22. Oktober 2013 1 Likes

Der ultimative Early Adapter

„Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack" von William Gibson

Lesezeit: 4 min.

Von allen spleenigen Futuristen der Science Fiction erschien mir William Gibson immer als derjenige mit dem größten Hang zum Masochismus. Einerseits lässt er keine Gelegenheit aus zu betonen, wie grotesk es ist, wenn Science-Fiction-Autoren irgendetwas Rationales, also im weitesten Sinne Prospektives, über die Zukunft aussagen wollen; andererseits hat er in seiner langen Karriere als Schriftsteller und Kulturbetrachter nicht selten eine rationale, prospektive Aussage über die Zukunft getroffen, die sich – Applaus, bitte – als richtig erwiesen hat. Es ist wirklich ein Jammer: Da hat ein junger Autor Anfang der Achtzigerjahre in einem Anfall kreativer Überhitzung das Wort »Cyberspace« erfunden und damit, so wird gesagt, die Welt verändert, und nun klebt das Wort an ihm wie eine nasse Nudel (ja, Gibson erweckt in Interviews tatsächlich den Eindruck, er müsse sich dafür entschuldigen).

Die Befürchtung, diese ganz besondere Art von Bürde – »Visionär wider Willen« ist ein bisschen platt, aber mir fällt gerade nichts besseres ein – könnte sich wie ein roter Faden der Zerknirschung durch Gibsons Essays, Artikel und Vorträge aus den letzten Jahrzehnten ziehen, die in dem Band »Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack« versammelt sind, ist also nicht ganz unangebracht, zumal der enigmatische Titel genau das meinen will: Misstrauen Sie der Science Fiction, wenn sie die Zukunft vorhersagen möchte; misstrauen Sie dem Mann mit dem Glitzern in den Augen und den Eingeweiden in den Händen.

Aber schon nach wenigen Seiten verstehen wir: Diese Bürde ist William Gibsons einzigartiges Geschäftsmodell, die literarische Nische, die er ganz allein besetzt: der Drahtseilakt zwischen Zukunftsbeschwörung und Geschichtsschreibung, zwischen Science-Fiction-Bashing und Gegenwartsanalyse mit den »Werkzeugen der Science Fiction«. Ein Geschäftsmodell, das seinen Ursprung lange vor »Neuromancer« hat; es entstand, als der junge William im Keller eines leer stehenden Hauses sowohl die Fotos von Kampfflugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg als auch die Comic-Version von H. G. Wells’ »Die Zeitmaschine« entdeckte und beides in seinem Kopf so heftig gegeneinander schlug, dass die Funken nur so sprühten (Gibson erzählt diese Geschichte, die zu gut ist, um nicht wahr zu sein, in dem autobiografischen Text »Zeitmaschine Kuba«). Das war in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts.

Seither ist viel passiert, aber noch immer schreibt Gibson so, dass man in jedem Satz diesen Jungen spüren kann, der die Vergangenheit mit der Zukunft rückkoppelt und das dadurch entzündete Licht auf die Gegenwart wirft. Wenn er etwa die Psychogeografie von Japan oder Singapur erforscht, wenn er über kulturelle Artefakte vieler Jahrtausende räsoniert, wenn er sich dem digitalen Rausch hingibt, der unsere Zivilisation erfasst hat – immer kreist Gibson wie ein eleganter Jagdfalke um die Frage, was das alles eigentlich wirklich zu bedeuten hat, und ist doch viel zu fasziniert, um sich um eine Antwort im wissenschaftlichen oder auch nur feuilletonistischen Sinne zu scheren.

Nur so konnte er in einem Rolling Stone-Beitrag von 1989 über die »zukünftigen Realitäten des Netzes« spekulieren, ohne einen blassen Schimmer davon zu haben, was er mit »Netz« meinte (wie er nachträglich bekennt) – heute aber wissen wir, was er damit gemeint hat: Er hat uns gemeint. Nur so kann er auf zweieinhalb Seiten, die zum Besten gehören, was je über den 11. September 2001 geschrieben wurde, ein Ereignis deuten, dessen Schockwellen bis heute um den Planeten laufen – indem er es im Schaufenster eines Antiquitätenladens spiegelt. Nur so kann er eine Welt vorhersagen (er tut das wirklich), in der die Menschen »den Unterschied zwischen dem, was ein Computer ist, und dem, was keiner ist«, nicht mehr begreifen werden – weil er selbst schon den Computer, also das technische Werkstück, das Turing-Objekt, nie begriffen hat (wer begreift das schon?).

Und nur so kann er mit ironischer Lässigkeit die Begeisterung für die heutige »Cyber-Kultur« sezieren, die er selbst maßgeblich mitentfacht hat – weil ihn die Ballards, Dicks, Delanys und dazu die Kerouacs und Ginsbergs und Burroughs, also der ganze alternative Kanon des 20. Jahrhunderts, darüber informiert haben, dass wir Wesen sind, die sich, wenn überhaupt, erst nachträglich verstehen. William Gibsons Intellekt ist der »ultimative Early Adopter« (eine schöne Formulierung aus einem Text über junge Japaner), der aus einer technisch-kulturellen Neuerung bereits eine nostalgische Angelegenheit macht, noch bevor sie unsere Wohnzimmer erreicht. Der Cyberspace, liebe Kinder, ist eben auch nicht mehr das, was er einmal war …

Hat er damit tatsächlich die Welt verändert? Ich glaube schon. Aber auf eine andere Art, als es sich all die Aficionados in ihren Garagen, Forschungslabors und Vorstandsetagen erhofften und erhoffen. William Gibson hat die Welt verändert, völlig unbeabsichtigt und unvorbereitet, keineswegs jedoch widerwillig, und wie er das genau gemacht hat, erfahren Sie, wenn Sie dieses großartige Buch erwerben. Glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage – misstrauen Sie mir nicht.

William Gibson: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack • Aus dem Amerikanischen von Sara und Hannes Riffel · Tropen Verlag, Stuttgart 2013 · 252 Seiten · € 21,95

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