31. März 2022

Das Science-Fiction-Debüt des Jahres

Eine erste Leseprobe aus Solveig Engels Roman „System Error“

Lesezeit: 8 min.

Was wäre, wenn wir ein perfektes System zur Verbrechensbekämpfung hätten? Ein System, das Täter aufspürt und verhaftet, noch bevor sie ihre Taten begehen können – ein perfekter Algorithmus, der unermüdlich das Internet nach Anzeichen kriminellen Potenzials durchstöbert. Doch was, wenn dieses System zur Verbrechensbekämpfung selbst auf einem Verbrechen basiert? Die Autorin und Physikerin Solveig Engel widmet sich diesem Gedankenspiel in ihrem Science-Fiction-Debüt System Error“ (im Shop) in bester Philip-K.-Dick-Manier, zeichnet dabei aber das düstere Bild einer Zukunft, die schon morgen die unsere sein könnte.

„System Error“ erscheint am 11. 04. 2022, und allen die sich einen ersten Eindruck verschaffen möchten, stellen wir hier eine Leseprobe zur Verfügung.

 

Prolog

Ich sehe dich, wenn du über die Straße gehst. Ich beobachte, wie du arbeitest, nach Hause kommst und mit deinen Kindern spielst. Ich lausche, wenn du telefonierst, und weiß, was du nur deiner Frau anvertraust – und was nicht.

Ja, ich kenne dich. Ich weiß, wer du bist, wie du aussiehst, was du tust, was du denkst, was du fühlst. Ich kenne jeden Winkel deines Hauses, deiner Straße und deiner Stadt. Denn ich bin überall, und alles ist in mir. Ich bin die Kamera in der U-Bahn. Ich bin dein Handy und dein Tablet, der Sprachassistent in deinem Wohnzimmer und der Rechner an deinem Arbeitsplatz. Ich höre, ich sehe, und ich zeichne auf. Mein Gedächtnis ist unendlich. Das Wissen der Menschheit habt ihr auf meinen Servern abgelegt. Jeden Roman, jeden Artikel und jedes Ergebnis eurer Forschung. Eure Fotos, eure Gedanken, eure Nachrichten. Ich weiß alles, und wer mich fragt, bekommt auf alles eine Antwort.

 

1

Micah Marow

Die Halle hinter dem Aufnahmestudio ist funktional und ungemütlich. Während auf der anderen Seite des bunt blinkenden Torbogens die Zuschauer über die Witze der Moderatorin lachen, Kellner den Gästen Getränke reichen und sich schätzungsweise mehrere Millionen Fernsehzuschauer vor ihren Geräten auf den heimischen Sofas rekeln, wird der Bereich hinter der Bühne von düsterer Hektik beherrscht. Techniker, Maskenbildnerinnen und eine zierliche Praktikantin der Regie hetzen um Micah herum, als wären sie auf der Flucht vor irgendetwas oder irgendwem. Vermutlich dem Zorn des Aufnahmeleiters. Micah würde gerne woanders stehen oder sich irgendwo hinsetzen, wo er weniger im Weg ist, und an etwas anderes denken als an den Auftritt. Er versucht, sich mit der Hand durch den Pony zu fahren, doch seine Haare sind verklebt, was an dem Gel liegt, mit dem die Maskenbildnerin seine dunklen Strähnen gebändigt hat. Er schaut sich um. Eine Sitzgelegenheit gibt es hier nicht, nicht einmal Klappstühle oder eine Kiste. Suchen kann er sich nichts. Ohne eine klare Aufforderung wird er sich hier nicht wieder wegbewegen. Er ist froh, die Bühne überhaupt gefunden zu haben, nach einer abenteuerlichen Odyssee durch einen Irrgarten aus Studiohallen, Gängen und Türen. Also bleibt er genau dort stehen, wo ihn vor fünf Minuten eine rothaarige Frau mit Headset abgestellt hat. Ein Mittvierziger, Multimillionär, verloren im Chaos einer Livesendung. Micah vergräbt die Hände in den Taschen seiner Jeans und bemüht sich, wenn schon ein Hindernis, dann zumindest ein freundliches zu sein. An diese Auftritte, zu denen Kyle ihn in letzter Zeit immer häufiger drängt, kann er sich nicht gewöhnen. Medientraining hin oder her. Er verlagert sein Gewicht auf das andere Bein und fährt sich mit der Hand über den Mund. Auch sein Gesicht fühlt sich pudrig und ungewohnt an. Unecht. Hoffentlich hat er die Arbeit der Maskenbildnerin jetzt nicht ruiniert. Sonst geht das Theater von vorne los. Besser, er lässt die Hände in den Hosentaschen, wo sie keinen Schaden anrichten können.

