7. März 2022

Expedition in die Zone

Eine Leseprobe aus „Stalker“, dem großen Klassiker von Arkadi und Boris Strugatzki

Lesezeit: 29 min.

Es ist einer der großen Klassiker der russischen Science-Fiction-Literatur: Stalker (im Shop) von Arkadi und Boris Strugatzki. Der Roman über den Glücksritter Red Shewhart, der illegal in die geheimnisvolle Zone eindringt, in der vor Jahren Aliens gelandet sind und rätselhafte Artefakte zurückgelassen haben, wurde von Regisseur Andrei Tarkowski verfilmt, in zahllose Sprache übersetzt und verkaufte sich weltweit millionenfach. Jetzt liegt der Roman in neuer Übersetzung und mit umfangreichem Bonusmaterial vor. Doch wie ist es in dieser Zone? Red und sein Freund, der Wissenschaftler Kirill, suchen nach einem ganz besonderen Gegenstand, der sie so reich machen wird, dass sich die Stalker nie wieder ins Sperrgebiet wagen müssen. Doch die Zone gibt ihre Geheimnisse nicht so einfach preis …

 

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Kirill ruft bei der Feldeinsatzlogistik an, um eine Fluggalosche zu bestellen. Derweil nehme ich mir noch mal die Karte vor. Die ist wirklich nicht schlecht gemacht, fotografische Luftaufnahmen, stark vergrößert. Sogar das Profil von dem Reifen ist zu erkennen, der da beim Garagentor herumliegt. Von so einer Karte können wir Stalker nur träumen. Wobei, was bringt dir so eine nachts, wenn du nicht mal die Hand vor Augen siehst?

Und da taucht auch schon Tender auf, atemlos, mit rotem Kopf. Er entschuldigt sich für die Verspätung, seine Tochter ist krank geworden, er musste mit ihr noch zum Arzt. Dann verraten wir ihm unsere kleine Überraschung. Erst bleibt dem armen Kerl glatt die Luft weg. »Was, in die Zone?«, fragt er. »Wieso gerade ich?« Aber als er hört, dass es eine Extraprämie gibt und dass Red Shewhart auch mitgeht, fasst er sich wieder und atmet weiter.

Dann geht’s ab ins »Boudoir« zum Umziehen. Kirill hat inzwischen die Passierscheine besorgt, die wir einem weiteren Sergeanten vorlegen, woraufhin dieser jedem von uns einen Spezialanzug aushändigt. Wirklich extrem nützlich, diese Teile. Wären sie nicht rot, sondern in einer passenderen Farbe, würde jeder Stalker dafür sofort fünfhundert Geld abdrücken, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich hab mir längst geschworen, irgendwann mal so einen mitgehen zu lassen. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, wie ein Taucheranzug, der Helm auch so ähnlich, mit großem Sichtfenster vorn. Oder mehr wie bei einem Düsenjetpiloten oder, sagen wir, einem Kosmonauten. Leicht ist er, bequem, nirgends zu eng, und wenn es heiß wird, schwitzt man nicht. Feuerfest und gasdicht noch dazu. Nicht mal eine Kugel, heißt es, kann ihm was anhaben. Klar: Feuer, Senfgas und Kugeln sind irdisch, von Menschen gemacht. In der Zone gibt es das alles nicht, da hast du ganz andere Sorgen. Machen wir uns nichts vor: Selbst mit Spezialanzügen krepieren dort Leute, und zwar mir nichts, dir nichts. Sicher, ohne gäbe es wahrscheinlich noch mehr Opfer. Vor dem »sengenden Flaum« schützen die Anzüge jedenfalls hundertpro. Oder vor den Spritzern des »Satanskrauts«. Na gut, lassen wir das.

Wir ziehen die Spezialanzüge über, ich nehme ein paar Muttern aus der Tüte und stecke sie in die Hüfttasche, dann gehen wir los, quer über den Institutshof zu dem Ausgang, der in die Zone führt. So läuft das hier: Jeder soll den Helden der Wissenschaft dabei zusehen, wie sie sich anschicken, ihr eigenes Leben zu opfern, im Namen der Menschheit, des Wissens und des Heiligen Geistes, Amen. Tatsächlich hängen jetzt lauter mitleidige Visagen an den Fenstern, bis in den vierzehnten Stock. Fehlt nur noch Orchestermusik, und dass sie uns mit Taschentüchern nachwinken.

»Immer schön festen Schritts«, sag ich zu Tender. »Bauch rein, Brust raus! Die Menschheit wird es dir ewig danken!«

Als er mich anschaut, sehe ich, dass ihm nicht zum Spaßen zumute ist. Natürlich hat er recht, das hier ist bitterer Ernst. Aber auf dem Weg in die Zone hast du nur zwei Optionen: Entweder du weinst, oder du machst Witze – und geweint hab ich noch nie. Ich schau zu Kirill rüber: Er hält sich wacker. Nur seine Lippen bewegen sich stumm.

»Betest du?«, frag ich ihn. »Nur zu. Je weiter du in die Zone vordringst, desto näher kommst du dem Himmel …«

»Was?«, fragt er.

»Bete ruhig!«, rufe ich laut. »Stalker kommen ins Paradies, und zwar ohne Warteliste!«

Da lächelt er und klopft mir mit der Hand auf den Rücken, nach dem Motto: Keine Angst, mit mir passiert dir nichts, und wenn doch, sterben tun wir ja nur einmal. Er ist schon ein seltsamer Vogel, echt wahr.

Wir geben unsere Passierscheine beim letzten Sergeanten ab, der ausnahmsweise ein Leutnant ist. Ich kenne ihn, sein alter Herr handelt mit Grabzäunen in Rexopolis – und da ist auch schon unsere Fluggalosche, die Jungs von der Einsatzlogistik haben sie direkt neben dem Kontrollpunkt geparkt. Alle sind sie zur Stelle: Sanitäter, Feuerwehr und natürlich unsere tapfere Garde, die furchtlosen Rettungseinheiten – ein Haufen vollgefressener Taugenichtse mit eigenem Hubschrauber. Die können mir gestohlen bleiben.

