5. Oktober 2019 4 Likes

Extreme Filmwatching

Rückblick: Fantasy Film Fest 2019 und HARD:LINE Festival

Lesezeit: 9 min.

Auweia, manchmal merkt man halt schon schwer, dass man keine 16 mehr ist: Aus irgendwelchen Gründen bin ich dieses Jahr auf die Idee gekommen, gleich zwei Filmfestivals, das Fantasy Film Fest in Stuttgart und – zusammen mit meiner bereits im Artikel zum rumänischen Festival TIFF vorgestellten Begleitung Andrea Sczuka – das HARD:Line Festival in Regensburg, hintereinander einzutüten. Das klingt jetzt sicherlich erstmal etwas wehleidig, was soll schon sein, Filmfestival halt, man hockt rum und glotzt Filme. Stimmt. Wenn das aber – wie in Stuttgart – unter zum Teil erheblichen Temperaturen geschieht, einige der im Saal anwesenden (überwiegend männlichen) Mitgucker das Wort „Dusche“ offenbar nur von Großmutters Erzählungen kennen und die Luft zudem von Wurstbrot- und anderen Gerüchen durchsetzt wird, dämmert einem allmählich, was das Wort Survival Training wirklich bedeutet. Am Rande: Auffällig war, dass das Publikum seit Jahrzehnten gefühlt das Gleiche ist, nur halt sichtbar älter (und meist korpulenter). Was ist los mit den schwäbischen Kids? Wirklich nur noch Marvel, Netflix und Youtube?


Das Kino an der Ecke – Regensburg im Festivalfieber. Foto: Andrea Sczuka

Als weitere Herausforderung stellte sich jedenfalls das Gebotene dar, zumindest zum Teil: Während das HARD:LINE-Programm einen sorgfältig kuratierten Eindruck hinterließ, beschlich einem beim Fantasy Film Fest mehr als einmal das Gefühl, dass Filme einfach deshalb ins Programm gepackt wurden, weil sie halt gerade greifbar waren.

Als großer Downer in Regensburg erwies sich wiederum, dass im Außenbereich der bereits in der Reportage zur fünften Ausgabe gepriesenen Kinokneipe bereits ab Mitternacht keine alkoholischen Getränke mehr erlaubt waren, man also in die kleine Kneipe rein musste und so in den Genuss einer neuen Dimension des Wortes „voll“ kam. Wer anderweitig das Gesehene mit einer ordentlichen Portion Gerstensaft verarbeiten wollte, hatte nicht allzu viele Möglichkeiten, in Regensburg werden offenbar generell schon früh die Bürgersteige hochgeklappt. Aber vielleicht ist das auch eine Nachwirkung meines Transsilvanien-Trips – wer mal in Cluj war, ist danach nicht mehr der Gleiche.

Aber letztendlich sind das alles nur Kinkerlitzchen – es ist natürlich nach wie vor eine tolle Sache, dass es Festivals gibt, die sich Randbereichen widmen und auf denen man nicht nur wunderbare Filme entdecken, sondern auch interessante Künstler treffen kann (schön, dass das Fantasy Film Fest sich wieder um mehr Gäste bemüht).

Die SF-relevanten Filme im Überblick (eine ausführliche Besprechung zu „Little Joe“ folgt bei Kinostart):

 


„Vivarium“

FANTASY-FILM-FEST

1. Vivarium (USA 2019)

Worum geht’s? Tom und Gemma sind ein Paar. Noch kein verheiratetes Paar, aber eins, das es ernst genug miteinander meint, um sich nach einem gemeinsamen Zuhause umzusehen. Dem perfekten Zuhause. Er ist Landschaftsarchitekt, sie Lehrerin, und ein beschauliches Leben in der verlässlichen Reihenhausidylle scheint inzwischen gar keine abwegige Idee mehr. Als ein junger Immobilienmakler ihnen die makellose Neubausiedlung Yonder vorstellt, fahren sie los, um sich das Viertel anzusehen. Hier gleicht ein Haus dem anderen, eine Straße der nächsten – die Vorstadt als steriles Labyrinth der Normalität. Ein Labyrinth, aus dem es für Tom und Gemma keinen Ausweg mehr gibt.

