17. April 2023

„Lächle doch mal!“

Eine Leseprobe aus „Die Gabe“, Naomi Aldermans Roman zur TV-Serie

Lesezeit: 11 min.

Als 2017 der Roman Die Gabe (im Shop) der britischen Autorin Naomi Alderman veröffentlicht wurde, sorgte er international für Furore. Nicht nur, weil er beinahe zeitgleich zur aufkommenden MeToo-Bewegung erschien, sondern weil er einer der wichtigsten Beiträge zum Thema Frauenrechte ist, der in den letzten Jahren geschrieben wurde. Auch wenn sich seit dem Erscheinen einiges verändert hat, ist „Die Gabe“ immer noch erschreckend relevant und ein mutiges Plädoyer für den sensiblen Umgang mit den vermeintlich Schwächeren in unserer Gesellschaft. Jetzt liegen die ersten Folgen der TV-Serie mit Toni Collette in der Hauptrolle auf Amazon Prime vor, die von einem Produzentinnen-Team realisiert wurde. Worum geht’s?

Es sind scheinbar gewöhnliche Alltagsszenen: ein nigerianisches Mädchen am Pool. Die Tochter einer Londoner Gangsterfamilie. Eine US-amerikanische Politikerin. Doch sie alle verbindet ein Geheimnis: Von heute auf morgen haben Frauen weltweit „die Gabe“ – sie können mit ihren Händen starke elektrische Stromstöße aussenden, andere damit schwer verletzen und sogar töten. Ein Ereignis, das die Machtverhältnisse und das Zusammenleben aller Menschen unaufhaltsam, unwiederbringlich und auf schmerzvolle Weise verändern wird.

Der junge Reporter Tunde ist in Buch und Serie live dabei, wie die Gabe in den jungen Frauen erwacht – und ihm ist schnell klar, wie tiefgreifend diese Veränderung sein wird:

 

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Tunde

 

Tunde zieht seine Bahnen im Pool, wobei er mehr Wasser verspritzt, als er eigentlich müsste, damit Enuma sieht, wie er versucht, nicht zu zeigen, dass er bemerkt werden möchte. Sie blättert durch eine Ausgabe von Today’s Woman. Jedes Mal, wenn er aufsieht, zuckt ihr Blick zurück zu der Zeitschrift, und sie tut so, als wäre sie völlig von einem Artikel über Toke Makinwa und ihrer überraschenden Winterhochzeit gefesselt, die auf ihrem YouTube-Kanal ausgestrahlt worden war. Doch er weiß, dass Enuma ihn beobachtet. Er glaubt, dass sie weiß, dass er es weiß. Ein aufregendes Spiel.

Tunde ist einundzwanzig und endlich den Jahren entwachsen, in denen alles an ihm entweder zu lang oder zu kurz war, in die falsche Richtung zeigte und unbeholfen wirkte. Enuma ist vier Jahre jünger als er, aber viel mehr Frau, als er Mann ist, sittsam, aber nicht abweisend. Auch nicht zu schüchtern, wie ihr Gang verrät oder das Lächeln, das über ihr Gesicht zuckt, wenn sie einen Witz vor den anderen versteht. Ursprünglich kommt sie aus Ibadan und ist in Lagos zu Besuch; sie ist die Cousine eines Freundes eines Typen, den Tunde aus seinem Fotojournalismuskurs am College kennt. Sie sind eine ganze Gruppe, die den Sommer über miteinander herumhängt. Tunde war sie schon an ihrem ersten Tag in der Stadt aufgefallen; ihr in sich gekehrtes Lächeln, ihre Witze, die er zuerst gar nicht als solche erkannte. Der Schwung ihrer Hüften, und wie sich das T-Shirt an ihren Oberkörper schmiegt, o ja. Es war gar nicht so einfach, Zeit allein mit Enuma zu verbringen, und Tunde will die Gelegenheit nutzen.

Enuma hatte einmal gesagt, dass es ihr am Strand nicht gefiel: zu viel Sand, zu viel Wind. Swimmingpools mochte sie lieber. Tunde wartete einen, zwei, drei Tage, bis er einen Ausflug vorschlug – sie könnten alle hinunter zum Akodo Beach fahren, dort den Tag verbringen und picknicken. Enuma sagte sofort, sie wolle nicht mitkommen. Tunde gab vor, es nicht zu bemerken. Am Abend vor dem Ausflug klagte er über einen verdorbenen Magen. Es ist gefährlich, mit Bauchproblemen schwimmen zu gehen – das kalte Wasser könnte einem einen Schock versetzen. Bleib doch besser daheim, Tunde. Aber dann verpasse ich ja den Ausflug ans Meer. Tunde, du solltest nicht im Meer schwimmen. Enuma bleibt auch hier, sie kann einen Arzt rufen, falls du einen benötigst.

