10. Februar 2015 5 Likes 1

Dunkler Blick nach vorn

John Brunners klassische Anti-Utopien „Morgenwelt“ und „Schafe blicken auf“

Lesezeit: 4 min.

Geht es um Dystopien, also um negative Zukunftsentwürfe in mahnender Absicht, werden im Hinblick auf Genreklassiker für gewöhnlich drei Bücher genannt: „1984“ (1948) von George Orwell (im Shop), „Schöne neue Welt“ (1932) von Aldous Huxley und „Wir“ (1920) von Jewgeni Samjatin; bisweilen findet auch „Fahrenheit 451“ (1953) (im Shop) von Ray Bradbury Erwähnung. Überraschend wenig bekannt sind hingegen die großen Romane von John Brunner, obwohl sie sich in besonders eindringlicher Weise mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen beschäftigen und auch nach über vier Jahrzehnten nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Soeben wurden seine beiden wichtigen Bücher „Morgenwelt“ (im Shop) und „Schafe blicken auf“ (im Shop) als E-Books neu aufgelegt.

John Brunner: MorgenweltDer britische Schriftsteller und Friedensaktivist John Brunner (1934–1995) beginnt seine Karriere Ende der 1950er Jahre als hochproduktiver Lieferant schnell geschriebener Unterhaltungsromane. Doch schon mit „The Squares of the City“ (1965, „Die Plätze der Stadt“), dessen Handlungsablauf einer berühmten Schachpartie folgt, setzt eine deutlich ambitioniertere Werklinie ein, die in vier Romanen gipfelt: „Stand on Zanzibar“ (1968, „Morgenwelt“), „The Jagged Orbit“ (1969, „Ein irrer Orbit“), „The Sheep Look Up“ (1972, „Schafe blicken auf“) und „The Shockwave Rider“ (1975, „Der Schockwellenreiter“, im Shop). In letzterem, das nun ebenfalls als E-Book vorliegt, beschäftigt sich Brunner früh mit einer digital vernetzten Zukunft und prägt den Ausdruck „Computerwurm“ für ein sich selbstständig vervielfältigendes Programm. Die nachfolgenden Werke folgen dann wieder in erster Linie kommerziellen Gesichtspunkten, wie ihr Verfasser freimütig einräumt: „Ich backe sozusagen Brötchen und ich backe Torten. Von den Brötchen lebe ich.“

„Morgenwelt“ und „Schafe blicken auf“ beschäftigen sich beide mit der Vorstellung einer von Menschen ruinierten Erde, wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen. In „Stand on Zanzibar“ ist es die massive Überbevölkerung, der das Buch seinen Originaltitel verdankt: Dicht an dicht gedrängt könnte einer Berechnung nach auf der kleinen Insel Sansibar die gesamte Menschheit Platz finden – sofern sie sich nicht weiter vermehrt. Das aber geschieht trotz staatlicher Restriktionen weiterhin – mit absehbaren Folgen. Der Roman hat eine Vielzahl an Figuren, die ein breit gefächertes und außerordentlich glaubwürdiges Bild einer Welt zeichnen, in der multinationale Konzerne die Macht weitgehend unter sich aufgeteilt haben. In der von zahlreichen Einschüben und Fragmenten schlaglichtartig erhellten Handlung lassen sich zwei Hauptfiguren ausmachen: Da ist der Geheimdienstler Donald Hogan, der als Journalist getarnt ins asiatische Jatakang aufbricht, weil dort eine neue Methode entwickelt worden sein soll, Menschen genetisch zu perfektionieren. Sein WG-Mitbewohner Norman Niblock House hingegen arbeitet für General Technics, einen Konzern, der sich mit Unterstützung der US-Regierung in dem unterentwickelten afrikanischen Land Beninia engagiert. Offiziell geht es darum, die dortigen Bodenschätze auszubeuten, doch eigentlich soll ein Brückenkopf auf dem schwarzen Kontinent eingerichtet werden, was erwartungsgemäß nicht ohne Folgen bleibt. Brunners 1969 mit dem Hugo Award ausgezeichneter Roman thematisiert zwar die Überbevölkerungsproblematik, legt den Fokus aber mehr auf globale Wirtschaftskriminalität und Gentechnik. Auch wenn das Einfinden in „Morgenwelt“ aufgrund der wechselnden Handlungsebenen und den eingestreuten Momentaufnahmen nicht ganz einfach ist, entwickelt das Buch beim Lesen einen hypnotischen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann: „Bevölkerungsexplosion: Ein im Erfahrungsschatz der Menschheit einzigartiger Vorfall, der gestern geschah, von dem aber jeder schwört, er werde sich erst morgen ereignen.“  

