15. September 2016 1 Likes

Deus in Dystopia

Ist Fortschritt wirklich nicht aufzuhalten? „Deus Ex: Mankind Divided“ im Test

Lesezeit: 9 min.

Kaum ein Titel hat seit seiner Ankündigung so hohe Erwartungen geschürt wie Deus Ex: Mankind Divided. Neben dem branchenüblichen Trailer-Gewitter versuchte eine bewusst provokant realitätsnahe Werbekampagne, die im Game narrativ durchexerzierte Thematik einer gespaltenen, letztlich rassistischen Weltgesellschaft, die zwischen biologisch natürlichen und technisch aufgemotzten Menschen unterscheidet, mit historischen Phänomenen wie dem Apartheitsregime in Südafrika, der aktuellen Flüchtlingskrise in Europa oder auch dem steigenden Angebot an humaner Selbstoptimierung in der Medizin in Verbindung zu bringen.

Nachdenklich, kritisch und eben mehr als nur eine beliebige Fiktion – so wurde das neue Deus Ex präsentiert. Da passte es ins Bild, dass diese Strategie auch kontroverse Diskussionen auslöste. Spätestens als aus dem in Amerika im Zuge der Proteste gegen willkürliche Polizeigewalt populär gewordenen Slogan „Black Lives matter“ ein „Aug Lives matter“ gemacht wurde, sahen sich die Macher der Kampagne dem Vorwurf der Trivialisierung realer Probleme ausgesetzt. Nun mag genau diese Form der Aufmerksamkeit eines der Ziele gewesen sein und es wäre nicht das erste Mal, das sich eine zwar eventuell nachvollziehbare, aber letztlich überzogene Entrüstung als Stürmchen im sprichwörtlichen Wasserglas entpuppt. Aber Deus Ex hatte nun auch auf dieser Ebene eine gewisse Bringschuld einzulösen, nicht im Nachhinein schlimmstenfalls als völlig banaler Hype ohne thematische Substanz abgekanzelt zu werden. Um diesen Punkt auch gleich abzuräumen: Genau das gelingt dem Titel mit einigen Abstrichen insgesamt äußerst gut, auch wenn sich die Anspielungen und Referenzen letztlich nicht zu einer wirklich brisanten Bestandsaufnahme der Weltgeschichte zusammenfügen. Doch selbst wenn Deus Ex den selbst erhobenen Anspruch vielleicht nicht komplett einhalten kann, bleibt zu klären, wie es mit außerdem den anderen Kernqualitäten zwischen Setting, Technik und vor allem Gameplay bestellt ist.

Mit Mankind Divided erschien Ende August nun nach gut 5 Jahren also endlich die Fortsetzung des von der Kritik zurecht gefeierten Human Revolution, das die legendäre Deus Ex-Reihe nach längerer Abstinenz schon damals mit aktuelleren Gameplay-Elementen zwischen Rollenspiel und Action-Adventure sowie einer angenehm erwachsenen Story-Line in die Gegenwart moderner Gaming-Unterhaltung hievte. Der Nachfolger schließt mit einem kleinen Zeitsprung an die Story des Vorgängers an und strickt in der düsteren Zukunft des Jahres 2029 die Handlung um den augmentierten Super-Agenten Adam Jensen und dessen Kampf gegen Cyber-Terrorismus und die Machenschaften eines Geheimbundes mit äußerst großem finanziellen wie medialen Einfluss weiter. In einer Welt, in der Augmentierungen längst zum Alltag gehören, sind die nationalen Gesellschaften allerdings zutiefst gespalten: Augmentierte Menschen werden verfolgt, in Ghettos verfrachtet und sogar getötet, da sich die „natürlichen“ Menschen von ihnen bedroht fühlen. Deus Ex thematisiert auf dieser Basis Fragen nach gesellschaftlicher Überwachung, medialer Meinungsmanipulation, den (moralischen) Grenzen und Chancen von Bio-Augmentierungen ebenso wie die Konsequenzen  von Angst und Ausgrenzung, die kaum noch rational argumentativ gelöst werden können.

