14. Mai 2018

Und plötzlich gibt’s dich zweimal

Eine neue Leseprobe aus Tal M. Kleins kultigem Science-Fiction-Debüt „Der Zwillingseffekt“

Lesezeit: 7 min.

Joel Byram, der nonchalante Held aus Tal M. Kleins Roman „Der Zwillingseffekt“ (im Shop), hat es nicht leicht im Leben: In einer Sekunde möchte er noch via Teleportation mit seiner Frau Sylvia in den Liebesurlaub reisen, in der nächsten wird er schon im Konferenzraum des mächtigen Weltkonzerns International Transport festgehalten. Wieso und warum und welche schockierenden Wahrheiten Joel dort erfährt, können Sie hier nachlesen.

 

She Blinded Me with Science

Im Konferenzraum herrschte ein unbehagliches Schweigen. Wie üblich war ich derjenige, der es brach.

»Sie meinen, weil mein Kom ausgefallen ist?«

»Nein. Die Deaktivierung eines Koms ist ein Verbrechen und kein Beweis dafür. Außerdem haben wir Ihr Kom nicht deaktiviert. Das waren Sie.«

»Das ist verrückt! Warum sollte ich mein eigenes Kom abschalten?«

»Wenn Sie mir gestatten, alles zu erklären, werden wir bestimmt bald einen gemeinsamen Nenner finden. Ich betrachte mich nicht nur als Kollege Ihrer Frau, sondern auch als Freund. Nun ist es meine Aufgabe, Ihnen beiden zu helfen.«

Ich nickte und setzte meine »ernste Zuhörermiene« auf. Ich hatte sie in meiner Kindheit entwickelt, in meiner Jugendzeit verfeinert und während meiner Ehe durch viel »Versuch und Irrtum« perfektioniert. Seitdem hatte sie sich immer wieder bewährt.

»Diese Gehinnomiten haben viele Bibelverfechter überzeugt, sich gegen die Teleportation zu vereinen. Sie behaupten, sie sei ein direkter Weg nach Gehinnom, in die Hölle. Es ist ihnen egal, welche Version von Gott den Beweis liefert, dass die Teleportation böse ist, und im Laufe der Jahre haben sie alle Bereiche abgedeckt – den Turm von Babel im Alten Testament, die Fünften Siegel im Neuen Testament und den Tag der Auferstehung im Koran.«

Pema schnaufte. »Reißen Sie sich zusammen, Bill.«

»Pema«, sagte er mit merklicher Zurückhaltung, »wir können später über unsere Differenzen diskutieren. Jetzt ist es unser Ziel, dieses konkrete Problem zu lösen.«

»Es ist nicht unser Ziel, Bill. Es ist Ihr Ziel.« Sie machte ein paar typische Kom-Gesten mit den Fingern und fügte hinzu: »Ich vermute, Sie haben das alles mit Corina abgeklärt?«

Taraval kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Hat sie Sie hierhergeschickt, Pema? Um meine Babysitterin zu spielen?«

Pema antwortete mit einer anderen Geste. Das Hologramm einer älteren Frau erschien in einem der leeren Sessel. Sie trug einen Laborkittel über einem eleganten Geschäftsanzug und eine Perlenkette. Ihr ganzes Wesen strahlte »Mütterlichkeit« aus. Ich kannte ihr Gesicht gut, da ihr Porträt in jedem TC der Welt hing.

»Ich bin durchaus in der Lage, das selbst zu tun, Bill«, sagte Corina Shafer und wandte sich dann an mich. »Hallo, Joel. Wir sind uns sogar schon einmal persönlich begegnet, wenn auch nur kurz. Erinnern Sie sich?«

Bedauerlicherweise ja. Sylvia war gerade befördert worden und wollte, dass ich auf einer Firmenparty einen guten Eindruck machte. Ich neige ein wenig zur Klaustrophobie, wenn ich von zu vielen Führungspersönlichkeiten umgeben bin, also wurde ich etwas zu schnell zu betrunken. Als Sylvia mich einem der mächtigsten Menschen der Welt vorstellte, war ich von ihrer Zugänglichkeit und Wärme überrascht. Ichfühlte mich wohl in ihrer Gegenwart. So wohl, dass ich das Gefühl hatte, offen sprechen zu können. Was, wie ich seit Langem hätte wissen müssen, niemals gut ausging.

»Ja, Miss Shafer. Es war im vergangenen Januar bei der IT-Gala. Ich, äh, machte Ihnen gegenüber einen Witz, wie es der reichste Konzern der Welt schafft, bei der Jahresabschlussfeier zu knausern. Sylvia hat mich daraufhin mächtig zusammengeschissen.«

Ihr Lächeln blieb unverändert. Sie war so freundlich, dass ich glaubte, ich würde hier vielleicht rauskommen, ohne Culture Club beschwören zu müssen. »Völlig richtig. Ihr Auftreten mag etwas unverblümt gewesen sein, aber im Wesentlichen hatten Sie recht. Es wäre erheblich kostspieliger gewesen, die Feier im Dezember zu veranstalten. Aber meine Empfehlung an unsere Eventmanager lautete nicht, Chits zu sparen, sondern einen Termin zu finden, an dem die größte Anzahl von Angestellten mit ihren Familien teilnehmen konnten.«

Ich errötete. Es fühlte sich seltsam an, sich zu schämen, weil sie mich streng genommen gegen meinen Willen festhielt, aber sie wirkte eher wie eine besorgte Tante als eine knallharte Konzernchefin.