Lohnt sich? Jau! Die zweite Regie-Arbeit von Lorcan Finnegan („Without Name“, 2016) mutet sicherlich etwas wie eine ausgewalzte „Twilight Zone“-Episode an; man kann mit Recht mokieren, dass die Geschichte im Mittelteil auf der Stelle tritt beziehungsweise dass hier eher ein Konzept als ein echtes Drehbuch umgesetzt wurde. 70-80 Minuten wären definitiv angebrachter gewesen. Aber: Die geniale Optik, irgendwo zwischen René Magritte und Psychopathen-Wunschtraum ist ein echter Hingucker und die tollen Darsteller (Jesse Eisenberg und die sowieso unbezahlbare Imogen Pots) hauchen dem etwas zu unterkomplexen Inhalt Leben ein. Soll nächstes Jahr bei uns sogar einen Kinostart erhalten!

 


„All the Gods in the Sky“

2. All The Gods in The Sky (Frankreich 2018)

Worum geht’s? Es gibt diese Kindheitsmomente, die das gesamte Leben bestimmen. So schnell vorbei wie ein Wimpernschlag, tiefgreifend wie ein Orkan. Zwanzig Jahre nach dieser einen Mutprobe müssen die Geschwister Estelle und Simon immer noch mit ihren Folgen leben. Von Schuldgefühlen zerfressen, verrichtet Simon mechanisch sein Tagwerk als Fabrikarbeiter und betreut die bettlägerige Schwester im abgeschiedenen Elternhaus. Licht hinein bringt die junge Waise Zoé, die die Routine gehörig durcheinander wirbelt. Bald ist Simon überzeugt: Außerirdische werden kommen, um ihn und Estelle aus den körperlichen Gefängnissen zu befreien und sie emporzuheben in den Himmel! Lasst die Ärzte und Sozialarbeiter nur reden …

Lohnt sich? Hatte ich bereits in Transsilvanien gesehen, aber trotzdem an dieser Stelle einen erneuten Hinweis: Absolut sehenswert. Verleiher, traut euch – das Ding gehört auf die Leinwand! Auf! Los!

 


„Red Letter Day“

3. Red Letter Day (Kanada 2019)

Worum geht’s? Eine dubiose Aktivistengruppe überflutet eine beschauliche Mittelklassesiedlung mit Briefbomben der besonders perfiden Art. Jeder der roten Umschläge enthält die Aufforderung, eine bestimmte Person der Gemeinde zu töten, sowie folgende Information: „Diese Person hat denselben Brief erhalten – mit dir als Opfer.“ Die ersten blutigen Morde lassen nicht lange auf sich warten und mancher Zeitgenosse nutzt den Vorwand, um seinen Gewaltfantasien freien Lauf zu lassen und seine Tat ins Internet zu stellen – #RedLetterDay. Von der allgemeinen Paranoia und den Kommentaren der immer blutgierigeren Online-Community angestachelt, heißt es binnen weniger Stunden Nachbar gegen Nachbar

Lohnt sich? Wurde als „Festivalliebling“ anmoderiert, kann ich kaum glauben. Fade Mischung aus „The Purge“ und „Needful Things“. Viel zu konstruiert, viel zu geschwätzig (der Film braucht rund die Hälfte seine mit 76 Minuten ohnehin nicht gerade langen Laufzeit bis die Handlung endlich halbwegs in die Gänge kommt), einsames Highlight: Tod durch Brathähnchen – das sieht man wahrlich nicht alle Tage.

 


„The Furies“

4. The Furies (Australien 2019)

Worum geht’s? Erst sprayen zwei Freundinnen rebellisch „Fuck the Patriarchy“ an eine Häusermauer, wenig später kämpfen sie gemeinsam mit anderen Frauen in einem abgesperrten Waldgebiet gegen eine Handvoll Killer. Neben furchteinflößenden Masken trägt die mörderische Truppe vor allem schweres Geschütz bei sich, um ihren Opfern mit der Axt den Schädel zu spalten, die Haut vom Gesicht zu schlagen oder sie sonst wie an der Flucht zu hindern. Aber es wird nicht lange dauern, bis das Blatt sich wendet. Denn plötzlich werden aus den gejagten Frauen todeshungrige Furien, die ihren Peinigern eiskalt ihre Rache servieren.