In den einzelnen Missionen der Story-Kampagne verschlägt es Adam Jensen in die zerstörte Scheinwelt eines verlassenen Hotels in Dubai, eine Bergstation in der Schweiz, einen Tower mitten in London und vor allem nach Prag. Letzteres fungiert als eine (wenn auch überschaubar gehaltene) Open-World, in der Jensen abseits der Haupthandlung serientypisch verschiedene Nebenquest verfolgen und tiefer in die dicht inszenierte Atmosphäre der insgesamt sehr düster gehaltenen Dystopie eintauchen kann, in der vor allem terroristische Anschläge einer Befreiungsfront für Augmentierte zur Triebfeder eines zwar sehr doppelbödigen und wendungsreichen, allerdings das vorhandene Potenzial nie ganz ausschöpfenden Plots werden. In Kombination mit den sehr guten (deutschen/englischen) Sprechern, einem herrlich intensiven, dennoch nie aufdringlichen Elektro-Soundtracks sowie der insgesamt zwar nicht sonderlich detailreichen, aber insbesondere mit schicken Lichteffekten nicht geizenden Grafik, inszeniert Entwickler Eidos Montreal bis auf die sehr steifen Figurenanimationen eine stimmige Welt.

Mithilfe eines stark ausdifferenzierten wie übersichtlichen Fähigkeitensystems ist es möglich, aus dem ohnehin sehr gut ausgestatteten Agenten Jensen eine Kampf- oder Stealth-Maschine zu züchten, die ein sehr umfangreiches Spektrum verschiedener Herangehensweisen an die Missionen eröffnet. Sich lautlos und unsichtbar an Gegnern und Überwachungskameras vorbei zu schleichen und mit besonders ausgeprägten Hackerfähigkeiten Portale mit Information oder Codes völlig unbemerkt zu knacken, ist ebenso möglich wie ein offenes Gefecht mit Schusswaffen und einem großen Arsenal an Gadgets wie Elektrobetäubung, Sprungattacke oder einer Extrapanzerung. Abgeschlossene Aufgaben und Geheimnisse werden mit Erfahrungspunkten belohnt, die sich in die persönliche Weiterentwicklung der Figur investieren lassen, so dass Jensen im Idealfall eine optimale Balance an verschiedenen Mechaniken zur Verfügungen steht, um für jede Situation gleich mehrere Alternativen in petto zu haben.

Eine der großen Stärken von Mankind Divided besteht folgerichtig darin, Spieler während der je nach Spielweise gut 20 Stunden fesselnden Story-Kampagne nicht zu sehr an die Hand zu nehmen und sie selbst entscheiden zu lassen, wie sie die einzelnen Missionen angehen möchten. Die Reihenfolge der Nebenquests bleibt weitgehend optional und je nach Vorgehen kann es auch sein, dass manche Aufgaben oder Sequenzen gar nicht auftauchen. Speziell in den für Deus Ex ebenfalls typischen Dialogen an relevanten Handlungspunkten, in denen es mithilfe geschickter Gesprächsführung und Einschätzung des Gegenübers gilt, bestimmte Informationen oder gar konkrete Ziele manipulativ zu evozieren, bietet Mankind Divided einen großzügigen Spielraum an möglichen Ausgängen an. Hat man die entsprechende Gesprächsaugmentierung, lassen sich Figuren regelrecht ihres Verhaltens interpretieren, um an das gewünschte Gesprächsziel zu gelangen. Doch andererseits ist es ebenso möglich, beispielsweise statt eines vielleicht erreichbaren Kompromisses auch schlicht Gewalt anzuwenden oder zumindest damit zu drohen. Nicht jeder Figur ist schließlich mit einer sympathischen, belehrenden oder aggressiven Haltung gleichermaßen beizukommen. Handeln hat in Deus Ex immer entsprechende Konsequenzen. Allerdings kann das nicht über einen Mangel an langfristig storytechnisch relevanten Entscheidungen hinwegtäuschen. Denn wie sich spätestens während des Abspanns von Mankind Divided herausstellt, ist das RPG-Adventure Teil 2 einer offenbar in sich geschlossenen (Binnen-)Trilogie, die erst mit einigen bereits angekündigten DLCs sowie natürlich dem nächsten offiziellen Ableger weitererzählt wird.