Eines der Mädchen sagte: »Aber ihr werdet ja dann ganz allein hier in diesem Haus sein.«

Tunde verfluchte sie im Stillen. »Meine Cousinen kommen später noch«, antwortete er rasch.

Keiner fragte nach, um welche Cousinen es sich handelte. Es war einer dieser heißen und faulen Sommer, in dem die Menschen ein und aus gingen in dem großen Haus ums Eck vom Ikoyi Club.

Enuma hatte keine Einwände, was Tunde erfreut zur Kenntnis nahm. Sie streichelte auch nicht den Rücken ihrer Freundin und bat sie, nicht mit zum Strand zu fahren. Sie sagte nichts, als er eine halbe Stunde nachdem das letzte Auto abgefahren war, aufstand, sich streckte und verkündete, dass er sich sehr viel besser fühlte. Sie beobachtete ihn, wie er von dem kurzen Sprungbrett in den Pool sprang, und wieder blitzte ihr ganz eigenes Lächeln auf.

Er macht eine astreine Drehung unter Wasser, seine Füße durchbrechen kaum die Oberfläche. Er fragt sich, ob sie ihm dabei zugesehen hat, doch sie ist weg. Er sieht sich um und erblickt ihre schlanken Beine und nackten Füße, die sich dem Pool nähern. Offensichtlich war sie in der Küche und hat sich etwas zu trinken geholt.

»Hallo«, sagt er neckend. »Hey, Dienstmädchen, bring mir doch mal die Cola.«

Sie dreht sich um und lächelt mit großen, leuchtenden Augen. Sie sieht sich suchend um und deutet dann mit dem Finger auf ihre Brust, als wolle sie sagen: Wer? Ich?

Gott, er ist so scharf auf sie. Er weiß allerdings nicht genau, was er tun soll. Vor ihr gab es nur zwei andere Mädchen, und keine von ihnen war seine offizielle Freundin. Auf dem College ziehen sie ihn auf, dass er mit seinem Studium verheiratet sei, weil er immer Single ist. Das gefällt ihm natürlich überhaupt nicht. Doch er wartet auf die Frau, die er wirklich haben will. Die das gewisse Etwas hat.

Er legt die Handflächen auf die feuchten Kacheln, stemmt sich aus dem Wasser und setzt sich in einer geschmeidigen Bewegung auf den Rand, die seine Muskeln am Oberkörper hervorragend zur Geltung kommen lässt. Er hat ein gutes Gefühl. Das hier wird etwas.

Sie sitzt auf einer Liege. Als er auf sie zukommt, schiebt sie einen Finger unter die Lasche, als wolle sie die Dose öffnen.

»O nein«, sagt er, immer noch lächelnd. »Du weißt doch, dass so etwas nichts für jemanden wie dich ist.«

Sie presst die Coladose an den Bauch, sie muss kalt an ihrer Haut sein. Unterwürfig antwortet sie: »Ich möchte doch nur mal probieren.« Dabei beißt sie sich auf die Unterlippe.

Das macht sie doch bestimmt mit Absicht. So muss es sein. Er ist aufgeregt. Es passiert tatsächlich.

Er ragt hoch über ihr auf. »Gib sie mir.«

Sie hält die Dose in der Hand und rollt sie über ihren Hals, als wolle sie sich abkühlen. Sie schüttelt den Kopf. Dann stürzt er sich auf sie.

Spielerisch ringen sie miteinander. Er achtet darauf, sanft mit ihr umzugehen, und ist sich sicher, dass es ihr genauso viel Spaß macht. Sie hält die Dose hoch über den Kopf, er schiebt ihren Arm ein wenig nach hinten, sodass sie nach Luft schnappt und den Rücken durchdrückt. Er will nach der Coladose greifen, und sie lacht tief und weich. Ein großartiges Lachen.

»Aha, du versuchst also, deinem Herrn und Meister sein Getränk vorzuenthalten«, sagt er. »Was bist du doch für ein ungezogenes Dienstmädchen.«

Wieder lacht sie und windet sich unter ihm. Ihre Brüste drängen gegen den V-Ausschnitt ihres Badeanzugs. »Du bekommst die Dose nie«, erwidert sie. »Ich werde sie mit meinem Leben verteidigen!«

Und er denkt: Klug und wunderschön, der Herr habe Erbarmen mit mir. Sie lacht, er lacht. Er drückt sie mit seinem Körpergewicht auf die Liege, spürt ihren warmen Körper unter sich.