Lohnt sich? Kann sich noch jemand an den Hamburger Regisseur Andreas Schnaas erinnern, der 1989 mit „Violent Shit“ für eine kleine Welle an billigsten Amateurvideos sorgte, in denen Horrorfans in Omas Gemüsegarten mit beim örtlichen Metzger abgestaubten Innereien rumsauten und sich dann auf diversen Happenings wie der „Splatterday Night Fever“ selbst feierten? Nein? Ok. Eure Kindheit war offenbar normal. Jedenfalls: Das hier ist die teurere Version davon. Männer mit Masken rennen durch die australische Pampa und killen Frauen und irgendwann sich auch gegenseitig. Sieht gut aus, hat ein ausgeprägtes apokalyptisches Flair (Australien halt) und wirklich gelungene, hammerharte Goreffekte, aber das war’s dann auch schon. In kleiner, am besten sturzbesoffener Runde vielleicht okay, aber was so ein Film auf einem großen Festival verloren hat?

 


„Bliss“

5. Bliss (USA 2019)

Worum geht’s? Malerin Dezzy steckt in der kreativen Krise. Die Leinwand im Atelier bleibt leer, kein Hauch von Inspiration. Als ihr Agent sie fallen lässt, feiert sie erst einmal die Nacht durch – auf der angesagten Designerdroge Bliss. Sex, Exzess, danach ein Kater und endlich die ersten Pinselstriche vom neuen Meisterwerk. Dezzy beschließt, noch etwas länger auf Bliss zu bleiben. Trotz einer kleinen Nebenwirkung, die bald erste Opfer fordert.

Lohnt sich? Big surprise. Regisseur Joe Begos („Almost Human“) gibt in Interviews gerne Gaspar Noé als Einfluss an, was man dem farbenprächtigen „Bliss“ mit seinen wilden Kamerafahrten auch anmerkt, während der Argentinier in der Wahl seiner Mittel aber meist mächtig breitbeinig daherkommt, schießt Begos seinen mit 80 Minuten angenehm schlank gehaltenen, irgendwo zwischen „Lost Boys“ und „Mandy“ pendelnden, von dezenten Lovecraft-Vibes umwabernden Alptraum aus Drogentrip, Vampirismus, Bodyhorror, Sex, Rock und literweise Blut direkt vom Sack auf die Leinwand. Roh und laut, aber ehrlich und mitten in dein Gesicht. Spitze.

 


„Reborn“

HARD:LINE FESTIVAL

1. Reborn (USA 2018)

Worum geht’s? Tess wurde totgeboren, aber in der Leichenhalle von einem Blitzschlag wiederbelebt. An ihrem 16. Geburtstag macht sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter – und ihre elektrokinetischen Kräfte helfen ihr dabei, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ihre Mutter Lena ist indessen auf der Suche nach dem Grab ihrer vermeintlich toten Tochter und stößt auf Ungereimtheiten. Ob die eigenartige Mordserie in ihrem Bekanntenkreis wohl etwas damit zu tun hat und die beiden je zueinander finden werden?

Lohnt sich? Würde den an sich gerne abfeiern, da Andrea und ich das Vergnügen hatten mit Regisseur Julian Richards zu sprechen und der Mann wirklich sehr lieb und nett ist und außerdem tolle Geschichten zu erzählen weiß, nur leider handelt es sich bei „Reborn“ um einen sehr mittelprächtigen, an Höhepunkten armen Mix aus „Frankenstein“, „Carrie“ und „Scanners“, der einzig und allein durch die eindrucksvolle Vorstellung von Newcomerin Kayleigh Gilbert so richtig punkten kann. Kann man gucken, ja, hat man aber ebenso schnell vergessen.