Wir besteigen die Galosche, Kirill setzt sich ans Steuer und sagt: »Na dann, Red, auf dein Kommando.«

In aller Seelenruhe mache ich den Reißverschluss meines Anzugs auf, hole meinen Flachmann aus der Innentasche, nehme einen ordentlichen Schluck, schraube den Deckel wieder drauf und stecke die Flasche wieder zurück. Das muss einfach sein. Sooft ich auch schon in der Zone war, ohne das geht es nicht. Die beiden schauen mich an und warten.

»Na dann«, sag ich. »Ich hab euch nichts angeboten, weil ich heute zum ersten Mal mit euch unterwegs bin und nicht weiß, wie Hochprozentiges auf euch wirkt. Das sind die Regeln: Alles, was ich sage, ist sofort und ohne Widerspruch auszuführen. Wer rumzickt oder Fragen stellt, kriegt eine verpasst, und zwar wo immer ich hinlange, sorry dafür schon jetzt. Ein Beispiel: Wenn ich dir, Mister Tender, befehle, lauf auf den Händen weiter, schiebst du deinen fetten Hintern unverzüglich in Richtung Himmel und führst aus, was ich sage. Tust du’s nicht, siehst du dein krankes Töchterchen vielleicht nie wieder. Verstanden? Keine Angst, ich sorge schon dafür, dass du sie wiedersiehst.«

»Hauptsache, dein Befehl kommt rechtzeitig, Red«, antwortet Tender heiser. Er ist rot angelaufen und schwitzt, seine Lippen zittern. »Ich geh auch auf den Zähnen, wenn’s sein muss. Bin ja kein Anfänger mehr.«

»Für mich seid ihr beide Anfänger«, sag ich. »Aber den Befehl geb ich dir schon rechtzeitig, keine Sorge. Übrigens, kannst du eine Galosche lenken?«

»Kann er«, sagt Kirill. »Und zwar gut.«

»Gut ist gut«, sag ich. »Na dann, los. Visiere runter. Langsame Fahrt voraus, immer an den Markierungspfählen entlang, in drei Meter Höhe. Bei Pfahl Nummer 27 machen wir halt.«

Kirill lässt die Galosche auf drei Meter steigen und macht langsame Fahrt voraus, während ich meinen Kopf drehe und heimlich über die linke Schulter spucke. Ich werfe einen Blick zurück. Die Rettungsgarde ist in ihren Hubschrauber gestiegen, die Feuerwehrleute haben vor lauter Ehrerbietung Haltung angenommen, der doofe Leutnant am Eingang zur Wache salutiert uns, und über ihnen allen das riesige, bereits verblichene Plakat: »Herzlich willkommen, verehrte Außerirdische!« Tender will ihnen schon zuwinken, aber ich knuffe ihm derart in die Seite, dass ihm diese Faxen gleich vergehen. Wollte der sich doch glatt verabschieden! Ich werd dir zeigen, dich zu verabschieden, du Fettarsch!

Wir fliegen los.

Rechts von uns das Institut, links das Seuchenviertel, und wir bewegen uns genau in der Mitte der Straße von Pfahl zu Pfahl. Wie lang es her ist, dass auf dieser Straße jemand ging oder fuhr! Überall ist der Asphalt aufgesprungen, Risse mit Gras überwuchert, aber das ist noch unser Gras, irdisches. Auf dem Bürgersteig links wächst dagegen dieses schwarze Dornengestrüpp, das uns zeigt, wie genau die Zone ihre Grenzen markiert: Dort, wo das Pflaster beginnt, ist es haarscharf abgeschnitten wie mit einer Sense. Ordentlich sind sie ja, die Außerirdischen. Klar, sie haben eine Menge Dreck dagelassen, aber immerhin selber die Grenze gesetzt, bis wohin ihr Dreck geht. Selbst der »sengende Flaum« ist kein einziges Mal auf unsere Seite geflogen, dabei sieht er so aus, als könnte der Wind ihn überallhin treiben.

Die Häuser im Seuchenviertel sind heruntergekommen und ausgestorben, die Fenster aber fast alle unversehrt, nur schmutzig und deshalb sozusagen blind. Wenn man nachts an ihnen vorbeischleicht, kann man dieses Leuchten im Inneren erkennen, wie wenn Alkohol brennt, mit so bläulich züngelnden Flammen. Das ist die »Hexensülze«, die da aus den Kellern aufsteigt. Auf den ersten Blick ist es ein Viertel wie jedes andere, ganz gewöhnliche Häuser, ziemlich renovierungsbedürftig, aber ansonsten nichts Besonderes. Das Einzige, was fehlt, sind die Menschen. In dem Ziegelhaus da wohnte unser Mathelehrer – er hatte den Spitznamen Komma. Eine Nervensäge war er und ein Versager, die zweite Frau hatte ihn gerade verlassen, als der Besuch passierte, und seine Tochter hatte in einem Auge den weißen Star, ich weiß noch, dass wir sie damit immer aufgezogen haben, bis ihr die Tränen kamen. Als die Panik anfing, rannte er mit allen anderen aus dem Viertel bis zur Brücke – die ganzen sechs Kilometer ohne Pause, nur in Unterwäsche. Danach litt er lange an der Seuche, seine Haut blätterte ab, die Finger- und Zehennägel fielen aus. Fast alle, die in diesem Viertel gewohnt hatten, bekamen sie, deswegen heißt es ja Seuchenviertel. Manche starben daran, vor allem die Älteren, und selbst die nicht alle. Ich für meinen Teil glaube, dass sie nicht an der Seuche starben, sondern vor Angst. Es war ja auch zum Fürchten.

