19. Februar 2018 2 Likes

Tiefgaragenkoller

J. G. Ballard lässt grüßen: „Der Wachmann“ von Peter Terrin

Lesezeit: 3 min.

Harry und Michel sind zwei Wachmänner, die ihren Job äußerst ernst nehmen und deshalb sogar davon träumen, zur personenschützenden Elite ihrer Zunft befördert zu werden, welche die abgelegenen Anwesen der Reichen und Schönen sichert. Bis dahin patrouillieren die beiden bewaffneten Männer in Blau rund um die Uhr aufmerksam durch ihr dunkles, karges Hoheitsgebiet in der Stadt: Die riesige Tiefgarage eines entsprechend gewaltigen Komplexes voller Luxuswohnungen, der sich auf vierzig Stockwerken erstreckt. Die Garage ist der einzige Eingang zum Gebäude, den Aufzügen und den Appartements, deren betuchte, auf Anonymität und Komfort bedachte Bewohner sich einen herrlichen Rundumservice inklusive Dienstboten und Köchen leisten.

Im und unter dem Haus sind die Rollen also klar verteilt, die Grenzen klar gezogen. Was jedoch auf der anderen Seite des schweren Stahltors und jenseits der riesigen Tiefgarage wartet, in der Harry und Michel zwischen ihren Runden und Schichten einen kleinen Kabuff bewohnen, ist ganz und gar nicht klar. Denn noch ehe die namenlose Organisation hinter den Profi-Wachmännern anfängt, den Lastwagen mit den spärlichen Vorratslieferungen später zu schicken als üblich, fangen die Wächter aus Leidenschaft und Überzeugung an zu grübeln: Hat dort draußen ein Krieg stattgefunden? Kam eine biologische Waffe zum Einsatz? Gab es einen nuklearen Vernichtungsschlag samt verhängnisvollem Fallout? Kommen demnächst Plünderer oder Schlimmeres? Sie wissen es nicht. Sie wissen nur, dass sie die Tiefgarage bewachen müssen – bis ihre merkwürdige, selbstkonstruierte Scheinwelt aus Düsternis und Dienstbeflissenheit eines Tages komplett auf den Kopf gestellt wird, als u. a. die Bewohner das Haus wie in einem Exodus verlassen … 

Draußen womöglich Weltuntergang, drinnen definitiv Wahnsinn: Für seinen Roman „Der Wachmann“ erhielt der belgische Autor Peter Terrin 2010 den Literaturpreis der Europäischen Union. Jetzt ist das Buch, das bereits 2012 auf Englisch veröffentlicht wurde, in der Übersetzung von Rainer Kersten bei Liebeskind als Hardcover und als E-Book auf Deutsch erschienen. Schon nach den ersten paar Seiten fühlt man sich unweigerlich an den großen J. G. Ballard erinnert – „Der Block“ alias „High Rise“ ragt wie ein gutmütiger Genre-Großvater über Terrins Geschichte und Charakteren auf, wobei die beklemmende Atmosphäre, die klare Prosa sowie die kritische Perspektive auf den Menschen und die Gesellschaft ebenfalls an den legendären New-Wave-Schriftsteller Ballard gemahnen.

Terrin nutzt viele kurze, nicht zwingend chronologisch arrangierte Szenen, um durch die schrecklich begrenzte physische und psychische Welt von Ich-Erzähler Michel und seinem Kollegen Harry zu springen, die in ihrem wichtigtuerischen Verantwortungsgefühl, ihrer fehlgeleiteten Loyalität und ihrer eskalierenden Paranoia jeden Realitätssinn und jede Bodenhaftung verloren haben. Damit nimmt Terrin, der 1968 in Tielt geboren wurde, die oft seltsame Dynamik beruflicher Hierarchien und sozialer Strukturen aufs Korn, während sein satirischer Roman zwischendurch immer mal heftig mit dem endzeitlichen oder gar apokalyptischen Genre kokettiert, ohne sich je festzulegen. 

Das wäre an sich gar nicht weiter schlimm und viel mehr sogar sehr reizvoll. Allerdings merkt man beim Lesen früh, dass trotz der tollen Idee und der stilistischen Versiertheit des Belgiers selbst überschaubare 250 Seiten zu viel sind für diese Geschichte. Wie eine zu lange Nachtschicht, die im Dunkeln unweigerlich eine ganz besondere Atmosphäre hat, durch die man sich zwischendurch jedoch auch mal ganz schön quälen muss.

Peter Terrin: Der Wachmann • Liebeskind, München 2018 • 252 Seiten • Hardcover: 20,00 Euro

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