»Hören Sie, Miss Shafer …«

»Bitte nennen Sie mich Corina, Joel.«

»Okay, Corina. Ich habe viel über diese Sache nachgedacht. Weswegen ich hier bin. Und ich glaube, das alles ist nur ein einziges großes Missverständnis.« Ich holte tief Luft, denn ich wollte ja cool und gefasst klingen. »Also, diese Joan Wie-auch-immer, die das TC in die Luft gejagt hat. Sie war in Greenwich vor mir in der Schlange. Also haben Ihre Leute die Sicherheitsaufzeichnungen durchgesehen, mich hierhergebracht und mein Kom deaktiviert, weil Sie glauben, ich würde irgendwie mit ihr und den Gehinnomiten unter einer Decke stecken. Ist es das?«

Corina bedachte mich mit einem wehmütigen Blick, soweit ein projiziertes Hologramm Wehmütigkeit vermitteln konnte. »Nein, Joel. Das ist es nicht.« Sie verschränkte die Finger. »Wie Sie wissen, kam es im Greenwich TC, aufgrund der Explosion auf der anderen Seite, zu einer Störung.« Ihre Augen richteten sich auf einen Punkt hinter meiner Schulter, als würde sie irgendwo einen Text ablesen. »Trotz des Schadens, der Zerstörung und der Toten, die diese Terroristen auf dem Gewissen haben, ist die Wahrheit, dass es viel schlimmer hätte ausgehen können, wenn sie ein stärker frequentiertes Ziel ausgewählt hätten. Doch es gibt eine Konsequenz, die viel drastischer ist als alles, was wir vorhersehen konnten. Es ist unvorstellbar, oder besser, es war unvorstellbar …« Ihre Unterlippe zitterte. »Joel, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.«

Schweigen.

Nur Schweigen, während diese drei Leute, zwei reale und eine projizierte Person, mich anstarrten. Das Summen der Beleuchtung oder der Naniten im Raum oder des Universums war ohrenbetäubend. Es fühlte sich an, als würde es ewig anhalten.

»Als das San José TC explodierte, war Ihr Zustand uneindeutig. Der Teleportationsvorgang hatte begonnen. Ihr Gepäck war bereits erfolgreich transportiert worden.« Eine Pause – eine, die real wirkte, nicht nur um der dramatischen Wirkung willen. »Joel, das Punch-Puffer-Protokoll arbeitet mit vielen Redundanzen. Doch diese Redundanzen sollen nur dann zum Zuge kommen, wenn …«

Sie brach ab und drehte sich um. Eine andere Person im Raum, in dem sie sich tatsächlich aufhielt, legte einen Arm um sie. Ich konnte nicht erkennen, wer es war, weil das Hologramm nur ihr eigenes Bild projizierte. Ich sah lediglich den Schatten von Armen und Händen an ihr.

Das ist mehr als unheimlich. Ich bin derjenige, der Probleme hat, aber irgendwie tut sie mir jetzt leid.

Taraval erhob sich von seinem Sessel, ging zu mir und legte mir unbeholfen eine verschwitzte Hand auf die Schulter. »Joel, das ist eine heikle Angelegenheit.«

Ach, du meine Güte! »Könnten Sie vielleicht langsam auf den verdammten Punkt kommen?«, sagte ich laut. »Was ist mit mir passiert? Bin ich hier im Fegefeuer oder so?«

»Eine sehr interessante Analogie, Joel«, sagte Taraval. »Wissen Sie, die Katholiken …«

Was zum Teufel hat dieser Kerl nur mit der Religion!

»Genug, Bill«, sagte Corina, die sich wieder herumgedreht und sich gefasst hatte. »Ich sollte es ihm sagen. Ich muss es tun.«

»Nun gut«, sagte Taraval steif und trat einen Schritt zurück.

Corina sah mich nun direkt an. »Ich werde jetzt Klartext mit Ihnen reden, Joel. Wegen der Explosionen im TC und im Kraftwerk gingen sämtliche Systeme offline. Wir gaben uns alle Mühe, Ihrer Spur zu folgen, aber Ihr Status war mitten im Prozedere. Keines unserer Systeme konnte bestätigen, ob Sie erfolgreich im Vestibül von San José angekommen waren oder nicht. Also wurde das Foyer in Greenwich nicht klariert, und der dortige Konduktor tat, was er tun sollte: Er meldete den Vorfall nach oben. Die Angelegenheit gelangte sehr schnell zu Bill. Ohne definitive Gewissheit über Ihre Ankunft und inmitten des ganzen Trubels hatte niemand in Betracht gezogen, dass Sie sich selbst aus dem Greenwich- Foyer befreien könnten. Es hätte Ihnen nicht möglich sein dürfen, den Raum zu verlassen, bis sich Ihr Status zu gescheitert verändert hätte. Aber irgendwie hat ein Fehler, der durch die Probleme in Costa Rica ausgelöst wurde, ein Reset des Raums veranlasst. Das war, als Sie heute das erste Mal mit Bill gesprochen haben. Er dachte, es sei in Ordnung, wenn er Sie aus dem Puffer von Greenwich entlässt und Sie hierherholt, damit Sie nach Costa Rica porten und mit Sylvia zusammen sein können.«

Pema knabberte nervös an ihrem linken Daumennagel.

»Bedauerlicherweise«, sagte Corina und seufzte, »wurde Ihr lokaler Status, nachdem die Systeme in San José wieder online gingen, als eingetroffen gemeldet. Sylvia glaubte, Sie wären erfolgreich teleportiert und dann bei der Explosion umgekommen. Sie geriet in Panik und tat das Undenkbare.«

Sie hielt inne und sah Pema und Taraval an, bevor sie ihren freundlichen Blick wieder auf mich richtete. »Sie holte Sie nach Costa Rica.«

 

Tal M. Klein: „Der Zwillingseffekt“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kempen ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 416 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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