In den drei Vierteln da drüben sind die Leute erblindet. Deswegen heißen die jetzt auch erstes Blindenviertel, zweites Blindenviertel und so weiter. Sie sind aber nicht völlig blind geworden, sondern bekamen so was wie Nachtblindheit. Wie es heißt, war es gar nicht der Blitz, der sie blind gemacht hat – obwohl es schon einen Blitz gegeben haben soll. Blind geworden sind sie aber angeblich von dem lauten Donnern. Die Ärzte sagten ihnen, das ist doch unmöglich, denkt noch mal genau nach! Aber nein, sie alle behaupteten steif und fest, dass es ein extrem lauter Donner war, der sie blind machte. Nur hat außer ihnen niemand diesen Donner je gehört …

Ja, es ist, als wär hier überhaupt nichts passiert. Da drüben steht noch immer der gläserne Kiosk. Und da, der Kinderwagen beim Gatter – sogar die winzige Bettwäsche darin sieht noch immer wie neu aus. Nur die Antennen tanzen aus der Reihe: Sie sind von so einem haarigen Zeugs überwuchert, so ähnlich wie Bast. Auf diese Antennen haben es die Schlaumeier aus dem Institut schon lange abgesehen. Sie wollen unbedingt diesen Bast unter die Lupe nehmen – den gibt es nämlich sonst nirgends, nur im Seuchenviertel und nur an diesen Antennen. Und außerdem wächst er ja gleich nebenan, quasi direkt vor unseren Fenstern. Letztes Jahr flogen sie mit einem Hubschrauber drüber, ließen an einem Stahlseil einen Anker herab und hakten ein Stück von dem Bast ein. Aber als sie es hochziehen wollen, macht es auf einmal »psch-sch-sch«. Wir schauen hin, von der Antenne steigt Rauch auf, vom Anker auch, sogar von dem Stahlseil. Und es ist eben nicht nur der Rauch, sondern dazu dieses giftige Zischen, wie bei einer Klapperschlange. Der Pilot hat zum Glück blitzschnell geschaltet – obwohl er ein Leutnant war –, das Seil abgeworfen und die Fliege gemacht. Und da hängt es noch immer, das Stahlseil, reicht fast bis zum Boden herab, ganz von Bast überwuchert …

Wir schweben sachte dahin, bis zum Ende der Straße, wo wir abbiegen müssen. Kirill schaut mich an: Biegen wir ab? Ich mach ihm ein Zeichen: ganz langsam! Unsere Galosche biegt also ab und legt die letzten Meter über menschlichem Gebiet in ganz langsamer Fahrt zurück. Der Bürgersteig kommt näher und näher, schon fällt der Schatten der Galosche auf das Dornengestrüpp … Die Zone! Sofort erfasst mich ein Schauder. Jedes Mal geht es mir so, und ich weiß bis heute nicht, ob es die Zone ist, die mich so frostig begrüßt, oder ob nur meine Stalkernerven mit mir durchgehen. Jedes Mal denk ich mir: Wenn ich wieder zurückkomme, muss ich unbedingt die anderen fragen, ob sie dasselbe spüren oder nicht. Und jedes Mal vergess ich es.

Jedenfalls schweben wir jetzt langsam über ehemalige Gemüsegärten hinweg. Der Motor unter unseren Füßen brummt ruhig und gleichmäßig – dem kann es ja auch egal sein, dem droht keine Gefahr. Tender dagegen hält es nicht mehr aus. Wir haben noch nicht mal den ersten Pfahl erreicht, als er auf einmal zu labern anfängt. Wie das mit allen passiert, die zum ersten Mal in der Zone sind: Seine Zähne fangen an zu klappern, sein Herz rast, er fühlt sich hundeelend. Man merkt, dass es ihm peinlich ist, aber er kann einfach nicht mehr an sich halten. Ich glaube, es ist so ähnlich wie Durchfall, es lässt sich nicht kontrollieren, sondern fließt einfach aus einem heraus. Was für ein Gelaber! Mal schwärmen sie von der Landschaft, dann wieder faseln sie irgendwelche Theorien über die Außerirdischen daher, oder aber es ist völlig abwegiges Gerede – so wie bei Tender, der gerade irgendwas von seinem neuen Anzug schwafelt und gar nicht mehr aufhören kann: Wie viel er dafür gezahlt hat, wie dünn die Wolle ist, und wie ihm der Schneider die Knöpfe gewechselt hat …

»Halt die Klappe«, sag ich.

Er schaut mich nur traurig an, macht den Mund auf und zu – und redet dann einfach weiter darüber, wie viel Seide in dem Anzugfutter verarbeitet wurde. An den Gemüsegärten sind wir schon vorbei, unter uns liegt jetzt eine lehmige Einöde, wo früher die städtische Müllkippe war, und ich merke, dass hier ein leichter Wind weht. Eben noch war da nichts, aber jetzt ist es auf einmal windig, Staubteufel ziehen vorbei, und ich glaube etwas zu hören.

»Halt endlich den Rand, du Idiot!«, sag ich zu Tender.

Er kann einfach nicht aufhören. Jetzt quasselt er irgendwas von Pferdehaaren. Na schön, tut mir leid.

»Halt an«, sag ich zu Kirill.

Er bremst sofort. Gute Reaktion, Respekt. Ich packe Tender an der Schulter, dreh ihn zu mir, hole aus und klatsche ihm mit voller Wucht die Hand gegen das Visier. Der Arme knallt

mit der Nase gegen das Glas, kneift die Augen zusammen und verstummt. Und schon kann ich es hören: »Tr-r-r … tr-r-r … tr-r-r …«

Kirill schaut mich an, die Kiefer zusammengepresst, die Zähne gebleckt. Ich signalisiere ihm mit der Hand: Warte, warte, um Gottes willen, rühr dich nicht. Er hört das Knirschen ja auch, und wie alle Neulinge drängt auch ihn sein Instinkt, zu handeln, irgendwas zu tun.

»Rückwärtsfahrt?«, flüstert er.

Ich schüttle heftig den Kopf und fuchtle mit der Faust direkt vor seinem Helm herum, damit er die Klappe hält. Heilige Einfalt! Mit diesen Neulingen weißt du gar nicht mehr, wo du hinschauen sollst – aufs Feld oder auf sie. Doch im nächsten Moment hab ich all das vergessen: Über einen Haufen aus altem Müll, Glasscherben und Lumpen kriecht eine Art Zittern, ein Flirren wie heiße Luft auf einem Blechdach zur Mittagszeit, es schwappt über den Hügel und wälzt sich unaufhaltsam auf uns zu. Direkt neben dem Markierungspfahl an der Straße macht es halt, zögert eine halbe Sekunde – oder scheint es mir nur so? – und verzieht sich wieder aufs offene Feld, ins Gebüsch, hinter die verrotteten Zäune, zum Autofriedhof.

