21. November 2016 2 Likes

Lunarer Zauberberg

Im Gespräch mit „Moonatics“-Autor Arne Ahlert

Lesezeit: 9 min.

Gerade ist Arne Ahlerts Romandebüt „Moonatics“ (im Shop) bei Heyne erschienen. Im Buch ist die Erde nach Erkalten des Golfstroms kein allzu gemütlicher Ort mehr – Skandinavien erlebt eine Eiszeit, vor Portugal treiben Eisberge im Meer, in Asien toben Wirbelstürme, und überall sind Klimaflüchtlinge unterwegs. Im Jahre 2043 gönnt sich Darian Curtis daher ein paar Wochen Urlaub in einem Luxus-Ressort auf dem Mond. Dort begegnen ihm allerhand verschrobene Touristen und eine reiche lunare Spaßgesellschaft, aber auch jede Menge Dauergäste auf dem besiedelten Erdtrabanten. Allen voran die Krater-Kommune der Moonatics – Hippies, die sich als Gesandte der abrauchenden Erde verstehen und auf dem Mond mit einem Garten Eden neustarten wollen. Doch es ist immer alles nur ein großer Spaß, bis einer stirbt… Arne Ahlert wirft vom Mond aus einen Blick auf die Gegenwart und Zukunft unserer Welt. Im Interview spricht der 1968 in Lüneburg geborene Autor, der im Bereich Architektur und Projektentwicklung arbeitet, regelmäßig als Backpacker durch die Welt reist und heute in Berlin wohnt über seinen Science-Fiction-Romanerstling, den Mond als Zauberberg an der Schwelle zu einem Epochenwandel, die Weitergabe des Staffelstabs an künstliche Intelligenz und vieles mehr.

Hallo Herr Ahlert. Würden Sie sich als mondsüchtig bezeichnen?

Hier in Kreuzberg wird man mit vielerlei Süchten konfrontiert, aber eine Abhängigkeit nach Himmelskörpern ist mir bislang noch nicht untergekommen. Was mich betrifft: Ich bevorzuge Kaffee.

Es scheint, als gierten alle nur noch nach dem Mars. Gilt der Mond in unserer Gesellschaft schon als retro und irgendwie als abgehakt?

Der Mond ist eine Ikone der 60er Jahre, Symbol eines vergangenen Glaubens an die Zukunft, das Apollo-Programm antiklimaktischer Höhepunkt des Fortschrittglaubens – wir waren dort, aber was hat es gebracht? Daher erscheint mir der Mond tatsächlich ein wenig ‚retro’, wie viele andere Elemente in „Moonatics“ – die Gin Tonics, das Backgammonspielen, die Hippies und die echten Bücher im Lesezimmer des Hotels. Der Reiz, den Roman auf den Mond zu verlegen, lag vor allem darin, dass die Erde als ständig mahnende Erinnerung über dem Geschehen schwebt; so wird sie zur stillen Protagonistin der Geschichte. Die Nähe des Mondes ist auch für die Geschichte wichtig, schließlich reisen viele Gäste extra für ein Golfturnier oder eine Vernissage an – auch der Protagonist kommt ursprünglich nur für drei Wochen. Das würde beim weit entfernten Mars so nicht funktionieren. Aber natürlich ist in der Realität der Mars zwar nicht der naheliegendere, aber doch sinnvollere Kandidat für eine spätere menschliche Besiedelung. Falls wir es bis dahin nicht vermasseln.

Wie kamen Sie darauf, über ein Ressort, eine reiche Auswanderergesellschaft und eine Hippie-Kommune auf dem Mond zu schreiben?