 


„Aniara“

2. Aniara (Schweden/Dänemark 2018)

Worum geht’s? Die Erde ist unbewohnbar geworden und die Menschheit besiedelt den Mars. Der Raumtransporter „Aniara“ soll tausende Passagiere in ihre neue Heimat bringen. Doch ein Unfall lässt das Schiff ohne Treibstoff vom Kurs abkommen und ziellos ins All treiben. Glaube, Philosophie und wilde Orgien sollen in den kommenden Monaten und Jahren Trost spenden. Die Animateurin MR versucht, in dieser Umgebung wieder einen Lebenssinn zu finden. Ein plötzlich auftauchendes Flugobjekt schürt die Hoffnung aller …

Lohnt sich? Basiert auf einem gleichnamigen schwedischen Science-Fiction-Gedicht von Harry Martinson, das mit Mühe in ein Drehbuch für einen 106-minütigen Film gegossen wurde. „Aniara“ sieht durch und durch super aus, es dürfte sich um einen der wohl schönsten Science-Fiction-Filme des Jahres handeln, aber er wabert auch mit existenzialistischer Tonnenschwere und gestelzten Dialogen fragmentarisch vor sich hin.

 


„Ghost Killers vs Bloody Mary“

3. Ghost Killers vs Bloody Mary (Brasilien 2018)

Worum geht’s? Die „Ghost Killers“, vier Youtuber, die sich paranormalen Phänomen gewidmet haben, machen sich auf, um den Umtrieben der bösesten aller bösen Höllenschurken entgegenzutreten. Blöd ist nur, dass sich keine Sau für die Pflaumen interessiert. Doch dann trudelt der erste echte Fall ein. Natürlich wissen die Knallchargen, dass es keine Geister gibt und präparieren was das Zeug hält. Doch die Rechnung haben sie ohne Bloody Mary gemacht. Denn die skrupellose Scheißhaus-Blondine verlässt den Abort, um den Helden ordentlich den Marsch zu blasen.

Lohnt sich? Interessant. Eigentlich ein typischer Jungsfilm (am besten im Doppel mit „The Furies“). Laut, platt, vulgär, blutig bis zum geht nicht mehr. Nur: Andrea mochte den, ich hätte am liebsten den Saal verlassen. Was isn da los?

 


„Itsy Bitsy“

4. Itsy Bitsy (USA 2018)

Worum geht’s? Die alleinerziehende Kara ist Pflegekraft und zieht mit ihren beiden Kindern aufs Land. Sie soll sich dort um den alten Ethnologen und Sammler Walter kümmern, der nicht mehr alleine zurechtkommt. Das mit Reliquien vollgestopfte Haus birgt einige dunkle Geheimnisse. Selbst Walter glaubt nicht recht an die mythologische Kreatur, die ein neu eingetroffenes Relikt in sich birgt. Für Kara und ihre Kinder gilt es, eine Familientragödie zu überwinden, um sich auch dieser Bedrohung stellen zu können.

Lohnt sich? Ja. Nach den ganzen C-Klamotten der letzten Jahre ein mal wieder ernsthafter Vertreter, der mit guten Darstellern, schicken Bilder und exzellenten Effekten aufwartet, die mit Bedacht eingesetzt werden. Lediglich am Ende etwas arg schnulzig, aber passt schon.

 


„The Pool“

5. The Pool (Thailand 2018)

Worum geht’s? Der Tagelöhner Day will sich nach einem anstrengenden Werbedreh im Schwimmbad noch im kühlen Wasser erholen. Er weiß jedoch nicht, dass ein Kollege schon den Stöpsel gezogen hat. Als er auf seiner Luftmatratze aufwacht, ist er schon fast bis auf den Grund gesunken. Herausklettern? Fehlanzeige. Zu allem Überdruss taucht auch noch ein entflohenes Krokodil auf, das den leeren Pool für die ideale Brutstätte hält. Der Revierkampf beginnt und Day muss kreativ werden, wenn er lebend herauskommen will.

Lohnt sich? JA – herrlich irre Spaß-Granate, die es schafft die Creature-Feature-Abteilung ordentlich durchzupusten. Möchte gar nicht viel dazu sagen, da das Ding von seiner herrlich minimalistischen Prämisse lebt: Ein Mann und ein Krokodil in einem leeren Pool. Die Frage lautet einzig und allein: Wie kommt der Mann wieder raus? Klar, über Sinn und Unsinn sollte man sich nicht allzu viel Gedanken machen, einfach mal einwickeln lassen und die schwarzhumorige Gaga-Logik des Ganzen genießen …

Großes Bild gaaaaanz oben: „Aniara“

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