Der Teufel soll sie holen, diese Eierköpfe! Wirklich genial von denen, die Trasse ausgerechnet durch eine Mulde zu führen. Aber ich bin ja auch ein Idiot: Hätt ich mal lieber genau hingeschaut, anstatt ihre tolle Karte zu bewundern.

»Langsame Fahrt voraus«, sag ich zu Kirill.

»Was war das?«

»Weiß der Geier! Es ist vorbei, aus, Amen. Halt bitte einfach den Rand. Du bist gerade kein Mensch, sondern ein Rädchen in einer Maschine, mein verlängerter Arm, kapiert?«

Oha, jetzt hat sie mich wohl auch erwischt, die Labersucht.

»Schluss jetzt«, sag ich. »Kein Wort mehr.«

Ein Schluck aus der Pulle, das wär’s jetzt. Das vertraute Fläschchen hervorziehen, den Deckel abschrauben, ohne Hast, den Flaschenhals auf der unteren Zahnreihe platzieren und den Kopf zurücklegen, damit es von selbst runterläuft, direkt in die Kehle, und so richtig reinhaut, bis dir die Tränen kommen. Dann den Flachmann schütteln und noch mal ansetzen. Diese Spezialanzüge sind Mist, das sag ich euch. Ohne Anzug wär ich genauso weit gekommen wie jetzt, hundertpro, und würde wahrscheinlich noch mal so lang weiterleben. Aber ohne einen guten Schluck in so einem Moment wie diesem … Ach, egal!

Der Wind scheint sich gelegt zu haben, kein Unheil liegt mehr in der Luft, nur der Motor brummt ruhig und träge weiter. Ringsum scheint die Sonne, und es ist heiß. Über der Garage flirrt die Luft. Alles scheint so wie immer, die Markierungspfähle ziehen einer nach dem anderen an uns vorbei. Tender schweigt, Kirill schweigt – die Neuen werden geschliffen. Keine Sorge, Jungs, in der Zone kann man durchaus atmen, man muss nur wissen, wie … Da ist auch schon Pfahl Nummer 27 – eine Eisenstange mit der Nummer in einem roten Kreis. Kirill schaut mich an, ich nicke ihm zu, und unsere Galosche hält an.

Nach dem ersten Schritt kommt der zweite. Das Wichtigste für uns: absolute Ruhe bewahren. Wir haben keinen Zeitdruck, es ist windstill, die Sicht bestens. Da drüben verläuft der Graben, wo es Schleimer erwischt hat, irgendwas Buntes ist da zu sehen, vielleicht ein Fetzen von ihm. Ein Dreckschwein war er, Gott hab ihn selig – gierig und dumm, nur solche lassen sich auf Aasgeier ein. Aasgeier Burbridge kann diese Typen schon von Weitem riechen und lässt sie für sich die Drecksarbeit machen. Aber die Zone kümmert es ja nicht, ob du böse bist oder gut, und überhaupt, Schleimer, du warst zwar ein Idiot und keiner erinnert sich mehr an deinen richtigen Namen, aber immerhin hast du ein paar schlaueren Leuten gezeigt, wo man besser nicht hintritt, also danke … Ideal wäre es, wenn wir es gleich bis dahin schaffen, wo der Asphalt anfängt. Der ist glatt, alles gut zu sehen, und den Spalt dort kenn ich ja. Nur die Buckel da drüben gefallen mir überhaupt nicht. Wenn man in direkter Linie auf den Asphalt zugeht, muss man genau zwischen ihnen durch. Da sind sie und warten, sieht so aus, als ob sie sich eins grinsen. Nein, zwischen euch geh ich nicht durch. Das zweite Gebot des Stalkers lautet: Rechts oder links muss auf hundert Schritt alles sauber sein. Über den linken Buckel käme man aber schon rüber, nur weiß ich nicht, was dahinter ist. Auf der Karte sah es so aus, als wär da nichts, aber wer glaubt schon einer Karte?

»Hör mal, Red«, flüstert mir Kirill zu. »Wie wär’s, wenn wir springen? Zwanzig Meter rauf, dann wieder runter, und schon wären wir bei der Garage, oder?«

»Klappe, Idiot«, antworte ich. »Halt dich da raus.«

Da rauf will er also. Was, wenn’s einen von uns in zwanzig Meter Höhe erwischt? Viel Spaß anschließend beim Knochensammeln. Oder irgendwo bildet sich auf einmal eine »Mückenglatze« – dann brauchen wir von Knochen gar nicht mehr zu reden, da bleibt nicht mal mehr eine Pfütze übrig. Wie ich sie dick habe, diese Heißsporne: Er kann es einfach nicht erwarten, von wegen »Lass uns springen« und so … Na gut, wie wir bis zu dem Buckel kommen, ist jedenfalls klar, und von da schauen wir einfach weiter. Ich hole eine Handvoll Muttern aus der Tasche, zeige sie Kirill und sage: »Kennst du das Märchen vom kleinen Däumling? Hattet ihr das in der Schule? Das hier ist genau umgekehrt. Schau!« Ich werfe die erste Mutter. Nicht allzu weit, sondern gerade richtig, vielleicht zehn Meter. Die Mutter fliegt ohne Probleme durch. »Hast du gesehen?«

»Und?«, fragt er.

»Was ›und‹? Ob du das gesehen hast, frag ich!«

»Ja.«

»Jetzt fährst du die Galosche ganz langsam auf die Mutter zu, bleibst aber zwei Meter davor stehen. Verstanden?«

»Verstanden. Du suchst nach Gravikonzentraten?«

»Ich suche, was ich finden will. Warte, ich werf noch eine. Pass auf, wo sie hinfällt, und lass sie dann nicht mehr aus den Augen.«

Ich werfe eine zweite Mutter. Natürlich fliegt auch die problemlos durch und landet neben der ersten.

»Los«, sag ich.

Er setzt die Galosche in Bewegung. Sein Gesicht ist jetzt ruhig und konzentriert: Er hat alles verstanden. So sind sie eben, die Intellektuellen. Sie müssen die Dinge unbedingt beim Namen nennen. Solange sie noch herumrätseln, sind sie ein Häuflein Elend, zu nichts zu gebrauchen. Aber kaum fällt ihnen irgendein »Gravikonzentrat« ein, glauben sie alles kapiert zu haben, und schon leben sie auf.

