6. Dezember 2014 2 Likes 1

Ich bin der Staat!

Die Science-Fiction hat noch zu wenig erkannt, dass der Trend Richtung Balkanisierung geht – Eine Kolumne von Adam Roberts

Lesezeit: 5 min.

Unser Leben ist voll von interessanten Zufällen: Als in meinem Heimatland eine wichtige politische Entscheidung anstand – das schottische Unabhängigkeitsreferendum vom 18. September diesen Jahres – las ich gerade Dave Hutchinsons „Europe in Autumn“ (übrigens ein sehr empfehlenswerter Roman, der meines Wissens noch nicht ins Deutsche übersetzt ist). Hutchinsons Buch ist in einem zukünftigen Europa angesiedelt, das zu einem Mosaik aus unterschiedlichsten  Kleinststaaten balkanisiert wurde: von kleinen, geschichtlich gewachsenen Nationen zu neuen Staatsgebilden wie Skigebieten und Naturreservaten, die ihre Unabhängigkeit ausgerufen haben. Großbritannien hat sich in seine Bestandteile aufgelöst, und sogar eine transeuropäische Eisenbahnlinie, deren Hochgeschwindigkeitszüge Portugal mit Sibirien verbinden, hat sich zu einem eigenständigen Staat erklärt, als der Bau der Trasse abgeschlossen war.

Die Hauptfigur des Romans ist Rudi, Koch in einem polnischen Restaurant, der von einer mysteriösen Organisation mit Namen „Coureurs de Bois“ rekrutiert wird. Diese unpolitische Gruppierung hat sich darauf spezialisiert, verdeckt Informationen, Waren und Menschen durch das spinnennetzartige Gewebe neuer Grenzen zu schleusen. Wir folgen Rudis Ausbildung und seinen Abenteuern in einer zunehmend verwickelten Handlung voller Intrigen und Täuschungen, die ihn von Polen über Estland und Deutschland nach London und weiter führen; es gibt schummrige Cafés wie in „Der Spion, der aus der Kälte kam“, James-Bond-mäßige Schießereien und Explosionen und abgetrennte Köpfe in Schließfächern – Hutchinson schreibt wunderbar, und sein fiktives Europa ist als ein Ort, der primär aufgrund seiner Zerstückelung durch unzählige Grenzen definiert ist, faszinierend plausibel.

Ich habe das Buch gelesen, als die britischen Medien vom Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Unterstützern und den Gegnern der Schottischen Unabhängigkeit berichteten. In der Woche vor dem Votum sah es ganz so aus, als ob Schottland jetzt seinen eigenen Weg gehen würde. Letztendlich ging die Wahl anders aus, und während ich dies hier schreibe, ist Schottland noch ein Teil Großbritanniens. Aber es war knapp: 55,3 Prozent der Wähler stimmten dafür, im Vereinigten Königreich zu bleiben, 44,7 Prozent dagegen. Nur zehn Jahre vorher hatten den Umfragen nach weniger als 30 Prozent der Schottischen Bevölkerung die Unabhängigkeit befürwortet. Seither hat sich etwas verändert. Immer mehr Menschen denken über lokale Regierungsformen und politische Eigenständigkeit nach.

Die Science-Fiction hat sich mit diesen Bestrebungen allerdings nicht übermäßig beschäftigt. Hier wurde mit Abstand mehr über Superstaaten, monokulturelle Welten, planetengroße Städte und unwahrscheinlich homogene galaktische Reiche geschrieben als etwa über die komplexe und uns so vertraute Logik der Balkanisierung. Dem liegt häufig wenn nicht die Faulheit des Autors, dann zumindest der Wunsch nach Vereinfachung und Neugestaltung der Welt zugrunde: Der Wüstenplanet Arrakis beispielsweise ist nur deshalb eine einzige Wüste, weil es auf diese Weise Frank Herberts Faszination für den Nahen Osten eines Lawrence von Arabien widerspiegelt, ohne dass alle andere Klimazonen und Kulturen, die man dort erwarten würde, berücksichtigt werden müssten. Bewohnbar wäre ein solcher Planet niemals.