John Brunner: Schafe blicken aufNoch konsequenter in der (von John Dos Passos entliehenen) polyperspektivischen Schreibweise ist der Roman „Schafe blicken auf“, der ein apokalyptisches Bild ohne jedweden Hoffnungsschimmer zeichnet. Während Europa von Flüchtlingszügen heimgesucht wird, weil das Mittelmeer gekippt ist, sehen sich die USA mit den Folgen jahrzehntelangen Raubbaus an der Umwelt konfrontiert: Verschmutzte Ressourcen („Sauerstoff 25 Cent“), Schäden am Erbgut und seuchenhaft grassierende Krankheiten bestimmen das Bild. Als durch einen eingeschleppten Schädling große Teile der Ernte ausfallen, steht ein Hungerwinter bevor. In diesem Moment löst eine offenbar vergiftete Ladung des Nährmittels Nutripon, das von einem Konzern speziell zu Hilfszwecken in Drittweltländern hergestellt wird, in einem Krisengebiet Wahnsinn und Gewaltexzesse aus. Es gilt, das Vertrauen in die käseartige Substanz wieder herzustellen, muss doch schon bald die Bevölkerung der USA damit beliefert werden. Aber es gibt auch eine Gegenseite, nämlich jene zunehmend gewaltbereiter auftretenden Öko-Aktivisten (Motto: „Du bringst mich um“), die sich auf die Schriften des als „verschollen“ geltenden Publizisten Austin Train berufen. Gerüchteweise soll er bald in einer Fernsehshow auftreten …

„Schafe blicken auf“ kennt keine Hauptfiguren im klassischen Sinne, sondern nur mehr oder minder hilflos agierende Opfer. Brunner verweigert dem Leser damit sowohl Identifikationsfiguren wie auch einen versöhnlichen Handlungsausgang; die Unruhe, die das Buch hervorruft, bleibt nach der Lektüre bestehen. Dies umso mehr, da Aspekte wie multiresistente Keime oder belastete Nahrung unterdessen in der Gegenwart angekommen sind. Aus dieser Perspektive ist „Schafe blicken auf“ vielleicht sogar das konsequentere und unbarmherzigere Buch. In jedem Fall handelt es sich bei beiden Titeln nicht nur um herausragende Science-Fiction, sondern ebenso um allerbeste Literatur.

Dies müsste bloß mal jemand bemerken.
 

John Brunner: Morgenwelt (Stand on Zanzibar) • Aus dem Englischen von Horst Pukallus Heyne E-Book € 5,99 (im Shop)

John Brunner: Schafe blicken auf (The Sheep look up) • Aus dem Englischen von Horst Pukallus Heyne E-Book € 5,99 (im Shop)

sowie

John Brunner: Der Schockwellenreiter (The Shockwave Rider) • Aus dem Englischen von Horst Pukallus Heyne E-Book € 5,99 (im Shop)
 

Kommentare

Bild des Benutzers timetunnel

Volle Zustimmung! Das sind absolute Meisterwerke. Unglaublich, wie weitsichtig Brunner damals war, und wirklich schade, fast schon erstaunlich, dass diese Bücher fast vergessen zu sein scheinen.

"Der Schockwellenreiter" wirkt, was dessen "Ausstattung" angeht, heutzutage etwas altbacken oder gar schon "70er"-Retro, aber das Thema ist hochaktuell. Warum hat da eigentlich noch niemand einen Film draus gemacht...?

Ich würde mich freuen, wenn es für die drei auch in Papierform eine Neuauflage gäbe.

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