Wir fahren an der ersten Mutter vorbei, an der zweiten, der dritten. Tender seufzt, tritt von einem Bein aufs andere, gähnt immer wieder nervös und winselt dabei wie ein Hund – er hält es kaum aus, der arme Kerl. Soll er nur, tut ihm ganz gut. Fünf Kilo lässt der heute sicher hier liegen, besser als jede Diät. Ich werfe die vierte Mutter, und die fliegt irgendwie falsch. Ich kann nicht erklären, was es ist, aber ich spüre, da stimmt was nicht, und packe Kirill sofort am Arm.

»Stopp«, sag ich. »Keinen Meter weiter …«

Die fünfte Mutter werfe ich diesmal etwas höher und weiter. Und da ist sie, die »Mückenglatze«: Nach oben fliegt die Mutter ganz normal, nach unten zuerst auch, aber dann, auf halbem Weg, wird sie von irgendeiner Kraft zur Seite gerissen und nach unten geschleudert, und zwar mit solcher Wucht, dass sie sofort tief im Lehm versinkt.

»Hast du das gesehen?«, flüstere ich.

»Bisher nur im Kino«, antwortet er und lehnt sich so weit nach vorn, dass er jeden Moment aus der Galosche zu stürzen droht. »Wirf noch eine, ja?«

Ich glaub, mein Schwein pfeift! Als ob eine reichen würde! Oh Mann, diese Wissenschaftler. Egal, ich werfe jedenfalls acht weitere Muttern aus, bis ich die »Glatze« komplett eingekreist habe. Es hätten auch sieben gereicht, aber eine werfe ich extra für ihn, genau in die Mitte, damit er sein Gravikonzentrat noch mal bestaunen kann. Das Teil knallt in den Lehm, als wär es achtzig Kilo schwer. Am Ende ist nur noch das Loch zu sehen. Vor Vergnügen grunzt er sogar.

»Also gut«, sag ich. »Jetzt aber Schluss mit der Spielerei. Pass genau auf: Ich werfe jetzt eine gute, und die lässt du nicht aus den Augen.«

So umgehen wir die »Mückenglatze« und erklimmen den Buckel. Der ist nicht viel größer als ein Katzenschiss, ich hab ihn überhaupt erst heute so richtig bemerkt. Tja … Wir stehen also oben auf dem Buckel, das Asphaltstück ist in Reichweite, vielleicht zwanzig Schritt entfernt. Die Stelle macht eigentlich einen tadellosen Eindruck – man sieht jeden Grashalm, jede noch so kleine Spalte. Na dann, schmeiß die nächste Mutter, und ab geht die Post.

Ich krieg’s nicht hin.

Ich kapier selbst nicht, was mit mir los ist, aber ich schaff es einfach nicht, eine Mutter zu werfen.

»Was ist?«, fragt Kirill. »Warum bleiben wir stehen?«

»Warte«, sag ich. »Sei still, um Himmels willen.«

Gleich, denk ich, gleich werfe ich die Mutter, und dann geht es locker weiter. Wir schweben so sanft dahin, dass sich nicht mal ein Hälmchen rührt – spätestens in einer halben Minute sind wir über dem Asphalt. Aber dann bricht mir auf einmal der Schweiß aus, sogar in die Augen fließt er mir. Auf keinen Fall werf ich da vorn eine Mutter hin. Nach links – kein Problem, von mir aus auch zwei. Die Entfernung ist zwar weiter, und ich seh da auch ein paar Steine, die mir nicht sonderlich gefallen, aber dorthin riskier ich den Wurf. Nach vorn – um nichts in der Welt. Ich werfe also die Mutter nach links. Kirill sagt nichts, dreht die Galosche, fährt an die Mutter ran und wirft mir erst dann einen Blick zu. Was er da sieht, scheint ihm nicht besonders gut zu gefallen, denn er wendet sich sofort wieder ab.

»Egal«, sag ich zu ihm. »Der Umweg bringt uns näher ran.«

Und werfe die letzte Mutter auf den Asphalt.

Danach geht es leichter. Ich finde meine Spalte, die, wie sich herausstellt, völlig sauber ist, gar nicht mit irgendwelchem Zeugs überwuchert, und auch immer noch dieselbe Farbe hat. Ihren Anblick genieße ich mit stiller Freude. Wir folgen ihr, und sie führt uns sicherer bis zum Garagentor als alle Markierungspfähle dieser Welt.

Ich lasse Kirill auf eineinhalb Meter runtergehen, lege mich auf den Bauch und schaue durch das offene Tor ins Innere der Garage. Da wir aus der Sonne kommen, ist anfangs alles nur schwarz, aber dann gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Seit dem letzten Mal scheint sich nichts verändert zu haben. Der Kipplaster steht immer noch auf der Arbeitsgrube, völlig unversehrt, ohne irgendwelche Löcher oder Flecken. Auch auf dem Betonboden ringsum ist alles wie immer – wahrscheinlich hat sich in der Grube noch nicht genug »Hexensülze« angesammelt, um über den Rand zu schwappen. Nur eines gefällt mir nicht: Ganz hinten in der Garage, bei den Kanistern, glänzt irgendwas silbern. Das ist neu. Komm schon, lass es doch glänzen, kein Grund, umzukehren! Es glänzt ja auch nicht irgendwie besonders, nur ein bisschen, und außerdem irgendwie ruhig, fast zärtlich sogar … Ich stehe auf, klopfe mir den Bauch ab und sehe mich um. Die Laster, die da auf der Freifläche stehen, wirken wie neu – seit ich das letzte Mal hier war, sind sie, finde ich, sogar noch neuer geworden. Der Tankwagen dagegen ist völlig durchgerostet, der Arme fällt sicher bald auseinander. Und da liegt auch der Reifen, den ich auf der Karte erkannt habe.