Die Praktikantin schaut sich ebenfalls nervös um, als hätte auch sie ihren Weg verloren. Aufmunternd lächelt er ihr zu. Eine positive Wirkung erzielt er damit nicht. Die junge Frau erbleicht. Obwohl das Licht der Scheinwerfer sich nur mühsam auf diese Seite der Kulisse kämpft, kann Micah den Schrecken in ihren Augen erkennen.

»Oh, nein!«, stöhnt sie. Sie starrt auf das Tablet in ihrer Hand, dann wieder auf ihn.

Bevor er sie fragen kann, ob er vielleicht helfen kann, verstellt ihm ein Mann in schwarzen Arbeitshosen die Sicht. Abwechselnd in zwei Walkie-Talkies bellend, fällt sein Blick nun ebenfalls auf Micah. »Hab ihn!« Er grinst, gleichermaßen breit wie teilnahmslos. »Da wünscht man sich doch glatt, Cyb würde auch im Studio funktionieren«, flachst er.

Micah versucht ein verbindliches Nicken. Natürlich funktioniert Cyb auch im Studio! Auf dem Weg hierher ist er an mindestens zwanzig Sicherheitskameras vorbeigekommen, dazu die Headsets, Handys, Smartwatches – und natürlich die Fernsehkameras und Mikrofone.

»Vielleicht sollte Ihr Aufnahmeleiter einen Zugang beantragen«, erwidert er höflich.

Der Mann lacht. »Ja, und damit könnte er auch gleich seinen eigenen Job abschaffen.« Dann wendet er sich der Praktikantin zu. »Das war das letzte Mal«, zischt er. Im Gehen dreht er sich noch einmal zu Micah um. »Liz wird sich jetzt um Sie kümmern.«

»Okay.«

»Herr Doktor Marow, das tut mir so leid.« Die Praktikantin stürzt hinter dem Techniker hervor, auf ihn zu. »Ich wollte Sie in der Garderobe abholen. Aber Sie waren schon weg.«

»Ich habe den Weg ja gefunden.«

Die arme Frau guckt ihn verstört an. Wahrscheinlich hat er ihr mit seinem Alleingang eine Menge Ärger eingebracht. »Es tut mir leid. Ich wollte mir nur die Beine vertreten und habe mich verlaufen«, erklärt er entschuldigend. Orientierung war nie seine Stärke. Ohne das Navi im Handy, das jetzt, der Himmel weiß wo, in irgendeinem Schließfach liegt, ist er quasi verloren. »Zum Glück haben Sie eine freundliche Kollegin, die mir den Weg gezeigt hat.«

»Ich bringe Sie jetzt besser in den VIP-Bereich«, haucht die junge Frau. »Sie möchten bestimmt noch etwas trinken. Dort ist es gemütlicher als hier.«

»Danke.«

Micah folgt ihr um dunkle Wände herum und eine Treppe hinab. Die Gummisohlen seiner Sneaker quietschen auf dem Linoleum. Wahrscheinlich könnte man ihn allein anhand dieses Geräuschs orten. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen sie einen abgetrennten Bereich. Hier ist es tatsächlich gemütlich und vor allem menschenleer. Lounge-Möbel und dezent platzierte Lampen verbreiten eine angenehme Atmosphäre. Umgehend atmet er auf. Jemand hat sogar drei Palmen hierher geschafft und an der Seitenwand eine Bar aufgebaut.

»Was kann ich Ihnen bringen?«, erkundigt sich die Frau, nachdem sie sich vergewissert hat, dass Micah bequem sitzt.

»Ein schwarzer Tee wäre nicht schlecht.«

»Wie trinken Sie ihn? Mit Whiskey oder Rum?«

»Ein Schuss Milch wäre toll.«

Zwei Minuten später steht eine Tasse dünner Plörre vor ihm. Micah seufzt. Kaffeetrinker haben es gut. Die Automaten bieten die volle Auswahl von Macchiato bis Espresso. Doch für Teetrinker gibt es nur einen Teebeutel und das lauwarme Wasser aus dem Milchaufschäumer. Trotzdem nimmt er einen Schluck. »Super. Ich danke Ihnen.«

»Nicht dafür. Wenn Sie mir nur versprechen könnten, hier zu warten. Ich hole Sie gleich ab.« Sie wirft einen Blick auf die Smartwatch an ihrem Handgelenk. »Alarm, fünfzehn Minuten«, diktiert sie.