Daraus lässt sich einer der größten Kritikpunkte des Games ableiten, nämlich das bereits angedeutete verschenkte Potenzial der Story und auch der Figurenzeichnung. Konzipiert als typische „Brücke“ innerhalb einer Trilogie, fehlt es an Festlegungen und echten Konsequenzen auf der Ebene der Makroerzählung. Statt nach fünf Jahren nun zumindest einige Schritte weiterzugehen, schiebt sich die Handlung letztlich kaum vorwärts. Jensens Status als Doppelagent, der auch seiner eigenen Anti-Terror-Einheit nicht vollständig vertraut und parallel für eine Untergrund-Bewegung spioniert, birgt in Verbindung mit der stimmigen Inszenierung der Augmentierungsproblematik eigentlich ein famoses Grundgerüst, doch fast alle schon aus dem Vorgänger bekannten wie neu eingeführten Charaktere bleiben bis auf wenige Ausnahmen profillos und viele vor allem in den Nebenmissionen zunächst spannend aufgebaute Aspekte finden keine befriedigende Abschlüsse. Die einzelnen Interessen und Hintergründe der verschiedenen Geheimorganisationen bleiben beispielsweise trotz vieler Spielstunden ebenso weiter im Unklaren wie letztlich auch einige mehrfach anzitierte Facetten um Adam Jensen selbst.

Dazu gesellt sich ein Fakt, der für Kenner der Reihe besonders unverständlich erscheinen muss: Wurde der Vorgänger Human Revolution noch seinerzeit zurecht bei allem Lob für seine äußerst uninspirierten Bosskämpfe kritisiert, die zu bloßen Ballerorgien im ansonsten so herausragend ausbalancierten Gameplay verkamen, zog man für den Nachfolger einen doch recht fragwürdigen Schluss, indem man bis auf einen finalen Endkampf auf Begegnungen mit „Endbossen“ gänzlich verzichtete. Dass der einzige Boss nun einerseits ein klischeebeladener und kaum erinnerungswürdiger Kontrahent aus der Mottenkiste der Game-Architektur ist und andererseits auch dieser Kampf die Probleme des Vorgängers fast nahtlos fortsetzt, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Der Abspann markiert eine der gewaltigsten Enttäuschungen von Jensens Abenteuer, da er schon aufgrund seiner läppischen Präsentation und Inhaltsleere praktisch alles schuldig bleibt, was man von einem Blockbuster-Titel wie Deus Ex nach dieser langen Entwicklungszeit erwarten darf. Selbst wenn der Abspann einige der zuvor gespielten Ereignisse nochmal „kritisch“ reflektiert, so wäre dennoch auch auf einer Metaebene wesentlich mehr möglich gewesen. Zweiter Teil und DLCs hin oder her.

Was Story und Figuren angeht, ist Mankind Divided daher leider ein oft zu luftiges Versprechen, das vielleicht in der Zukunft stärker eingehalten wird. Das gilt auch für den zusätzlich zum eigentlichen Game hinzugefügten Breach-Modus, der eine der Missionen der Hauptstory in Form einzelner VR-Levels adaptiert. Als Hacker ist man in diesem Modus in virtuellen Umgebungen unterwegs, um Codes zu knacken und kleine Parcours zu meisten. Zwar spielen sich die Missionen weder revolutionär innovativ noch verpasst man durch die ohnehin bewusst von Jensens Abenteuer abgekoppelten Rahmung wichtige Aspekte des Hauptspiels, doch für Highscore-Jäger und als kleiner Bonus macht Breach kurzfristig Laune. Die Fähigkeiten des Avatars im Breach-Modus können sogar wie in einem waschechten Free-to-Play-Titel zusätzlich mit Extras wie Booster Packs aufgefrischt werden, die es für bare Münze in einem Ingame-Shop zu erwerben gibt. Ein ähnliches Feature existiert ebenso im Hauptspiel, wobei der Herausforderungsgrad auf den niedrigeren von insgesamt vier Schwierigkeitsgraden fair genug angesetzt ist, um auch Einsteigern ohne extra monetär aufgemotzte Augmentierungen den Spielspaß nicht zu verhageln.

Trotz der ausgeführten Kritikpunkte handelt es sich beim neuen Deus Ex um einen herausragenden Titel, der als eines der bis dato besten RPG-Adventures der aktuellen Konsolengeneration brilliert. Denn auch wenn sich die Story letztlich oft zu schmalbrüstig darstellt, versteht es die famos ausbalancierte Game-Mechanik, dieses Manko in den Hintergrund zu drängen. Jedes der schick designten Areale von Mankind Divided eröffnet eine Vielzahl an Entdeckungen und Möglichkeiten, um die jeweiligen Aufgaben immer wieder anders angehen zu dürfen. Die Programmierer gaben sich dazu ganz offensichtlich viel Mühe, die Gameplay-Mechaniken des Vorgängers zu verfeinern und sinnvoll auszubauen. Serienveteranen fühlen sich aufgrund der Steuerung sofort heimisch und können sich auf beliebte Design-Standards wie zahlreiche Lüftungsschächte und brüchige Wände verlassen, die an fast jeder Stelle darauf warten, von Jensen schleichend oder krachend genutzt zu werden.