Irgendwas an dem Reifen gefällt mir nicht. Es ist sein Schatten: Wir haben die Sonne im Rücken, aber der Schatten fällt in unsere Richtung. Na gut, der Reifen liegt ziemlich weit entfernt, damit kann ich arbeiten. Aber was soll dieses silberne Glänzen? Oder bilde ich mir das nur ein? Erst mal eine rauchen, mich hinsetzen und in aller Ruhe nachdenken: Warum glänzt es ausgerechnet über den Kanistern, sonst nirgends? Und warum wirft der Reifen so einen komischen Schatten? Aasgeier Burbridge hat mal was von Schatten erzählt, das sei irgendwas Abgefahrenes, aber letztlich ungefährlich. Die Schatten sind hier eben manchmal so. Aber was glänzt da? Sieht aus wie ein Spinnennetz an den Bäumen im Wald. Aber was für eine Spinne soll das sein? Mann, ich hab in der Zone noch nie auch nur einen Käfer gesehen, geschweige denn eine Spinne. Und was noch schlimmer ist: Mein »Leerteil« liegt genau neben den Kanistern, vielleicht zwei Schritt davon entfernt. Ich hätt’s damals gleich mitnehmen sollen, dann hätt ich jetzt ein Problem weniger. Aber es ist nun mal verdammt schwer, dieses Miststück, es ist ja voll. Aufheben hätt ich es schon können, aber auf dem Rücken schleppen, noch dazu nachts und auf allen vieren … Wer so ein »Leerteil« noch nie getragen hat, soll es ruhig mal versuchen. Das ist, als müsste man fünfzehn Liter Wasser transportieren, und zwar ohne Eimer. Also dann, hingehen oder nicht? Wir müssen ja. Jetzt einen Schluck, das wär’s!

Ich dreh mich zu Tender um und sag: »Kirill und ich gehen jetzt rein. Du bleibst hier und übernimmst einstweilen die Galosche. Aber ohne meinen ausdrücklichen Befehl fasst du das Steuer nicht an – egal, was passiert, und wenn es unter deinen Füßen zu brennen beginnt. Verlierst du die Nerven, finde ich dich im Jenseits wieder, ist das klar?«

Er nickt ernst: Schon klar, ich halte die Stellung. Seine Nase ist zwetschgenblau, dem habe ich ganz schön eine verpasst. Ich lasse langsam die Sicherungsseile hinab, werfe noch mal einen Blick auf das silbrige Glänzen, gebe Kirill ein Zeichen und seile mich ab. Ich lande auf dem Asphalt und warte, während er an dem anderen Seil herunterkommt.

»Immer schön langsam«, sag ich zu ihm. »Weniger Hektik heißt weniger Staub.«

Jetzt stehen wir beide auf dem Asphalt, die Galosche neben uns schwankt leicht, die Seile zu unseren Füßen winden sich. Tender schaut über das Geländer und folgt uns mit verzagtem Blick. Wir müssen los. Ich sag zu Kirill: »Geh mir nach, und zwar genau in meinen Fußstapfen, immer zwei Schritt Abstand. Schau immer auf meinen Rücken und pass gut auf.«

Ich geh los. Am Eingang der Garage bleibe ich stehen und blicke mich um. Tagsüber zu arbeiten ist so viel einfacher als nachts! Ich weiß noch, wie ich genau an dieser Schwelle gelegen bin. Es war dunkel wie im Bauch eines Wals, aus der Grube züngelte die Hexensülze hervor, blaue Flammen wie von Alkohol. Das Ärgerliche dabei war, dass von diesem verdammten Zeug überhaupt kein Licht ausging, im Gegenteil, von diesem Züngeln schien alles nur noch dunkler zu werden. Kein Vergleich zu der Situation jetzt. Meine Augen haben sich an das Zwielicht gewöhnt, alles liegt vor mir auf dem Präsentierteller, selbst in den dunkelsten Ecken ist der Staub zu erkennen. Und tatsächlich, da drüben ziehen sich silbrig glänzende Fäden von den Kanistern bis zur Decke – wie ein Spinnennetz. Vielleicht ist es sogar eins. Jedenfalls halten wir uns besser davon fern. Und genau das ist der Moment, in dem ich alles vermassle. Ich hätte Kirill neben mich hinstellen sollen, hätte warten sollen, bis sich auch seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, hätte ihm dieses Spinnennetz zeigen, mit dem Finger darauf deuten sollen. Aber ich bin es nun mal gewohnt, allein zu arbeiten – und während sich meine Augen anpassen, denke ich keinen Moment an Kirill.

Ich geh also rein und direkt auf die Kanister zu. Hocke mich vor dem »Leerteil« hin – das Spinnennetz scheint es nicht berührt zu haben. Ich nehme es am einen Ende und sage zu Kirill: »Pack an, und halt gut fest, das Teil ist ziemlich schwer …«

Kaum hebe ich den Blick, da schnürt es mir die Kehle zu: Ich kriege kein Wort heraus. Ich will schreien: »Halt, bleib stehen!«, aber ich kann nicht. Wahrscheinlich ist es sowieso zu spät, es geht ja alles so schnell. Kirill macht einen Schritt über das »Leerteil« hinweg, wendet sich von den Kanistern ab – und streift mit dem Rücken diesen Silberglanz. Ich schließe die Augen. Alles in mir ist taub, ich höre nichts – außer dem Reißen der Spinnweben. Ein schwaches, trockenes Knistern, wie wenn ein stinknormales Spinnennetz kaputtgeht, nur etwas lauter. Ich sitze da, mit geschlossenen Augen, spüre weder Arme noch Beine, und dann sagt Kirill plötzlich: »Also, was ist? Packen wir’s an?«

»Ja.«

Wir heben das »Leerteil« hoch und tragen es seitwärts gehend zum Ausgang. Echt schwer, das Miststück, sogar zu zweit müssen wir uns ziemlich anstrengen. Wir treten in die Sonne hinaus und bleiben erst bei der Galosche stehen. Tender steckt uns schon seine breiten Pfoten entgegen.

»Na dann«, sagt Kirill. »Eins, zwei …«

»Warte«, sag ich. »Stellen wir es erst mal ab.«

Wir stellen es ab.

»Dreh dich um«, sag ich, »mit dem Rücken zu mir.«

Wortlos dreht er sich um. Ich schaue nach – sein Rücken ist völlig unversehrt. Nichts zu erkennen, weder von der einen noch von der anderen Seite. Ich drehe mich um und werfe einen Blick zu den Kanistern. Auch dort ist jetzt alles dunkel.

