnen siehe: Johan Rockström et.al.: Planetary Boundaries – Exploring the Safe Operating Space for Humanity, in: Ecology and Society 14(2)/2009
4    Vgl. Lothar Schäfer: Das Bacon-Projekt, Frankfurt/M. 1999, und Lewis Mumford: Mythos der Maschine, Wien 1974
5    Ein interessantes Buch dazu ist: Emma Harris: Rambunctious Garden – Saving Nature in a Post-Wild World, New York 2011
6    Vgl. Wolfgang Welsch: Mensch und Welt, München 2012, und Joachim Radkau: Natur und Macht, München 2000
7    Zu den oft skurrilen Versuchen, aus der Naturkunde eine »exakte Wissenschaft« zu machen, siehe: Josef H. Reichholf: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends, Frankfurt/M. 2007
8    Siehe: Erwin Koch: AML.230849-012-G, in: Reportagen Juni/Juli 2012
9    Páll Skúlason: Meditation at the Edge of Askja, Reykjavik 2004, S. 45. Vgl. auch Hans-Martin Schönherr: Von der Schwierigkeit, Natur zu verstehen, Frankfurt/M. 1989

Erstveröffentlichung des Artikels in „Das Science Fiction Jahr 2013“ (im Shop ansehen)

 

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.