»Glaubst du etwa, du kannst sie mir vorenthalten?« Er will wieder nach der Dose greifen, und Enuma windet sich unter ihm. Er packt ihr Handgelenk.

Sie legt ihre Hand auf seine.

Der Geruch nach Orangenblüten breitet sich aus. Wind kommt auf und weht einige Blütenblätter ins Wasser.

Tunde hat das Gefühl, als habe ihn etwas gestochen. Er senkt den Blick, um das Insekt zu verscheuchen, doch er sieht nur seine Hand in ihrer warmen Handfläche.

Das Gefühl verstärkt sich. Zuerst sticht es in seiner Hand und im Unterarm, dann kribbelt es, schließlich setzt der Schmerz ein. Er atmet zu schnell, bringt keinen Ton heraus. Er kann seinen linken Arm nicht bewegen. Sein Herzschlag dröhnt in seinen Ohren. Seine Brust fühlt sich an wie eingeschnürt.

Sie lacht immer noch, leise und tief, lehnt sich vor und zieht ihn näher zu sich. Sie sieht ihm in die Augen, ihre Iris ist von braunen und goldenen Lichtern durchzogen, ihre Unterlippe ist feucht. Er hat Angst und ist gleichzeitig aufgeregt. Er kann sie nicht aufhalten, egal was sie als Nächstes tun wird. Der Gedanke ist Furcht einflößend. Und gleichzeitig elektrisierend. Er ist so hart, dass es schmerzt, und er hat seine Erektion bisher nicht einmal bemerkt. Sein linker Arm ist völlig gefühllos.

Sie beugt sich noch weiter vor, haucht ihm ihren Kaugummiatem entgegen und küsst ihn sanft auf die Lippen. Dann windet sie sich unter ihm hervor, läuft zum Pool und taucht mit einem geschmeidigen Sprung ins Wasser.

Er wartet, dass das Gefühl in seinen Arm zurückkehrt. Sie zieht ruhig ihre Bahnen, ruft ihm weder etwas zu, noch bespritzt sie ihn mit Wasser. Er ist aufgeregt, schämt sich, will mit ihr reden, doch er hat Angst. Vielleicht hat er sich das alles auch nur eingebildet. Vielleicht beschimpft sie ihn, wenn er sie fragt, was geschehen ist.

Er geht zur Bude an der Straßenecke, um sich einen gefrorenen Orangensaft zu kaufen, damit er nicht mit ihr sprechen muss. Als die anderen vom Strand zurückkehren, stimmt er erleichtert ihren Plänen zu, am nächsten Tag einen entfernten Cousin zu besuchen. Er braucht dringend Ablenkung und möchte nicht allein sein. Er weiß nicht, was passiert ist, und er kann auch mit niemandem darüber reden. Bei der puren Vorstellung, wie er seine Freunde Charles oder Isaac um Rat bittet, schnürt sich seine Kehle zu. Wenn er erzählt, was ihm zugestoßen ist, würden sie ihn für verrückt halten oder schwach oder ihn der Lüge bezichtigen. Er erinnert sich daran, wie sie über ihn gelacht hat.

Er sucht in ihrem Gesicht nach Antworten auf seine Fragen. Was hat sie getan? Wollte sie es? Wollte sie ihm gezielt wehtun oder ihm Angst einjagen? Oder war es nur ein Unfall? War ihr überhaupt bewusst, dass sie etwas getan hatte? Oder war gar nicht sie schuld, sondern irgendeine lustbedingte Fehlfunktion seines Körpers? Die Sache nagt an ihm. Enuma lässt sich nichts anmerken. Am letzten Tag ihres Aufenthalts hält sie Händchen mit einem anderen Jungen.

Scham frisst sich wie Rost durch seinen Körper. Er kann nicht aufhören, an diesen Nachmittag zu denken. Nachts im Bett sieht er ihre Lippen vor sich, ihre Brüste, die sich gegen den dünnen Badeanzug pressen, ihre Nippel, seine vollkommene Hilflosigkeit, das Gefühl, dass sie ihn jederzeit überwältigen könnte. Die Vorstellung erregt ihn, und er berührt sich selbst. Er sagt sich, dass ihn die Erinnerung an ihren Körper erregt, ihr Geruch nach Hibiskusblüten, doch er weiß es nicht sicher. Alles hat sich mittlerweile in seinem Kopf vermischt: Lust und Macht, Verlangen und Angst.

Vielleicht liegt es daran, dass er diesen Nachmittag so oft aufs Neue durchlebt hat, vielleicht, weil er sich nach einem handfesten Beweis sehnt, einem Foto oder einem Video, einer Tonaufnahme. Vielleicht ist das der Grund, warum er im Supermarkt als Erstes nach seinem Handy greifen will. Oder es liegt an den Dingen, die man ihnen am College beizubringen versucht – über den Graswurzel-Journalismus, über den richtigen Riecher für Storys –, und die er tatsächlich verinnerlicht hat.