»Hör mal«, sag ich zu Kirill, ohne meinen Blick von den

Kanistern abzuwenden. »Hast du das Spinnennetz gesehen?«

»Was für ein Spinnennetz? Wo?«

»Egal. Hast noch mal Dusel gehabt«, sag ich und denke

mir: Was sich noch erweisen muss. »Also dann, pack an.«

Wir hieven das »Leerteil« in die Galosche und stellen es hochkant, damit es nicht herumrollt. Da steht es also, das gute Stück, funkelnagelneu, die Kupferscheiben glänzen in der Sonne, und die blauen Strahlen dazwischen wabern wie Nebelschwaden. Jetzt erkennt man deutlich, dass es eben nicht »leer« ist. Es sieht aus wie eine Art Gefäß, ein Einmachglas mit dunkelblauem Sirup. Nachdem wir es eine Weile bestaunt haben, klettern wir selbst an Bord der Galosche und machen uns ohne große Worte auf den Rückweg.

Diese Wissenschaftler haben es gut! Erstens arbeiten sie tagsüber. Und zweitens ist für sie nur der Hinweg schwierig, aus der Zone fährt sie die Galosche nämlich von ganz allein. Es gibt da so ein Gerät, eine Art Kursschreiber, der die Galosche auf demselben Weg aus der Zone hinauslotst, auf dem sie hereingekommen ist. Wir gleiten wieder zurück, wiederholen sämtliche Manöver, bleiben stehen, schweben kurz auf der Stelle, und weiter geht’s, über all meine Muttern hinweg, wenn ich wollte, könnte ich sie glatt wieder einsammeln.

Die Laune meiner beiden Novizen bessert sich natürlich sofort. Neugierig drehen sie ihre Köpfe hin und her, von Angst keine Spur mehr. Erleichtert, dass alles glimpflich verlaufen ist, fangen sie an zu reden. Mit rudernden Armen verkündet Tender, dass er jetzt erst mal was isst und dann gleich wieder in die Zone zurückgeht, um die Trasse bis zur Garage zu markieren. Kirill dagegen hält mich am Ärmel fest und versucht mir zu erklären, was es mit den Gravikonzentraten – also den »Mückenglatzen« – auf sich hat. Erst lass ich die beiden gewähren, aber nach einer Weile wird es mir zu viel, und ich stutze sie zurecht. In aller Ruhe erzähle ich ihnen, wie viele Idioten sich schon zu früh gefreut haben und auf der Rückfahrt draufgegangen sind. Seid lieber still, sag ich, und behaltet die Umgebung im Auge, sonst geht’s euch wie Shorty Lyndon. Das hat gesessen. Sie fragen nicht mal, was Shorty Lyndon passiert ist. Ist auch besser so. In der Zone kannst du eine vertraute Strecke hundertmal problemlos zurücklegen, und beim hundertersten Mal erwischt es dich dann. Wir gleiten schweigend weiter, und ich stelle mir vor, wie ich den Deckel meiner Flasche aufschraube. Auf verschiedenste Weise stelle ich mir vor, wie ich den ersten Schluck nehme. Hin und wieder blitzt dabei vor meinen Augen das Spinnennetz auf.

Mit einem Wort, wir verlassen die Zone, dann geht’s mitsamt der Galosche zur »Läuseschlachterei«, oder, wissenschaftlich ausgedrückt, zum Desinfektionsbereich. Dort werden wir nach allen Regeln der Kunst mit siedend heißem Wasser und Lauge abgeschrubbt, mit irgendwelchem Zeugs bestrahlt und bestreut, wieder abgeschrubbt und getrocknet, bis es schließlich heißt: »Zieht Leine, Jungs!«

Tender und Kirill schleppen das »Leerteil«. Inzwischen haben sich so viele Neugierige versammelt, dass wir kaum durch die Menge kommen. Wieder mal typisch: Alle gaffen nur oder rufen uns irgendwas zu, aber ein paar müden Typen beim Tragen zu helfen traut sich keiner. Was soll’s, das geht mich nichts an. Mir ist jetzt alles egal.

Ich zieh den Spezialanzug aus, lasse ihn einfach auf den Boden fallen – irgendein übereifriger Sergeant wird ihn schon aufheben – und bewege mich Richtung Dusche, denn ich bin von oben bis unten durchgeschwitzt. Ich schließe mich in der Kabine ein, hole meinen Flachmann heraus, schraube den Deckel ab und sauge mich fest wie ein Floh. Ich sitze auf der Bank, die Beine taub, der Kopf so leer wie meine Seele, und schlucke meinen Hochprozentigen, als wär es Wasser. Ich lebe. Bin der Zone noch mal entkommen. Sie hat mich gehen lassen, das Miststück. Das alte Luder, so vertraut und doch so hinterhältig. Ich lebe. Die Neuen haben nicht die leiseste Ahnung, was das bedeutet. Das versteht nur ein Stalker, sonst keiner. Schon kullern mir Tränen über die Wangen – sei es von dem Hochprozentigen oder von irgendwas anderem, keine Ahnung. Ich leere den Flachmann bis zum letzten Tropfen, bin selber nass, die Pulle dagegen jetzt staubtrocken. Noch ein letzter Schluck, das wär schön gewesen. Egal, das kriegen wir auch noch hin. Jetzt kriegen wir alles hin. Ich lebe. Stecke mir eine Zigarette an und bleibe erst mal sitzen. Ich merke, wie es allmählich nachlässt. Mir fällt die Prämie ein. Bei uns im Institut ist das glasklar organisiert. Ich könnte sofort losziehen und mir den Umschlag abholen. Vielleicht bringen sie ihn sogar hierher, direkt in die Dusche.