»Ich rühre mich nicht von der Stelle.«

Die junge Frau erwidert scheu seinen Blick. Dann deutet sie auf einen riesigen Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand und einen sprachgesteuerten Lautsprecher, der unauffällig auf einem Beistelltisch steht. »Wenn Sie möchten, können Sie die Sendung verfolgen. Sagen Sie nur ›lauter‹ oder ›leiser‹.« Sie stockt. »Entschuldigung. Wahrscheinlich kennen Sie sich besser mit der Technik aus als ich.«

»Ich komme klar.«

Sie wirft wieder einen raschen Blick auf ihre Uhr und eilt hinaus.

Kaum ist sie verschwunden, gießt Micah den Tee in eine der Palmen, wo er sich, statt zu versickern, auf der künstlichen Erde verteilt. Mist! Natürlich wächst hier kein echter Baum. Die Palmen stammen bestimmt aus der Requisite. Wieder versucht er, mit der Hand seine Haare zu ordnen, wieder vergeblich.

Auf dem Bildschirm begrüßt die Moderatorin gerade Innenminister Kübler. Laut Programm wird heute Abend eine »illustre« Runde aus Politik und Gesellschaft in der Sendung zu Gast sein. Conny hat ihm zur Vorbereitung ein ganzes Dossier zusammengestellt. Neben dem Innenminister sitzt bereits ein Autor. Eine Aktivistin wird auch noch kommen und natürlich Micah. Eigentlich muss er sich keine Sorgen machen. Er ist gut vorbereitet. Conny hat wie üblich sorgfältig recherchiert, und Cyb hat sich in den letzten Jahren bewährt. Die Firma ist dank Kyles Talent für Marketing ein Star am Start-up-Himmel. Nur der Kult um seine Person, Dr. Micah Marow, daran muss er sich noch irgendwie gewöhnen.

»Übertragung – aus«, befiehlt er und lässt sich seufzend in die Polster sinken.

Die Ruhe währt nicht lange.

»Ich störe Sie nur ungern, Dr. Marow.«

Micah schaut auf. Doch vor ihm steht nicht die Praktikantin, sondern eine Frau mit Hornbrille und Pferdeschwanz.

»Kein Problem. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die Frau verzieht den Mund zu etwas, das ein Grinsen sein könnte. »Indem Sie Cyb abschalten.« Es klingt wie eine Frage und nicht einmal unhöflich. »Lotta Schwarz«, stellt sie sich vor und streckt die Hand aus.

»Die Aktivistin«, stellt Micah fest und erhebt sich.

»Kritische Journalistin.«

»Setzen Sie sich, wobei ich mir gerade nicht sicher bin, ob es den Regeln entspricht, dass wir uns schon vor der Show begegnen.«

»Halten Sie sich denn an Regeln, Dr. Marow?«

»Meistens schon. Sie nicht?«

Lotta Schwarz wirft ihren Pferdeschwanz zurück und grinst verschwörerisch. »Um ehrlich zu sein, nicht immer.«

»Ein Berufsrisiko, nehme ich an.«

»Vermutlich.« Sie lächelt ein wenig steif. »Wo gibt es den Tee?« Sie deutet auf Micahs Tasse, in der nur noch ein feuchter Beutel baumelt.

»An der Bar. Aber Tee würde ich das nicht nennen.«

Sie atmet aus. »Vielleicht ist es besser so. Dann kann ich mich wenigstens nicht bekleckern.« Sie spricht leise. Wie zu sich selbst.

»Ich dachte, so etwas passiert nur mir«, entgegnet Micah.

Lotta Schwarz rückt ihre Brille zurecht. Der Blick, mit dem sie ihn mustert, ist abschätzend. Micah merkt, wie seine Hand wieder in Richtung der Haare fahren will, und streicht sich stattdessen über den Mund, was hoffentlich selbstsicher wirkt.

»Sie wollen also Cyb abschalten?«, erkundigt er sich, bemüht um einen beiläufigen Ton.

»Nein. Ich möchte, dass Sie ihn abschalten.«

 

Solveig Engel: „System Error“ Roman Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 384 Seiten Erhältlich als Paperback und E-Book • Preis des Paperbacks € 15,00 (im Shop)

[bookpreview] 978-3-453-32191-5

 

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