Nicht dass die Science-Fiction die Logik der Balkanisierung gänzlich negiert hätte. Tatsächlich können wir die beiden verschiedenen Entwürfe zurückverfolgen bis hin zur wechselseitigen Abneigung zweier spätviktorianischer Schriftsteller: Auf der einen Seite steht der pompöse Weltstaat-Ansatz von H. G. Wells, der fest daran glaubte, die Menschheit würde nur in einem immer größer werdenden und zentralisierten, rational verwalteten Gemeinwesen gedeihen. Auf der anderen Seite stand G. K. Chesterton. Sein nostalgisches Faible für die mittelalterlichen Stadtstaaten beeinflusste seinen geistreichen „antiwellsschen“ Roman „Der Held von Notting Hill“ von 1904. Indem Chesterton sein Großbritannien in eine Unzahl von regionalen, lokalpatriotischen Gebilden zerfallen lässt, läuft er Gefahr, sein Anliegen in der Banalität des Wunderlichen zu verlieren; Wells‘ Vision dagegen birgt das Risiko des Faschismus in sich. Und auch wenn Wells einen langen Schatten auf das Genre geworfen hat, nutzen es seine wichtigsten Autoren eher dazu, lokale Besonderheiten statt kosmische Allgemeinplätze zu erkunden. Und manchmal kommt dabei das Porträt einer zukünftigen, balkanisierten Gesellschaft heraus: Paul McAuleys tolles „Feenland“ (1996) etwa spielt in solch einem Zukunftseuropa, wo sogar Covent Garden eine vom übrigen London unabhängige politische Einheit bildet. Brian Slatterys „Liberation“ (2008) beschreibt die in naher Zukunft auseinandergefallenen USA, und der Titel von James Lovegroves Roman „Untied Kingdom“ (2003) beschreibt clever seine Vorstellung von einem zukünftigem balkanisierten Großbritannien. Während Chesterton annahm, die Balkanisierung würde zu einem besseren Leben führen, herrschen bei Slatterys und Lovegroves Kleinstaaten nur Anarchie und Brutalität.

Ich denke, die Science-Fiction kann das Thema Balkanisierung noch viel stärker vertiefen. Ich schlage, wenn es gestattet ist, hiermit eine neue SF-Trilogie vor. Im ersten Teil, „Europapart“, erringt Schottland im September 2014 tatsächlich die Unabhängigkeit und zieht eine Welle ähnlicher Bewegungen mit sich: Katalonien spaltet sich von Spanien ab, Bayern verlässt die Bundesrepublik Deutschland und so weiter. Am Ende dieses Romans gibt es in Europa statt sechsundfünfzig Einzelstaaten ganze fünfhundert. Im zweiten Band, „Hausländer“, entsteht eine neue Volksbewegung auf dem Kontinent: Jedes einzelne Haus wird zum Nationalstaat erklärt. Manche Häuser sind freilich größer als andere; Kriege brechen aus zwischen aristokratischen Anwesen, und eine lose Allianz der Bewohner des Reihenhauses Windermere Avenue 34 flieht über die Grenze nach Windermere Avenue 36. Die Arbeitslosigkeit gehört der Vergangenheit an, weil Hunderttausende Jobs in der Überwachung der vielen Grenzposten in privaten Hecken und Gartenzäunen bekommen. Im dritten Band schließlich, „Egotopia“, ist jeder einzelne von Europas 750 Millionen Einwohnern ein Nationalstaat, der Kontinent splittert sich in 750 Millionen Einzelstaaten auf. In diesem Buch geht es vor allem um eine Nation namens Michel Bouisson, im früheren Osten von Frankreich angesiedelt. Die Bouisson-Republik bewegt sich selbstständig nach Brüssel, um vor dem multinationalen Kongruenzhof des ehemaligen Europas für das Recht einzutreten, als souveräner Nationalstaat zur Abschreckung eigene Atomwaffen zu erhalten. Tausende anderer europäischer Nationen warten nun auf die Entscheidung des Gerichts, um endlich ihr eigenes Atomarsenal in die Finger zu bekommen.

Jetzt muss ich mir nur noch einen Schluss überlegen …

 

Adam Roberts ist eine der vielversprechendsten Stimmen in der neueren britischen Science Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London.

Kommentare

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Wie wärs mit: Nachdem die Uranvorkommen des Planeten nicht reichen, um jede Nation gleichwertig mit Nuklearwaffen auszustatten, verteilt das Gericht kostenlos USB-Raketenwerfer (steuerbar via Android oder iPhone) an alle Nationen, die es daraufhin Michel Bouisson gleichtun, sich nach Brüssel bewegen und mit Schaumstoff-Raketen aufmunitionieren. Apple entwirft iRocket, den Raketenwerfer fürs Handgelenk. Jeder Gang der Nationen zum Supermarkt (den entmilitarisierten Zonen des individuellen Europas) wird zum Spießrutenlauf, und einmal pro Jahr wird die Nation, die am wenigsten von den Schaumstoffgeschossen getroffen wurde, in einer feierlichen Zeremonie mit dem Nobelpreis geehrt.
Oder so.

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