Ich beginne mich auszuziehen. Als ich die Uhr ablege, fällt mir auf, dass wir über fünf Stunden in der Zone waren – meine Herren! Ich schüttle mich. Klar, in der Zone vergeht die Zeit wie im Flug. Aber fünf Stunden … Andererseits, was sind schon fünf Stunden für einen Stalker? Das ist wie einmal kurz hingespuckt und weggewischt. Wie wär’s mit zwölf? Oder mit zwei vollen Tagen? Du brauchst nur mal nachts nicht rechtzeitig fertig werden, schon liegst du den ganzen Tag über in der Zone, die Fresse im Dreck, betest nicht mal mehr, sondern faselst nur noch und hast keine Ahnung, ob du noch lebst oder schon tot bist. In der zweiten Nacht erledigst du dann alles, schaffst es mit dem Habar bis zur Absperrung, aber da sind die Mützen mit ihren MG-Streifen, die hassen dich und werden einen Teufel tun, dich zu verhaften, denn die fürchten dich wie die Pest, du könntest ja ansteckend sein, also machen sie dich lieber gleich kalt, sie haben schließlich alle Trümpfe in der Hand: Versuch mal zu beweisen, dass sie dich gesetzwidrig umgelegt haben. Also noch mal die Fresse in den Dreck, beten bis zum Morgengrauen und weiter, bis es wieder dunkel wird, neben dir der ganze Habar, und du hast keine Ahnung, ob er da einfach nur rumliegt oder dich allmählich umbringt. Oder wie bei Itzhak Knochenmann, der ist damals in aller Herrgottsfrühe auf offenem Feld stecken geblieben, war vom Weg abgekommen und plötzlich zwischen zwei Gräben gelandet – weder rechts noch links ging es weiter. Zwei Stunden lang schossen sie auf ihn, ohne ihn zu treffen. Zwei Stunden lang stellte er sich tot. Zum Glück glaubten sie es irgendwann und verzogen sich wieder. Als ich ihn danach wiedersah, hab ich ihn nicht mehr erkannt. Sie hatten ihn gebrochen, es war, als hätte es ihn nie gegeben …

Ich wische mir die Tränen ab und stelle das Wasser an. Ich wasche mich lange. Heiß, dann kalt, dann wieder heiß. Ein komplettes Stück Seife verbrauche ich. Dann reicht es mir. Als ich die Dusche abdrehe, hör ich, wie jemand gegen die Tür hämmert, und dann schreit Kirill fröhlich: »Hey, Stalker, komm raus da! Es riecht nach grünen Scheinchen!«

Grüne Scheinchen sind gut. Ich öffne die Tür, Kirill steht vor mir in der Unterhose, fröhlich, von Melancholie keine Spur, und streckt mir einen Umschlag entgegen.

»Da«, sagt er. »Mit herzlichem Dank von der Menschheit.«

»Deine Menschheit kann mich mal! Wie viel ist da drin?«

»Ausnahmsweise, in Anerkennung Ihres heldenhaften Verhaltens, hundert Prozent Gefahrenzulage!«

So lässt es sich leben. Würde man mir hier für jedes »Leerteil« mein Gehalt verdoppeln, hätte ich Ernest längst in die Wüste geschickt.

»Und, zufrieden?«, fragt Kirill. Er grinst von einem Ohr zum anderen.

»Kann nicht klagen«, sag ich. »Und du?«

Er sagt nichts. Stattdessen packt er mein Genick, zieht mich an seine verschwitzte Brust, drückt mich, schiebt mich wieder zurück und verschwindet in der Kabine nebenan.

»He!«, rufe ich ihm hinterher. »Was ist mit Tender? Wäscht er noch seine Unterhosen?«

»Von wegen! Der wird gerade von einem Haufen Korrespondenten belagert, das solltest du sehen, wie wichtig er tut. Und mit welcher Expertise er ihnen alles erklärt.«

»Mit welcher was?«

»Expertise.«

»Alles klar, Sir. Nächstes Mal nehm ich ein Wörterbuch mit, Sir.«

Und dann durchzuckt es mich wie ein Stromschlag.

»Warte mal, Kirill. Komm kurz raus.«

»Ich hab aber nichts mehr an.«

»Komm schon, ich bin keine Tussi!«

Er kommt also raus. Ich packe ihn an den Schultern und drehe ihn um. Nein, war doch nur Einbildung. Der Rücken ist makellos. Nur etwas angetrockneter Schweiß.

»Was interessierst du dich plötzlich für meinen Rücken?«, fragt er.

Ich gebe ihm einen Klaps auf den nackten Hintern, verschwinde in meiner Duschkabine und schließe mich ein. Meine Nerven, verdammt. Ständig bilde ich mir Dinge ein, erst dort, dann hier … Zum Teufel damit! Heute lass ich mich so richtig volllaufen. Vielleicht zieh ich Richard diesmal sogar das Fell über die Ohren, das wär’s doch! Der Mistkerl spielt wirklich gut, alle Achtung. Egal, was du für ne Karte hast, du kriegst ihn nicht unter. Ich hab schon probiert, beim Mischen zu mogeln, Karten unterm Tisch gezinkt und alles Mögliche …

»Kirill!«, rufe ich. »Kommst du heute mit ins Borczch?«

»Das heißt nicht ›Borczch‹, sondern ›Borschtsch‹, wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Lass die Haarspalterei, da steht Borczch, und basta. Also, kommst du oder nicht? Ich will Richard heute über den Tisch ziehen.«

»Ich weiß nicht, Red. Du einfältige Seele hast offenbar noch gar nicht begriffen, was für ein Ding wir da angeschleppt haben.«

»Aber du schon?«

»Nein, ich begreife es genauso wenig. Aber erstens ist jetzt klar, wozu diese ›Leerteile‹ dienten, und zweitens, wenn meine Idee funktioniert … Meinen Artikel werde ich dir persönlich widmen: Für Redrick Shewhart, den ehrenhaften Stalker, in Ehrfurcht und Dankbarkeit.«

»Und dann geh ich für zwei Jahre in den Bau.«

»Aber auch in die Annalen der Wissenschaft ein. Am Ende wird das Teil noch nach dir benannt. ›Shewhart-Büchse‹, wie klingt das?«

Während wir so weiterreden, ziehe ich mich an. Stecke den leeren Flachmann in die Tasche, zähle die Scheinchen nach und mache mich auf den Weg.

»Na dann, viel Spaß beim Zuhausebleiben, du komplizierte Seele.«

Er antwortet nicht – das Wasser rauscht zu laut.

 

Lesen Sie weiter in: Arkadi und Boris Strugatzki: Stalker Roman Aus dem Russischen neu übersetzt von David Drevs mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer Heyne, München 2021 400 Seiten als Paperback und E-Book erschienen € 12,99 (PB) im Shop

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