Gerade die Action mit Waffengewalt geht nun deutlich leichter von der Hand, da die Zieloptionen nicht ganz so störrisch ausfallen als es noch beim Vorgänger der Fall war. Abseits des Handlings motivieren Entwicklung und Ausprobieren der Skills in Kombination mit den Angriffsmöglichkeiten ungemein, da sich vor allem die Gegner-KI in den häufigsten Fällen bei Entdeckung sehr clever anstellt und die Angreifer durchaus variabel reagieren. Flankieren, geschickt aus der Deckung feuern und gezielt die Gegend nach Jensen absuchen sind nur einige der Taktiken, die Jensen von menschlichen wie mechanischen Gegnern zu erwarten hat. Selbst mit fortgeschrittenen Schutz- und Regenerationsaugmentierungen ist es daher nicht ratsam, sich offenem Feindesfeuer ohne Deckung und zuvor ausgetüftelter Taktik zu stellen, da trotz meist fair gesetzter Rücksetzpunkte Frust aufkommen kann, wenn man das neue Deus Ex zu häufig aufgrund der Ego-Perspektive als reinrassigen Ego-Shooter missversteht. Als Genre-Mix fordert und belohnt Mankind Divided auch diesmal letztlich am meisten ein ausgewogenes Vorgehen, ohne dass sich dies allerdings wie im Vorgänger zu radikal in der unterschiedlichen Ausschüttung der Erfahrungspunkte niederschlagen würde.

Alle Locations überzeugen mit ihrer stringenten Präsentation und markanten Kleinigkeiten wie den hörenswerten Dialogen oder den diktatorisch anmutenden Passkontrollen, wenn sich Jensen in der U-Bahn-Station nicht an die für Augmentierte vorgeschriebenen Kontrollwege hält. Die Designer von Eidos Montreal haben gerade bei Orten wie den Slums oder dem Rotlicht-Viertel von Prag ganze Arbeit geleistet, da es nur selten zuvor ähnlich hässliche Orte voller Schönheit in Games zu bestaunen gab, die dann auch noch mit der in Mankind Divided verhandelten Thematik so harmonisch korrespondieren und sie unterstreichen. Eine Welt am Abgrund, in der sich Augmentierte wie Natürliche ihre eigenen Nischen und Neben-Welten kreieren und in der es eben bei genauerer Betrachtung keine schlichte Dichotomie in gut oder böse geben kann. Genau diese Konsequenz illustrieren speziell die Nebenmissionen hervorragend, wenn etwa ein augmentierter Hypnotiseur in der Kanalisation sein eigenes Utopia abseits der Zivilisation zu errichten versucht oder ein wahnsinniger Killer Jagd auf Augmentierte macht, um ihre Seele zu retten.

Fazit

Es bleibt zu hoffen, dass sich Eidos Montreal und Square Enix klar machen, dass eine ähnlich lückenhafte und inkonsequente „Brückenstory“ wie in diesem Fall nicht für den Genre-Thron ausreicht. Denn nichts anderes sollte die Deus Ex-Reihe aufgrund ihrer vielen Vorzüge anstreben, wenn schon das Gameplay in all seiner ausgereiften Variabilität als auch das stimmig realisierte Setting sowie der thematische Umgang mit den Implikationen des dystopischen Ansatzes auf Topniveau zu überzeugen verstehen. Sollte die Story inklusive die Frequenz markanter (Endboss-)Kämpfe nicht zu den positiven Faktoren des Games aufschließen und damit letztlich den leider häufiger speziell im Blockbuster-Segment beklagenswerten Mangel an Mut zur konsequenten Story bestätigen, wird unnötig viel Potenzial verschenkt, um das es in diesem Fall besonders schade wäre. Die (Meta-)Thematik des Human-Tuning war schließlich selten auch nur annähernd so intelligent mit der DNA eines Games verwoben wie in Mankind Divided

Deus Ex: Mankind Divided ist für PS4, Xbox One und PC erhältlich. Einen Launch-Trailer gibt es unter dem Beitrag.

Deus Ex: Mankind Divided • Eidos Montreal/Square Enix • RPG-Action-Adventure

Abb. © Eidos Montreal/Square Enix

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