Die Ausgangsidee von „Moonatics“ war, das Konzept des „Zauberberg“ zu persiflieren und sozusagen eine Etage höher zu verlegen – von den Alpen auf den Mond. Das Hotel Levania ist nun der Berghof, worauf im Roman auch immer wieder angespielt wird. Im „Zauberberg“ wird ein Epochenwandel beschrieben, die Ablösung des 19. Jahrhunderts durch die Moderne, markiert durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Kein Vergleich zu der Schwelle, an der die Menschheit nun steht: Unsere Fähigkeit zur Selbstzerstörung, den Eintritt in das Anthropozän, der Beginn der Raumfahrt, das aktive Eingreifen in die Evolution (Artensterben, Gentechnik) sowie möglicherweise die Erschaffung künstlicher Intelligenz. All dies sind Entwicklungen, die in ihrer Tragweite sogar einen evolutionären Charakter haben. Das nenne ich mal einen Epochenwandel! Und wir haben das Glück oder Pech, diese Zeit erleben zu dürfen. Durch die Ergänzung des Luxushotels Levania mit dem Hüttendorf der Moonatics wollte ich zwei kontrastierende Lebens- und Gedankenwelten miteinander in Beziehung treten lassen, stellvertretend für die Konzepte von Idealismus und Materialismus, und verkörpert durch die jeweiligen Gäste und Bewohner. Aber, wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt, ist das mit dem Gut und Böse doch nicht immer so einfach. Ganz wie im echten Leben.

Würden Sie uns etwas über Ihre Beziehung zur Science-Fiction und Ihre Einflüsse erzählen?

Das erste Buch, das ich gelesen habe, war „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Sozusagen meine erste Begegnung mit virtueller Realität – die Kodierung einer vollständigen, fantastischen Welt nur durch Buchstaben. Ein prägendes Erlebnis, seitdem liebe ich Bücher.

Einige Jahre danach habe ich meinen ersten SF-Roman gelesen, „Eden“ von Stanislaw Lem, und später eine ganze Sammlung Goldmann SF-Taschenbücher im Regal meiner Eltern entdeckt, die mit den metallicblauen Covern. Dabei hat sich ein Autor klar als Favorit herauskristallisiert: Arthur C. Clarke. Seine „Rama“-Trilogie (im Shop) ist neben dem „Zauberberg“ die Lektüre, die ich auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen würde. Nach meiner Kindheit habe ich SF lange aus den Augen verloren, heute ist es für mich eine Literaturgattung unter vielen. Meines Erachtens wird SF in ihrer Relevanz immer noch unterschätzt, obwohl sie sich (idealerweise) mit unserer Zukunft beschäftigt – und was könnte es Wichtigeres geben? An diesem Rezeptionsproblem sind gewisse Weltraumwestern mit Laserschwertern und Prinzessinnen sicher nicht ganz unschuldig, von UFOs und Aliens ganz zu schweigen. Obwohl das manchmal auch ganz unterhaltsam sein kann.

Inwiefern bereitet einen das Reisen als Backpacker auf das Schreiben eines SF-Romans vor?

Vielleicht die Tropenluft? – obwohl mir die meisten Ideen eher in brandenburgischen Wäldern gekommen sind. Übrigens würde ich „Moonatics“ weniger als SF bezeichnen (auch wenn die Geschichte auf dem Mond und somit zwangsläufig in der Zukunft spielt), sondern eher als Gesellschaftssatire – der Mond dient vielmehr als ein Spiegel der Erde, als Bühnenbild für einen eskapistischen Blick von außen. Meine persönliche Definition von SF geht mehr in die Richtung dessen, was man als ‚harte SF’ bezeichnet: technisch fundiert, Wissenschaftsfiktion im wörtlichen Sinne. In „Moonatics“ dagegen gehe ich nicht einmal auf die Frage ein, wie genau die Touristen zum Mond gelangen, es ist nur die Rede von ‚Flugmaschinen’. Ich setze auch einfach voraus, dass die Versorgung mit Wasser und Atemluft geregelt ist, ebenso der Schutz vor kosmischer Strahlung. Und natürlich nehme ich nicht an, dass es 2045 ein ausgewachsenes Hotel auf dem Mond geben wird oder Hippies dort im Gewächshauskrater Partys feiern. Um auf die Frage mit dem Backpacken zurückzukommen: Man trifft da draußen einige schräge Typen. Genau wie auf dem Mond.

Welche realen Erlebnisse Ihrer Reisen wurden zur Grundlage von Begegnungen und Figuren in „Moonatics“?

Vor allem meine häufigen Aufenthalte an einem Hippie-Strand auf Ko Pha Ngan in Thailand – übrigens genau jenem Ort, der auch Alex Garland zu „The Beach“ inspiriert haben soll. Die Leute dort sind das reale Vorbild für die Mondhippies, die Moonatics. Eingeflossen sind auch Partynächte auf Ibiza oder ein Ausflug auf einer Yacht in der Karibik, an der ich vor einigen Jahren teilnehmen durfte. Was reale Personen betrifft, auf die ich mich im Roman beziehe, so sind das zum Beispiel Richard Branson, als Sir Richardson, Gründer und Eigentümer des Hotels Levania; Ernst Jünger, der als Theowulf durch die Geschichte geistert; oder der Merry Prankster Ken Kesey, der das Vorbild für Leo McMurphy ist – sogar sein bunter Bus hat es auf den Mond geschafft.

Sind Reisende und Auswanderer, egal wo, eine eigene, besonders ‚kontaktfreudige’ Spezies, die außerdem gesondert wahrgenommen und willkommen geheißen wird?

Als Reisender ist man meist sehr kontaktfreudig, nicht zuletzt deswegen ist man auch unterwegs. In manchen Ländern besteht der Kontakt hauptsächlich zu den Einheimischen, anderswo eher zu anderen Travellern. Von Aussteigern hingegen wird man allerdings oft nicht wahr- und ernstgenommen; auf der Durchreise ist man nur eine flüchtige, fast unsichtbare Erscheinung, man gehört nicht dazu. Das ist aber nicht weiter ungewöhnlich – es ist nicht anders, wenn man in der Stadt an fremden Menschen vorübergeht.

Wo und wie intensiv haben Sie für den Roman recherchiert – und wie wichtig waren Ihnen das Wissenschaftliche und die Mond-Physik, die ja nicht nur den Golfplatz da oben beeinflusst?

Abgesehen von den bereits erwähnten technischen Fragen wie der Gewinnung von Wasser und Atemluft habe ich durchaus gründlich recherchiert – vor allem, was die Geografie betrifft.

Dazu habe ich auf Ebay eine NASA-Mondkarte erstanden, die aus zahlreichen Einzelbögen besteht und zusammengelegt kaum in meine Wohnung passt. Daran habe ich die Orte der Handlung festgemacht. Die einzig frei erfundenen Lokalitäten sind der Krater Holzig, in dem die Full-Moon-Party stattfindet, sowie das Uncanny Valley, der Friedhof des Hotels.

Ein präsentes Thema in der Geschichte ist auch die vierzehntägige Dauer der Mondtage und -nächte, mit den entsprechenden Sundownern und Sunrisern in der Lounge. Die Daten stimmen übrigens auch alle, ich habe mich an entsprechenden Kalendern orientiert – so herrscht am Anreisetag des Protagonisten, dem 1. Januar 2045, tatsächlich Neumond und somit Vollerde. Und was die im Roman dargestellte klimatische Entwicklung auf der Erde betrifft, den durch Methan und Lachgas verursachten Runaway-Effekt – das ist im Zeitraffer dargestellt, so schnell wird das wohl nicht passieren. Hoffe ich zumindest.

Ihre hochentwickelte Virtual Reality auf dem Mond wirkt wie eine Abrechnung mit der Generation Smartphone. Überhaupt, so wirklich gut weg kommt unsere heutige Gesellschaft in der lunaren Extrapolation oft nicht – sind wir wirklich so schlimm?

Es ist eher eine Persiflage auf die Erwartungshaltung, die mit der VR üblicherweise in der Literatur und im Film verbunden ist – man denke nur an „Total Recall“ oder „Avatar“: Das Eintauchen in exotische, fremde Welten, womöglich unter Aufgabe des Bewusstseins, dass man sich in einer Simulation befindet. Die VR-Lounge auf dem Mond bietet stattdessen nur ein perfektes Rendering des Hotels, ohne Unterschiede zur Realität – zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo der Protagonist darin eine weitere Ebene entdeckt. Später in der Geschichte taucht noch eine Figur auf, der Fakir Shankara, der die Frage aufwirft, in welcher Realitätsebene wir uns eigentlich befinden. Ich hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, in einer der Traum- und Schneesturmsequenzen den Protagonisten mit einer Gestalt zu konfrontieren, die an einem Rechner sitzt und einen Text verfasst – mich. Vielleicht ist der ganze Roman ja tatsächlich nur ein Fake; vielleicht spielt er auch gar nicht auf dem Mond, sondern in der Wüste von Nevada.

In „Moonatics“ kommt auch ein weit entwickelter Roboter vor. Wartet auf dem Feld der künstlichen Intelligenz der nächste große Schritt, den wir machen?

Die Art und Weise, wie der kellnernde Roboter Buzz sein Bewusstsein erlangt, spielt ironisch auf die zentralen Themen der künstlichen Intelligenz an: Wie ist die Beziehung zwischen Intelligenz und Bewusstsein? Ist Bewusstsein nur das Nebenprodukt der chemisch-elektrischen Vorgänge im Gehirn – oder nicht doch vielmehr der Ursprung allen Seins? Geist oder Materie? Das ultra-reduktionistische Weltbild von Ray Kurzweil und den Transhumanisten – die Erwartung, irgendwann unser ‚Bewusstsein auf eine Festplatte herunterladen’ zu können, mit dem damit verbundenen Konzept virtueller Unsterblichkeit  – scheint davon auszugehen, dass es so etwas wie einen Geist oder eine Seele nicht gibt, oder höchstens als Illusion, als Abfallprodukt unserer Denkvorgänge. Weitaus realistischer als die Kurzweilschen Visionen erscheint mir, dass wir tatsächlich irgendwann eine ‚Künstliche Intelligenz’ erschaffen. Da wir bisher offenbar nicht imstande oder gewillt sind, unseren Laden in Ordnung zu bringen, wäre eine solche Weitergabe des Staffelstabs vielleicht keine schlechte Idee. Im Ernst: Warum sollte man die Verwaltung des gesellschaftlichen und ökologischen Systems Erde nicht Algorithmen anvertrauen? Darin sehe ich eine Chance, vielleicht die einzige, die wir haben. Vielleicht gehört das einfach zur Evolution des Lebens.

Jedes Ihrer Kapitel wird durch ein Zitat oder eine Songzeile eingeleitet. Wie lange hat die schwierigste Suche nach einem passenden Satz gedauert?

Die meisten Zitate habe ich über Jahre beim Lesen gesammelt, nachdem ich damit begonnen hatte, am Roman zu arbeiten. Als das Manuskript dann fertig war, war die Zuordnung der Zitate der letzte Pinselstrich; manchmal ganz amüsant, wie gut sie zum Inhalt der Kapitel passen.

2016 war wieder kein so tolles Jahr für die Welt – würden Sie sich lieber früher als später auf den Mond verdrücken, wenn Sie könnten?

Nein, ich habe erste Reihe Fensterplatz gebucht. Die nächsten Jahrzehnte werden die spannendsten in der Geschichte. Alles oder Nichts. Das schau ich mir an, ich bleibe hier.

Autorenfoto: © privat

Arne Ahlert: Moonatics ∙ Roman ∙ Heyne Verlag, München 2016 ∙ 576 Seiten ∙ E-Book: € 11,99 (im Shop)

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