Ein paar Monate nach dem Zwischenfall mit Enuma ist er mit seinem Freund Isaac in einem Goodies-Supermarkt. Sie stehen gerade beim Obst und Gemüse, atmen den süßen Duft von reifen Guaven ein, davon angezogen wie die kleinen Fliegen, die sich auf der Oberfläche der überreifen, aufgeschnittenen Frucht niederlassen. Tunde und Isaac diskutieren über Mädchen und was diese mögen. Tunde versucht, seine Scham so tief in sich zu vergraben, dass sein Freund nicht ahnt, dass er ein Geheimnis hat. Da gerät ein Mädchen im Supermarkt in Streit mit einem Mann. Er ist etwa dreißig, sie vielleicht fünfzehn oder sechzehn.

Er hat sie angemacht; Tunde dachte zuerst, die beiden kennen sich. Er erkennt seinen Fehler erst, als sie sagt: »Lass mich in Ruhe.« Der Mann lächelt entspannt und macht noch einen Schritt auf sie zu. »Ein hübsches Mädchen wie du verdient doch ein Kompliment.«

Sie beugt sich vor, sieht zu Boden, atmet schwer. Ihre Finger krallen sich in den Rand einer Holztrage voller Mangos. Tundes Haut fängt zu kribbeln an, und er holt sein Handy aus der Tasche, schaltet die Videofunktion ein. Hier geschieht gleich das, was ihm passiert ist. Er will es besitzen, es mit nach Hause nehmen und immer wieder ansehen können. Seit dem Tag mit Enuma kann er an kaum etwas anderes denken, hofft, dass es ihm noch einmal begegnet.

Der Mann sagt: »Hey, schau mich an. Lächel doch mal.«

Das Mädchen schluckt angestrengt und sieht weiter nach unten.

Die Gerüche im Supermarkt intensivieren sich; Tunde kann mit einem Atemzug Äpfel identifizieren, Paprika, süße Orangen.

Isaac flüstert: »Ich glaube, sie verpasst ihm gleich eine mit einer Mango.«

Kannst du die Blitze steuern? Oder sagen sie zu dir: »Hier sind wir?«

Tunde filmt, als sie sich umdreht. Das Bild verschwimmt, als das Mädchen reagiert. Ansonsten bannt er das ganze Geschehen klar und deutlich auf Video. Sie legt ihre Hand auf den Arm des Mannes, während er lächelt und glaubt, dass sie ihre Wut nur spielt. Wenn man das Video an diesem Punkt anhält, sieht man, wie die elektrische Ladung überspringt. Eine Lichtenberg-Figur breitet sich aus, wirbelt und verzweigt sich wie ein Fluss über seine Haut, vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, während die kleinen Blutgefäße platzen.

Tunde filmt, wie der Mann zuckend und würgend zu Boden fällt. Dann fängt er das Mädchen ein, als es aus dem Supermarkt flüchtet. Lärm brandet im Hintergrund auf, als andere Kunden nach Hilfe rufen, sagen, das Mädchen hätte den Mann vergiftet. Ihn geschlagen, mit einer Giftspritze angegriffen. Oder nein, zwischen dem Obst war eine Schlange versteckt, eine Viper oder Puffotter. Jemand sagt: »Aje ni girl yen, sha! Das Mädchen war eine Hexe! So tötet eine Hexe einen Mann.«

Tunde richtet die Kameralinse wieder auf den Mann am Boden, der mit den Fersen gegen die Linoleumfliesen trommelt. Rosafarbener Schaum dringt aus seinem Mund, seine Augen sind verdreht. Er schlägt den Kopf hin und her. Tunde dachte, wenn er das Unheimliche in dem hellen Fenster seines Handys einfangen könnte, hätte er nicht länger Angst. Doch als er dem Mann zusieht, der roten Schleim aushustet und weint, kriecht die Furcht wie ein heißer Draht sein Rückgrat entlang. Er weiß jetzt, was er damals am Pool gespürt hat: dass Enuma ihn hätte töten können, wenn sie es gewollt hätte. Er hält die Kamera so lange auf den Mann gerichtet, bis die Sanitäter eintreffen.

Er stellt das Video online und begründet damit den Tag der Mädchen.

 

Lesen Sie weiter in: Naomi Alderman: Die Gabe • Der Roman zur SerieAus dem Englischen von Sabine Thiele • Wilhelm Heyne Verlag, München 2023 • 480 Seiten • Taschenbuch • € 12,00 • im Shop Leseprobe

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