Was erlauben Zeit?
Philosophische Gedanken beim Betrachten eines denkwürdigen Fußballspiels – Eine Kolumne von Sascha Mamczak
Zum Beispiel Fußball. Nicht dass ich da Experte wäre oder mich überhaupt besonders dafür interessieren würde, aber wenn das Den-Rasen-Rauf-und-Runtergerenne alle vier Jahre wie ein globaler Gladiatorenkampf, wie ein Weltspektakel erster Güte inszeniert wird, dann kann ich mich dem auch nur schwer entziehen. Außerdem hat vor einigen Jahren ein Trainer namens Giovanni Trapattoni mit einem furiosen Rhetorikgewitter – „Was erlauben Strunz?“, „Flasche leer“, „Ich habe fertig“ – der deutschen Sprache eine unvergessene Ironiespritze verabreicht, die allein schon so manch fades Gekicke erträglich macht.
Fußball also. Fad war es ja gestern bei Deutschland gegen Brasilien nicht unbedingt, zumindest nicht in der ersten Hälfte, in der das eine Team kollektiv entschied, dass es keine Lust mehr hat, den Rasen rauf und runter zu rennen, und stattdessen dem anderen Team den Weg zum Tor wies – so etwas hatte ich bisher auch noch nicht gesehen. In der zweiten Hälfte allerdings, in der die deutsche Mannschaft auf dem Platz auch gut und gerne eine Polonaise hätte veranstalten können, ohne dass sich dadurch irgendetwas geändert hätte, ließ meine Aufmerksamkeit dann doch ein wenig nach und meine Gedanken drifteten ab … hin zur Frage: Was treibt eigentlich die Zeit?
Die Frage ist nicht wirklich neu, bereits im vierten Jahrhundert hat sie Augustinus ganz nervös gemacht. Aber wer weiß: Hätte man damals schon das Fußballspiel gekannt, wäre er womöglich zu ganz anderen Erkenntnissen gekommen. Denn irgendwann im Laufe des gestrigen Spiels wurde mir klar, dass die Zeit in unserer Wahrnehmung nicht nur unterschiedlich vergehen kann, sondern dass sie auch verdammt unfair ist. Das war in dem Moment, als der Kommentator über den deutschen Spieler Miroslav Klose die Bemerkung fallen ließ: „Guck mal hier – mit sechsunddreißig Jahren voller Einsatz.“ Später hieß es dann noch, Klose sei ja der „Historiker im Team“ oder lapidar „der Opi“. Und tatsächlich: Eine kurze Internetanfrage ergab, dass Miroslav Klose der einzige deutsche Spieler ist, der bei der letzten WM-Endrundenbegegnung zwischen Deutschland und Brasilien dabei war. Das war im Finale 2002. Brasilien gewann mit „genialer Ballkunst“, die Deutschen zeigten „Rumpelfußball“. Klose war damals ein Nachwuchstalent. Das ist genau zwölf Jahre her – und gilt inzwischen schon als graue Vorzeit, als ferne Epoche, von der gerade noch ein Spieler übrig geblieben ist: Opi Klose. Der Mann, ich wiederhole mich, ist sechsunddreißig Jahre alt.
Na schön, werden Sie sagen, der Sport hat eben seine eigenen Gesetze, und eines davon besagt, dass der menschliche Körper ab Ende zwanzig kräftig an Substanz abbaut. Aber dieses Phänomen der rasenden Musealisierung, der Epochenbildung im Eiltempo reicht weit über den Sport hinaus. Etwa die Populärkultur: Unzählige Fernsehshows machen sich über die musikalischen und modischen Ausschläge der 1970er, 1980er und 1990er lustig, als wäre das alles ein einziger Witz gewesen – aber ich habe diese Zeit mitgemacht, ich bin mit diesen Ausschlägen erwachsen geworden. Oder die Politik: Vor einigen Tagen ist Eduard Schewardnadse gestorben, und die Nachrichten zeigten Bilder aus den Zeiten der Blockkonfrontation, die gut und gerne auch in Schwarzweiß hätten sein können – ich kann mich aber noch sehr gut an die damalige Anspannung erinnern und an das befreiende Gefühl, dass zum ersten Mal in Moskau Leute an den Schalthebeln der Macht waren, die nicht wie ideologiegesteuerte Zombies agierten. Für mich ist das alles kaum einen Wimpernschlag her; für heute Zwanzigjährige ist es, ganz genau, graue Vorzeit.
Eine solche permanente Musealisierung hat zwangsweise Folgen für eine Kultur – insbesondere Folgen für die Art und Weise, wie sie die Zukunft betrachtet. Denn wenn sich der Horizont der Vergangenheit wie ein Korsett zusammenschnürt, wenn zehn Jahre schon ein historischer Abschnitt sind – wie weit blicken wir dann eigentlich in die Zukunft, um noch irgendetwas Sinnvolles zu erkennen? Auch nur zehn Jahre? Fünfzig Jahre jedenfalls wären für uns schon völlig unüberschaubar. Fünfzig Jahre … In fünfzig Jahren ist Miroslav Klose sechsundachtzig Jahre alt, und wenn es gut für ihn läuft und die High-Tech-Medizin weiter Fortschritte macht, erfreut er sich bester Gesundheit und erzählt seinen Enkeln und Urenkeln von einem Spiel, in dem Deutschland gegen Brasilien sieben zu eins gewann, und seine Enkel und Urenkel starren ihn völlig ungläubig an, und Klose erinnert sich seinerseits völlig ungläubig daran, dass er schon damals, 2014, als Relikt bezeichnet wurde. Nun aber schreiben wir das Jahr 2064 – und er ist immer noch da, immer noch Teil der menschlichen Gesellschaft. Seine Enkel und Urenkel aber danken ihm für die alten Geschichten, winken ihm zu und wenden sich ab, laufen weiter in die Zukunft. In eine Zukunft, in der auch sie schon bald (in Jahren? Monaten? Wochen?) als Relikte gelten werden, als Überbleibsel, als Historiker.
Nein, es ist nicht die Zeit, die unfair ist.
Unfair ist, wie wir mit ihr umgehen. Unfair ist, wie wir mit uns selbst umgehen.
Hier also ein anderes Zukunftsbild, eine Zukunft, wie ich sie mir wünschen würde: Im Jahre 2064 treffen sich die deutschen und brasilianischen Spieler, die an diesem denkwürdigen Halbfinale 2014 beteiligt waren, und spielen die Partie als Freundschaftsspiel noch einmal nach, und ihre Enkel und Urenkel und die ganze globale Gemeinschaft und die Kolonie auf dem Mond jubeln ihnen begeistert zu und erinnern sich an 2014, als ob es gestern gewesen wäre.
Denn genau das war es ja schließlich auch: gestern.
Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich.
Kommentare
Da spricht mir doch einer aus der Seele.
Mit dem Fußballalter ist es wie bei Hunden oder Pferden: es gibt einen Koeffizienten, sagen wir 1,75. Mit meinen 34 bin ich demnach, in Fußballjahren gerechnet, fast sechzig. Dafür bin ich aber noch ziemlich rüstig (finde ich).
Ach ja: https://www.youtube.com/watch?v=OCFj9lf8IQE
Mussen nicht vergessen Zickler!
Gestern nach der 113. Minute muss die Zeit grade wieder ein Loch gekriegt haben. Das Phänomen trat bisher schon auf, war aber noch nie so ausgeprägt zu spüren.
Den Faktor 1,75 muss man, glaube ich, raufsetzen.