
Die sterbende Erde
von Jack Vance
Die Geschichten um die sterbende Erde gehören zu den großen singulären Werken der fantastischen Literatur. Sie sind aber – gerade auch hierzulande – immer noch eher ein Geheimtipp. Etwas für Eingeweihte. Für die echten Kenner. Wenn bei der Nerdparty geprahlt wird, man habe alle „Wüstenplanet“-Bände gelesen, selbst die Heraldik-Passagen in „Game of Thrones“ angebetet und den gesamten Tolkien zehnmal verschlungen (einmal sogar rückwärts), dann kommt bestimmt so ein Oberschlauer daher und sagt verschwörerisch, mit einem Anflug von Arroganz in der Stimme und einem Glitzern in den Augen: „Ja, ja, aber hast du auch Jack Vance gelesen?“ Und dann ist er wieder weg und lässt das brave Herdentier beim Rest der Herde stehen, damit es Tolkien zum elften Mal lesen kann.
Jack Vance also. „Die sterbende Erde“ (im Shop). Entstanden während des Zweiten Weltkriegs, als Vance bei der US-Handelsmarine war, veröffentlicht 1950, recht früh in der Karriere des 1916 in San Francisco zur Welt gekommenen Autors. Sechs lose zusammenhängende Geschichten, die am Ende der Zeit spielen, auf einer Erde, deren Sonne kurz vor dem Erlöschen ist, in einer Landschaft, die so prall, so üppig, zum Sterben schön und gefährlich ist, dass man sie nie wieder vergisst. Die Wissenschaft ist so weit fortgeschritten, dass sie Magie ähnelt, dass sie Magie ist. Falls es je Wissenschaft war.
Vor dieser Kulisse agieren undurchsichtige, enigmatische, zwielichtige Charaktere, Magier, Wegelagerer, künstliche Menschen, fantastische Wesen. Man könnte ihre Geschichten nacherzählen, den Plot skizzieren und würde damit nichts erreichen. Denn die Plots drehen und winden sich, werden nicht episch breit, sondern märchenhaft kurz gefasst. Motivationen und Strukturen aus dem Einmaleins der „Creative Writing“-Kurse sucht man vergebens, dafür ist ein doppelter Boden allgegenwärtig, der der sterbenden Erde Untiefe verleiht. Alles ist genauso, wie Vance es erzählt, es gibt keinen Grund, das anzuzweifeln. Aber hinter allem, was er erzählt, steckt etwas mehr, etwas kaum zu Fassendes, das hinter der schillernden Fassade lauert. Keine „Ratten im Gemäuer“, kein Twist, keine Moral, sondern vage Ideen, Träume, Illusionen, Dinge, die knapp jenseits den Grenzen des Formulierbaren liegen.
Vance selbst hat die sterbende Erde bis zu seinem Tod im Jahr 2013 immer wieder besucht. In „Eyes of the Overworld“ (1966), „Cugel der Schlaue“ (1983, im Shop) und „Rhialto the Marvellous“ (1984). Er hat zahlreiche andere Autoren inspiriert, darunter Arthur C. Clarkes „Die Stadt und die Sterne“ (im Shop), M. John Harrisons „Viriconium“-Erzählungen, „Der lange Nachmittag der Erde“ von Brian Aldiss oder George R. R. Martins „Die Flamme erlischt“. Vor allem aber Gene Wolfes legendären Zyklus um „Das Buch der Neuen Sonne“ (im Shop).
Und Vance hat berühmte Kollegen, die so glänzende Augen bekommen, wenn sie über ihn sprechen, wie der Oberschlaue im ersten Absatz. Kollegen wie Michael Chabon, Dan Simmons oder Neil Gaiman. Es gibt eine ganze Sammlung von Geschichten („Songs of the Dying Earth“), in der diese Kollegen ihre Geschichten über die sterbenden Erde erzählen, darunter Robert Silverberg, Walter Jon Williams, Jeff VanderMeer, Elizabeth Moon, Lucius Shepard, Tad Williams, Tanith Lee, George R.R. Martin – und natürlich Simmons und Gaiman.
Es gibt viel zu entdecken auf dieser Erde im düsteren Glanz einer flackernden Sonne. Und die sechs kurzen Erzählungen dieses jetzt 66 Jahre alten Bandes sind nur der Anfang. Es kann aber gut sein, dass man Tolkien & Co. danach mit anderen Augen betrachtet. Also Vorsicht.
von Bernd Kronsbein
Die sterbende Erde
Sie leben auf der sterbenden Erde, in unendlich ferner Zukunft, unter einer beinahe ausgebrannten Sonne, die ständig flackernd am Himmel steht: Turjan von Miir, der Wissenschaftler, der immer wieder versucht, Leben zu erschaffen, Mazirian der Zauberer, die schöne T’sais von Embelyon, die zur Erde reist, um ihre Sehenswürdigkeiten zu schauen, ehe sich die Nacht herabsenkt, Lian der Wegelagerer, Ulan Dhor und Guyal von Sfere, ein Mann von unstillbarem Wissensdrang auf der Suche nach dem Museum der Menschheit, in dessen Ruinen das gesamte Wissen des Universums schlummert. Dies sind ihre Geschichten …
Weitere Leseempfehlungen: