27. Juni 2017 1 Likes

Die Welt von Gestern

Wie die Menschen im Mittelalter Naturphänomene sahen zeigt das erstaunliche „Wunderzeichenbuch“

Lesezeit: 3 min.

Brennende Sonnen, am Himmel reitende Drachen, Feuersbrünste, Heuschreckenplagen. Die Welt des Mittelalters war reich an solch wunderlichen Phänomenen bzw. das, was man dafür hielt. Mit 500 Jahren Abstand, 500 Jahren wissenschaftlicher Forschung, der Aufklärung und einer gesunden Portion Skepsis im Hintergrund, wäre es ein leichtes, sich über den Aberglauben, der das Leben im Mitellalter prägte, lustig zu machen. Viel interessanter ist es jedoch, das nun im Taschen-Verlag neu aufgelegte „Wunderzeichenbuch“ als Versuch zu nehmen, den Blick auf die Welt zu begreifen, den die Menschen vor 500 Jahren hatten.

In Augsburg circa 1550 ist die Sammlung an Gouachen entstanden, die erst vor wenigen Jahren wiederentdeckt wurde. Ihre genaue Funktion ist unbekannt, ebenso für wen die Sammlung an mal naiven, mal bemerkenswert detailgetreuen Bildern entstand. Von der biblischen Geschichte bis in die damalige Gegenwart reichen die rund 170 Bildtafeln, die von oft erstaunlich pragmatischen Unterschriften begleitet sind: „Im 1162. Jahr nach der Geburt Christi fiel um Mailand zwölfmal nacheinander Schnee, sodass die Leute verzagten und niemand zu dem anderen kommen konnte“ heißt es da einmal, was auf kaum mehr als einen strengen Winter in Italien hindeutet. Auch von Hagel, Erdbeben oder Überschwemmungen ist häufig die Rede, also Naturphänomenen, die recht häufig vorkommen. Doch in einer Zeit, in der die Bibel nicht einfach nur ein Buch war, sondern das Buch, einer Zeit, in der das Wort Gottes Gesetz war, musste man wohl auch starke Überschwemmungen als Zeichen des Zorns Gottes verstehen.

Die Zusammenhänge zwischen mehr oder weniger unerklärlichen Ereignissen und politischen oder sozialen Umwälzungen sind dann aus heutiger Sicht auch eher vage: Zum Blatt einer Sonnenfinsternis heißt es da etwa: „Im 1360. Jahr nach Christi Geburt ereignete sich eine solch große Finsternis der Sonne, dass es am hellichten Tag Nacht war und völlig finster. Zu der Zeit starb der Papst Innozenz.“ Betonung auf zu der Zeit, denn die Sonnenfinsternis von der hier die Rede ist ereignete sich keineswegs exakt an dem Tag oder nur der Woche, als Papst Innozenz VI., von dem hier wohl die Rede ist, starb, sondern nur ungefähr zu dieser Zeit. Das Zeitungs- und Postwesen war noch im Entstehen, Nachrichten kamen oft erst mit Wochen oder gar Monaten Verspätung an, Korrelationen zwischen zwei Ereignissen waren also zwangsläufig eher vage.

Oder auch reines Wunschdenken, Beobachtungen von feurigen Balken, fliegenden Drachen oder Himmelsschlachten etwa, die als Zeichen der nahenden Apokalypse gedeutet werden konnten. So endet das Wunderzeichenbuch dann auch mit Bildtafeln, die Verse aus der Offenbarung des Johannes bebildern. Blättert man das Buch aus dieser Perspektive durch, wirken die Naturphänomene nicht mehr wie zwar unerfreuliche Ausschläge, sondern tatsächlich wie Zeichen, dass das Ende naht.

Heute könnte man so etwas als Verschwörungstheorie bezeichnen, heute wird in der aufgeklärten westlichen Welt zwar nicht mehr unbedingt auf die anstehende göttliche Apokalypse und das Aufsteigen ins Himmelreich gewartet, bizarre Interpretationen mancher Ereignisse finden sich gerade in den Untiefen des Internets immer noch zu Hauf. Um 1550 mag die Welt kleiner, der Blick reduzierter gewesen sein, doch auch knapp 500 Jahre später ist es immer noch allzu leicht, einen irrationalen Blick auf die Welt zu werfen. - Das Ignorieren des Klimawandels ist da nur ein besonders dramatisches Beispiel.

Abb. © Taschen

Das Wunderzeichenbuch • Hrsg. von Till-Holger Borchert & Joshua P. Waterman • Taschen, Köln 2017 • €39,99 • 292 Seiten

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